Niels Wedemeyer

Walfreiheit


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einen solchen Diskussionsverlauf erwartet. „Wir sind auch durchaus bereit, Ihnen preisliche Zugeständnisse zu machen.“ Es entstand eine kurze Pause, in der ihn der Alte erwartungsvoll mit finsterer Miene anstarrte.

      „Mit einem Preisnachlass von 10 % könnte meine Organisation durchaus leben.“

      Phannipha sprang überraschend behände nach vorne und packte Petrenko am Kragen.

      „Du Drecksschwein meinst also allen Ernstes, dass Du mich über den Tisch ziehen kannst?“ brüllte der alte Mann cholerisch, woraufhin noch weitere Thais auf dem Sonnendeck erschienen. „Was wäre denn, wenn ich jetzt einfach Dein Geld nehme und Dich an die Haie verfüttere?“

      „Ich habe das Geld aber gar nicht dabei“, antwortete Petrenko bewusst ruhig und öffnete demonstrativ seine graue Umhängetasche. Einige von Phanniphas Männern zogen daraufhin ihre Pistolen und zielten auf den Russen, während dieser bedächtig langsam eine Badehose und zwei Handtücher hervorkramte.

      „Wolltest Du mich bescheißen, Du Ratte?“

      „Keineswegs, ich wollte nur verhindern, dass Sie einfach das Geld nehmen und mich an die Haie verfüttern“, sagte Petrenko mit einem arroganten Schmunzeln im fein geschnittenen Gesicht, „das Geld ist an einem sicheren Ort und wird Ihnen übergeben werden, sobald wir eine für beide Seiten zufriedenstellende Lösung gefunden haben.“ Er hatte sich erst kurz vor dem Treffen entschieden, dass Geld im Cottage zu lassen. Auf diese Weise würde er sein Leben bei einem möglichen Scheitern der Verhandlungen noch etwas verlängern, vielleicht sogar retten können.

      Phannipha tobte vor Wut und schrie einige schroffe Anweisungen auf thailändisch, worauf mehrere Männer vom Sonnendeck stürmten, während sich andere wiederum bedrohlich vor Petrenko aufbauten. Der alte Thai ließ seinen Gast dabei keinen Augenblick aus den Augen. Die Verhandlungen schienen nun endgültig gescheitert zu sein. Petrenko hatte einen solchen Ausgang bereits befürchtet, nachdem er die Anweisung erhalten hatte, doch es hatte ihm nicht zugestanden, diese in irgendeiner Weise in Frage zu stellen. Nun fragte er sich nicht ohne Sorge, was wohl als nächstes mit ihm geschehen würde.

      Doch bevor er darüber Klarheit erlangen konnte, war ein lauter Ruf aus der Kapitänskabine zu vernehmen, der alle, selbst Phannipha, dazu veranlasste, augenblicklich an die Reling zu laufen. Es erhob sich daraufhin eine allgemeine Panik, die zu Petrenkos Überraschung selbst Phannipha erfasste. Der Russe, dessen Anwesenheit jetzt gänzlich zur Nebensache geriet, erhob sich nun vorsichtig aus seinem Sessel und trat seinerseits an die Reling. Er hatte vermutet, dass sich ein Schiff der Küstenwache nähern würde, aber dem war nicht so. Dort, wo das Meer den Horizont berührte, war deutlich eine breite grauweiße Linie zu erkennen, die sich bei näherer Betrachtung als eine Wand aus brodelnder Gischt entpuppte. Tsunami, dachte Petrenko sofort. Die Welle war nicht besonders hoch, doch keiner, der sie sah, zweifelte daran, dass sie eine verheerende Kraft besaß. Phannipha schrie wieder einige Befehle, woraufhin seine Männer wild auseinanderstoben. Der Anker wurde gelichtet und die Yacht beigedreht. Der alte Mann versuchte offensichtlich das Boot Richtung Küste steuern zu lassen. Mittlerweile wurde auch Petrenko von der allgemeinen Panik angesteckt. Wenn die Welle uns mit der Kraft erreicht, die sie jetzt hat, wird sie uns alle davon spülen, dachte er voll Schrecken. Kurzentschlossen nahm er seine Umhängetasche und öffnete den Verschluss seines Tragegurts. Er schwang sich die Gurte quer über die Brust und befestigte die Enden hinter einer stabilen stählernen Stange neben der oberen Kajüte. Anschließend kauerte er sich hin und beobachtete mit schlimmen Vorahnungen das weitere Geschehen. Vor ihm rannten und brüllten alle durcheinander, während sich das Boot nur sehr langsam dem Strand näherte. Doch plötzlich wurde es wie von Geisterhand mehrere Meter emporgehoben und mit großer Geschwindigkeit vorwärts geschoben. Das Grollen der heranstürmenden Fluten war inzwischen so gewaltig, dass es alle Geräusche an Bord einfach verschluckte. Das Schreien der Männer ebenso wie das Heulen der Motoren, die aussichtslos gegen die Welle ankämpften. Alles verstummte im Augenblick der Katastrophe. In diesem Moment gab es nur noch das Brodeln des Wassers. Einige Männer wurden wie Spielzeugfiguren von Bord geschleudert, während sich andere verzweifelt an der Reling festklammerten. Doch in den nächsten Sekunden drehte die Welle das Schiff scheinbar mühelos auf die Seite und rollte es unter Wasser. Petrenko hatte gerade noch Zeit einen kräftigen Atemzug zu nehmen, dann war um ihn herum nur noch tosendes Wasser. In der graubraunen Brühe war nichts mehr zu erkennen. Er spürte nur, dass sich die Yacht mehrmals drehte und zeitweise wieder auftauchte, um dann erneut in den Fluten zu verschwinden. Allmählich wurde der Luftmangel zur Qual und der Gurt seiner Umhängetasche zerrte an ihm ohne Unterlass. Wie eine Fahne im Sturm wurde er hin und her geschleudert, bis ihm allmählich die Sinne schwanden. Er hatte sich inzwischen damit abgefunden, in diesen tosenden Fluten zu sterben, als er plötzlich vor sich im trüben Wasser das verschneite Sankt Petersburg sah, die Anitschkow-Brücke und die Freunde aus alten Tagen, die dort auf ihn warteten.

      „Dimitrij, hier sind wir“, riefen sie und winkten, „endlich bist Du zurück.“ Petrenko wollte zu ihnen laufen, doch er hatte keine Kontrolle mehr über seinen Körper. Er sah ihnen zu, wie sie allmählich wieder verschwanden.

      „Wir warten auf Dich“, riefen sie ihm zum Abschied zu.

      Trotz aller Todesängste durchströmte ihn ein seltsam tröstendes Gefühl des Glücks. Er war jetzt bereit, zu sterben.

      4. Oktober 1993, Sankt Petersburg, Russland

      Dimitrij stürmte aus der überfüllten U-Bahn und rannte hastig die Treppe zum Ausgang hinauf. Es schneite an diesem Herbsttag, was selbst für Sankt Petersburger Verhältnisse ungewöhnlich früh war. Der Schnee hatte den Newski-Prospekt, die prunkvolle Hauptstraße der Stadt, innerhalb weniger Minuten in eine grauweiße Rutschbahn verwandelt, auf der sich Autos wie Passanten nur langsam und mit äußerster Vorsicht fortbewegten. Nicht so Dimitrij. Er sprintete die breiten Gehwege entlang, als würde sein Leben davon abhängen, und wäre fast gestürzt, wenn er sich nicht mit viel Geschick im letzten Moment gefangen hätte. Inständig hoffte der Junge, dass die Freunde noch auf ihn warteten, denn wenn sie erst einmal im Gewimmel der Großstadt unterwegs wären, würde er sie nicht mehr finden können. Doch als er endlich die Anitschkow-Brücke erreichte, winkten sie ihm bereits aufgeregt zu.

      „Wo bleibstn Du?“ rief ihm Kolja von weitem entgegen.

      „Tut mir Leid, mein Alter hat mal wieder Ärger gemacht“, antwortete Dimitrij atemlos. Das stimmte zwar nicht, konnte aber von jedem in der Gruppe als triftiger Grund für eine Verspätung nachvollzogen werden. Dimitrij kannte die Lebensgeschichten der Kinder um Kolja nur zu gut und wusste, dass die meisten wegen eines gewalttätigen oder ständig betrunkenen Vaters auf der Straße gelandet waren. Doch Dimitrijs Geschichte war eine andere.

      „Was habt Ihr vor“, fragte er neugierig.

      „’N bisschen Schnorren und vielleicht was abstauben“, antwortete die dünne Kasha, die mit ihren kurzen Haaren und den groben Gesichtszügen eher wie ein Junge wirkte. Hübschere Mädchen in ihrem Alter wären sicherlich schon auf dem Straßenstrich gelandet, aber Kasha hatte sich zum Glück frühzeitig und mit reichlich natürlichem Talent gesegnet auf Taschendiebstähle spezialisiert und würde ihren zarten Körper nicht so schnell verkaufen müssen, um zu überleben.

      „Hört sich echt klasse an“, pflichtete ihr Dimitrij grinsend bei und machte sich mit ihr und den anderen auf den Weg.

      Er hatte die Gruppe vor etwa zwei Wochen kennengelernt. Sie waren ihm in den Gängen der Metro gefolgt und hatten ihn schließlich in einem menschenleeren Tunnel gestellt, um sein Geld zu entwenden. Dimitrij hatte ihnen gesagt, dass sie das Geld gerne haben könnten, wenn er dafür den Rest des Tages mit ihnen verbringen dürfte. Die Idee war ihm spontan gekommen. Die Wildheit dieser Kinder hatte bei dem schmächtigen Jungen aus gutem Hause die Abenteuerlust geweckt. Dimitrij hatte wenige Freunde und sein wohlgeordnetes Leben bestand aus einer strengen Privatschule und langweiligen Nachmittagen in einer exklusiven 10-Zimmer-Wohnung mit unverbautem Blick auf die Newa. Weder sein Vater, ein einflussreicher Politiker der Stadt, noch seine Mutter, die als Professorin an der Universität unterrichtete, kümmerten sich allzu sehr um den wilden Jungen und überließen ihn für gewöhnlich sich selbst. Hätten sie ihm mehr Zeit gewidmet, wäre ihnen vielleicht