Niels Wedemeyer

Walfreiheit


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sagte der Mann mit einem wohligen Südtiroler Dialekt. Rieke spürte wie die reinigenden Fluten ihrer Gefühle allmählich versiegten und sagte ohne Kraft:

      „Nein, vielen Dank, ich komme schon klar.“ Der Mann aber schaute sie nur lange und aufmerksam an und fuhr dann fort, als hätte er Rieke nicht richtig verstanden.

      „Ich persönlich glaube, dass es völlig normal ist, an Weihnachten traurig zu sein. Vielleicht liegt es daran, dass uns zu keinem Zeitpunkt im Jahr unsere geliebte Sonne so fern ist, vielleicht aber auch an dem Mysterium dieses Festes, das uns zwingt, uns zu besinnen, uns mit den Tiefen unserer Gedanken zu beschäftigen.“ Rieke starrte den Mann an, ohne etwas zu erwidern. Sie vermutete, dass der Fremde in seinem Weltenfrust lediglich einen beliebigen Gesprächspartner suchte und empfand seine Einmischung in ihre Gefühlswelt als unerträgliche Unverschämtheit.

      „Im 4. Jahrhundert gab es einmal einen Mönch namens Evagrius Ponticus“, erzählte der Mann unbeirrt weiter, „der allen Ernstes vorschlug, zum Advent eine Achtsamkeitsübung durchzuführen. Dazu sollte man sich in aller Stille hinsetzen, ohne jede Ablenkungen, und einfach auf die Gedanken warten, die bei einem anklopfen. Wie eine Art Türhüter sollte man nun jeden Gedanken, jedes Gefühl, das dort um Einlass bat, genau betrachten: Was willst du mir sagen? Welche Sehnsucht steckt in dir? Manche Gedanken, die dort auf uns warten, machen uns Angst oder erfüllen uns mit Trauer. Doch sie sind ohne Zweifel vorhanden, und sie immer auszusperren, kostet viel Kraft und ist letztlich aussichtslos. Wesentlich wichtiger wäre es, so Evagrius Ponticus, zu ergründen, warum sie uns so ängstigen oder traurig stimmen. Erst wenn wir unsere Gedanken vollends ergründet haben, werden wir mit uns selbst ins Reine kommen.“

      „Und? Sind sie etwa mit sich im Reinen?“, fragte Rieke nicht ohne einen zynischen Unterton.

      „Nein, aber ich gehe es jeden Tag aufs Neue an“, erwiderte der Fremde und grinste sie frech an, „Mein Name ist übrigens Thomaso.“ Rieke wurde nun noch ärgerlicher.

      „Entschuldigen Sie, aber das ist doch alles Quatsch. Uns widerfahren manchmal Dinge, die so verletzend, so ernüchternd, so erschreckend sind, dass sie eben diese unangenehmen Gefühle und Gedanken in uns auslösen, ohne das sie uns letztlich von irgendwelchem Nutzen sind. Wir trauern, ohne das wir es verhindern können und – schlimmer noch – ohne dass es den schweren Schicksalsschlag irgendwie abmildern könnte.“

      „Vielleicht nur, weil wir den Sinn des Schicksalsschlags nicht verstehen.“

      „Sie wollen mir doch nicht allen Ernstes erzählen, dass alles in unserem Leben auf irgendeine mystische Weise einen Sinn ergibt. Daran glauben doch allenfalls irgendwelche naiven Spinner, die ansonsten die Sinnlosigkeit ihres kümmerlichen Daseins nicht ertragen könnten.“ Thomaso blickte sie schmunzelnd an.

      „Nennen Sie mir ein Beispiel und ich werde versuchen, den Sinn zu deuten.“

      „Mein Mann hat mich soeben verlassen“, sagte sie trotzig, „nach fünfzehn Jahren inniger Liebe. Er ist einfach aufgestanden und aus dem Restaurant gegangen, nachdem er unsere Beziehung für beendet erklärt hatte. Wollen Sie mir jetzt sagen, dass das einen Sinn macht?“

      „Vielleicht hat er Sie damit nur freigegeben, für die Aufgaben, die noch vor Ihnen liegen?“ Ihr erschien die Idee derart absurd, dass ihre Wut sich noch steigerte.

      „Aber nehmen wir einmal an“, ereiferte sie sich weiter, „jemand stirbt, frühzeitig, lange vor seiner Zeit, durch einen grausamen dummen Zufall. Wo bitte schön ist denn da der Sinn?“ Thomasos Lächeln verschwand. Er starrte erneut sein sich drehendes Glas an und dachte nach.

      „Ich weiß, dass so etwas immer schwer zu ertragen ist. Und dennoch bin ich mir sicher, dass es durchaus seinen Sinn haben könnte. Wenn wir uns zum Beispiel vorstellen, dass jeder Mensch mit einer Aufgabe auf diese Welt kommt, dann ist es vielleicht auch möglich, dass nicht jede Aufgabe für ihre Erfüllung ein langes Leben bedarf. Ein Säugling, der den frühen Kindstod stirbt, hatte vielleicht nur die Aufgabe, seinen Eltern einen entscheidenden Hinweis für ihr weiteres Leben zu geben. Natürlich macht diese Vorstellung das erlittene Schicksal auf gewisse Weise erträglicher, aber es bringt uns auch dazu, unser Leben mehr zu hinterfragen. Warum passiert uns etwas bestimmtes, was niemandem sonst passieren würde? Wir alle haben Schicksalsschläge erlebt und werden noch weitere erleben. Mit keinen Schicksalsschlägen zu rechnen wäre naiv. Uns bringt nur die Beschäftigung mit ihnen weiter, nicht ihre Verdrängung.“ Allmählich kehrte das Lächeln in Thomasos stoppeliges Gesicht zurück. Rieke versuchte, ihren Zorn zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht.

      „Vielen Dank für den Drink“, sagte sie bissig. Und ohne eine weitere Reaktion von Thomaso abzuwarten, ging sie zurück in den Trubel der Nacht.

      Ihr Verstand glich einem aufgescheuchten Bienenschwarm. Gedankenfetzen und Gefühlsregungen schwirrten wild umher und ließen sich nun nicht mehr einfangen. Rieke konnte sich nicht daran erinnern, in letzter Zeit einmal so wütend gewesen zu sein. Da mischte sich in ihre Trauer um das Ende ihrer Ehe ungefragt ein wildfremder Mann ein und meinte noch entrückte Vorträge über die Unabwendbarkeit des Schicksals halten zu müssen. Sie wusste nicht recht warum, aber sie empfand die Worte des Fremden als eine grausame ungerechte Anklage. Schlimmer noch, hatten diese Worte einen Keim gesetzt, der nun unkontrolliert in ihr zu wuchern begann. Wenn alles im Leben einem bestimmten Ziel folgen sollte, so fragte sie sich unweigerlich, warum war es ihr dann auferlegt worden, nacheinander drei unschuldige Leben zu zerstören. Und wieder tauchten die Worte des Fremden auf. Sie hörte, wie er von Gedanken sprach, die auf uns warten, uns mit Angst erfüllen. Rieke wusste genau, welche Gedanken er damit gemeint hatte, denn eingesperrt in einem tiefen finsteren Verließ ihrer Erinnerung hatte sie lange schon eine große Schuld vor sich und der Welt verborgen. Es war nicht etwa ihre unauslöschbare Schuld, Klaas in seiner schwersten Krise im Stich gelassen zu haben, und auch nicht im entscheidenden Moment nicht für Anneke dagewesen zu sein. Nein, obwohl beides ihr Leben lang an ihr nagen würde und sie nicht mehr schlafen ließ, gab es da noch eine andere Schuld in ihr, die um ein Vielfaches schwerwiegender war als alles andere. Und jetzt, ohne dass sie es verhindern konnte, zog ein dichter Nebel aus den Tiefen empor, und die Angst ließ sie frösteln. Schließlich sah sie eine dunkle Silhouette im Nebel ihrer Gedanken auftauchen. Sie brauchte gar nicht näher hinzuschauen, um zu erkennen, wer da jetzt aus den Schwaden heraustrat, denn sie wusste es sofort. Es war Beeke.

      22. Mai 1978, Kiel, Deutschland

      Sie meinte vor Glück fast zu zerspringen, als endlich ihr Name durch den prächtig geschmückten Festsaal hallte. Beifall brandete auf und das zarte Mädchen in ihrer weißen gerüschten Bluse und dem dunklen Rock duckte sich unweigerlich, als ob sie sich vor dem bevorstehenden Lob fürchtete. Doch in dem schamroten Gesicht stand ein breites Lächeln, das ihre unverholene Freude verriet. Die Urkunde wurde förmlich übergeben und energisch die Hand geschüttelt, wofür sie sich mit einem zaghaften Knicks bedankte und anschließend mit vorsichtigen Schritten wieder zur Reihe der diesjährigen Preisträger zurückkehrte. Der Applaus hallte noch in ihrem Kopf nach, als sich bereits ein weiteres Mädchen von ihrem Platz erhob, um ebenfalls die Urkunde in Empfang zu nehmen. Rieke besah sich den dicken Karton in ihren Händen zum ersten Mal genauer. „Rieke Ehling, 1. Preis beim Bundeswettbewerb ‚Jugend musiziert’. Sie hatte sich nach langem Ringen für die Ballade in g-Moll von Frederic Chopin und die Tarantelle von Franz Listz entschieden, zwei der schwierigsten Stücke für Soloklavier, die sie kannte. Gerade bei der Ballade reichte es nicht aus, nur die technisch äußerst anspruchsvollen Teile wie die chromatische Oktavpassage am Ende fehlerfrei zu beherrschen, sondern auch das ungewöhnliche Tempo nicht zu vernachlässigen, ohne welches das Stück gänzlich seinen Zauber verlieren würde. Rieke aber hatte all dies bravourös gemeistert. Einer der Juroren war sogar nach dem Vorspiel zu ihr gekommen und hatte ihr gesagt, das Stück selten mit so viel Hingabe gehört zu haben. Auch sagte er ihr noch eine große Karriere voraus, schließlich sei sie ja erst Vierzehn Jahre alt und noch längst nicht am Höhepunkt ihrer Spielkunst angelangt. Zum vollkommenen Glück fehlte dem Mädchen an diesem Nachmittag nur noch eine Kleinigkeit.

      Rieke blickte sich angestrengt im Publikum um, während die Veranstaltung weiter voranschritt, und suchte nach ihren Eltern, die zur Preisüberreichung nachkommen wollten. Ihr