Dominik Trottier

Ultreya auf dem Camino


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»Ich bin dann mal weg« veröffentlicht. Kurz nach der Jahrtausendwende war auf dem Jakobsweg natürlich vieles anders als heute, dennoch konnte ich bereits einige Parallelen zu seinen darin beschriebenen Erfahrungen feststellen.

       Hinter Burguete bekommen wir die ersten Tiere seit Antritt der Reise zu sehen, darunter überwiegend Pferde. Einige der Vierbeiner kommen an den Zaun, da sie offensichtlich sehr an uns Pilgern interessiert sind. Vermutlich wollen sie aber nur, dass wir ihnen etwas zu fressen geben. Angeregt von den Pferden, fängt Mark plötzlich an etwas zu singen. Ich erkenne es auf Anhieb, da es sich vor geraumer Zeit wie ein Lauffeuer auf Facebook verbreitet hat und mehrere Million Mal auf YouTube aufgerufen worden ist. Das etwa einminütige Lied besteht aus lediglich einer Strophe und einem Refrain. Besonders Kreative haben das besagte Musikstück in Dauerschleife aneinandergereiht und auf der Videoplattform hochgeladen. Obwohl es total bescheuert und nach einer Weile auch ziemlich nervtötend ist, scheint es weltweit immer noch sehr beliebt zu sein.

       Mark singt das Lied rauf und runter und hört gar nicht mehr damit auf. Ich bezweifle stark, dass er sich die volle Länge des Videos nur einmal angetan hat. Yoo-kyung kennt den Text zwar nicht, amüsiert sich aber an seinem Gesang köstlich. Also lassen wir ihn weiter trällern.

       Dieser Kolumbianer ist schon ein komischer Kauz. Zuhause wäre ich ihm nie begegnet, so viel ist sicher. Alleine der Altersunterschied von knapp drei Jahren oder die verschiedenen Musikgeschmäcker, in jedem Fall aber seine Vorlieben für Piercings und Tattoos hätten uns im normalen Alltag vermutlich nie einander kennen lernen lassen. Hier auf dem Jakobsweg spielt all das keine Rolle. Der Typ ist einfach eine coole Socke, man kann ihn nur mögen.

       Auf den folgenden Kilometern lernen wir Joana aus dem Baskenland kennen. Für den Fall, dass es anfängt zu regnen, ist sie bereits mit einem großen, blauen Regenponcho verkleidet. Die Baskin hat ihren Jakobsweg heute Morgen in Roncesvalles begonnen und wird lediglich bis nach Logroño laufen. Das sind in etwa einhundertvierzig Kilometer, die sie in sieben Etappen zurücklegen möchte. Da sie von ihrer Arbeit nur eine Woche Urlaub bekommen hat, möchte Joana später in Abschnitten stets dort weiterlaufen, wo sie zuletzt aufgehört hat. Ihr Heimvorteil macht sie natürlich recht flexibel in der Planung, allerdings wird ihre Erfahrung auf dem Jakobsweg damit zweifelsohne eine ganz andere sein, als die der Pilger, die den camino an einem Stück laufen. Joana ist aber bei Weitem nicht die einzige Teilzeitpilgerin. Tatsächlich habe ich bereits Einige kennengelernt, die den Weg abschnittsweise bewältigen. Zwischendurch treten sie die Heimreise an und kehren später wieder zurück. In den meisten Fällen fehlt ihnen wie Joana die Zeit oder aber die körperliche Energie für längere Distanzen.

       Irgendwann komme ich mit Joana auf meinen Schüleraustausch im Baskenland zu sprechen. Sofort nimmt sie das zum Anlass, meine Sprachkenntnisse auf die Probe zu stellen. Zwar ist mein Spanisch ein wenig eingerostet, aber ich genieße die anschließende Unterhaltung mit ihr, unter anderem über das Guggenheim Museum in Bilbao. Längst vergessen geglaubte Vokabeln fliegen mir aus dem Gedächtnis zu und ich erlange lento pero seguro, langsam aber sicher, mein einstiges Sprachgefühl zurück. »Hablas muy bien castellano, Dominique!« Scheint als hätte ich ihren Test bestanden.

       Am Rand des Weges stoßen wir auf einen weiteren Pilger.

       »Hi. My name is Lucas. I’m from Chicago, Illinois.«, stellt er sich uns kurz vor und erzählt dann, dass er gerade auf seine Weggefährten warte und sich schon Sorgen um sie mache. Hoffnungsvoll fragt er, ob wir sie vielleicht gesehen haben. Aber leider können wir ihm nicht helfen, da wir auf den letzten Kilometern keinen Pilgern begegnet sind, die auf seine Beschreibung zutreffen.

       »Why don’t you just walk with us to the next town and wait for your friends there?«, fragt ihn Mark.

       »Yeah, I guess that’s a good idea… «, stimmt ihm Lucas nachdenklich zu und schaut noch einmal in die Richtung, aus der wir gerade gekommen sind. Doch dann schließt er sich uns an und wir laufen nun zu fünft weiter. Während sich Mark und Yoo-kyung mit dem US-Amerikaner unterhalten, tausche ich mich mit Joana auf Spanisch weiter über das Baskenland aus.

       Im Dorfzentrum von Viscarret machen wir schließlich an einer Bar Rast. Aufgrund von Mangel an jeglicher Konkurrenz im Umkreis, ist diese bereits äußerst gut besucht. Vor dem Eingang haben einige Pilger es sich auf Bänken gemütlich gemacht und genießen ihre Mittagspause. Wir legen unsere Rucksäcke ab und betreten die Bar. Drinnen läuft laute Partymusik, die mich unweigerlich an meine Skifahreranalogie von heute Morgen erinnert. Obwohl für heute gerade mal Halbzeit ist, feiern hier Einige schon eine kleine Après-Etappen-Party. Damit uns der Barmann überhaupt versteht, müssen wir unsere Bestellung bei ihm schreiend aufgeben. Anschließend gehen wir mit unseren Getränken und bocadillos schnell wieder nach draußen, wo wir uns zu den zwei besten Freundinnen aus Düsseldorf gesellen.

       »Jetzt sind wir uns schon einige Male begegnet und haben uns immer noch nicht einander vorgestellt«, bemerkt die dunkelhaarige der beiden und zeigt dann auf ihre blonde Begleitung im Partneroutfit: »Also, das ist meine Schwester Julia und ich bin die Merle.« Geschwister, natürlich. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.

       Just in diesem Moment kommen Claire und Luis um die Ecke gebogen. Wir haben die beiden seit gestern Abend nach ihrer Ankunft in Roncesvalles nicht mehr gesehen. Sie holen sich ebenfalls was zu essen und schließen sich dann unserem Stehkreis an.

       Nach der Mittagspause geht es mit neuem Elan weiter. Merle, Julia, Luis, Claire, Yoo-kyung, Mark und ich machen uns wieder auf den Weg. Joana und Lucas bleiben noch etwas länger in der Bar und unterhalten sich angeregt mit den vielen Pilgerkollegen. Da wir heute aber ohnehin alle das gleiche Etappenziel haben, werden wir uns spätestens in Zubiri wieder sehen.

       Zu siebt brechen wir in dieser abermals multikulturellen Konstellation auf und lassen Viscarret hinter uns. Bestens gelaunt führen wir eine Unterhaltung, die bei Außenstehenden sicherlich den Eindruck erwecken könnte, dass wir uns bereits seit einer halben Ewigkeit kennen. Wir erzählen uns munter diverse Anekdoten aus unserem Leben, nehmen kein Blatt vor den Mund und lachen viel.

       Obwohl wir uns erst vor zwei Tagen kennengelernt haben, fühlt sich diese Pilgergemeinschaft schon jetzt vertraut und familiär an. Ja, sogar fast schon als hätten wir gemeinsam den Kindergarten besucht, wären zusammen zur Schule gegangen und würden schon sehr lange sehr gute Freunde sein. Es ist schwer zu beschreiben, warum wir das bereits am dritten Tag unserer Pilgerreise so empfinden. Aber ich glaube, dass wir einfach sehr erleichtert sind. Wir waren vielleicht alle etwas angespannt und wussten nicht so recht was uns auf dem Jakobsweg erwartet. Doch jetzt sind wir angekommen, fühlen uns wohl und genießen den Kontakt zu uns gleichgesinnten Menschen aus aller Welt.

       Aber wie wahrscheinlich ist das? Es muss schon Einiges zusammenkommen, dass wir am selben Tag unsere Reise auf dem Jakobsweg beginnen, dieselbe Herberge zugewiesen bekommen, dort sogar im selben Schlafsaal landen und uns dann noch derart gut miteinander verstehen. Wir schätzen uns daher sehr glücklich und in unserer Euphorie fällt sogar folgender Satz: »If that’s not destiny, I don’t know what is.«

       Ich bin froh, dass der Jakobsweg erst begonnen hat und der Großteil erst noch vor mir liegt. Doch es gibt eine Kleinigkeit, die mich das Pilgern leider weniger genießen lässt. Die Schmerzen an meinen Füßen nehmen stetig zu. Ich habe sie mir heute noch nicht angesehen, aber ich erwarte nichts Gutes. Immer mehr bereue ich es, die Schuhe vorab nicht ausreichend eingelaufen zu haben. Seit heute Vormittag plagt mich der Gedanke, es aufgrund meiner Füße im schlimmsten Fall gar nicht nach Santiago de Compostela schaffen zu können. Es wäre einfach unglaublich enttäuschend für mich, schon vorzeitig die Heimreise antreten zu müssen. Ich denke, ich sollte jetzt zumindest versuchen zuversichtlich zu bleiben. Positiv denken. Ultreya!

       Letzteres bekommen wir heute gelegentlich in einigen Dörfern von überwiegend etwas älteren Bewohnern zugerufen. Weil wir es zwar schon eimal gehört haben, aber nicht die genaue Bedeutung kennen, müssen wir im Internet danach suchen.

       Wikipedia behauptet, das Ultreya ein altes Grußwort aus dem Spanischen sei, welches sich die Pilger früher auf dem Jakobsweg zugerufen haben, um sich gegenseitig aufzumuntern und Mut zu machen. Es bedeute so viel wie »Vorwärts!« oder »Weiter!«. Man könnte also sagen, dass es in gewisser Weise eine überholte Form