Dominik Trottier

Ultreya auf dem Camino


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größer wird, beschließen wir zu pausieren und auf ihn zu warten. Irgendwann kommt er angeschlürft und steht merklich kurz vor dem K.O. Er schimpft über seine Hose, die sich aufgrund des Regenwetters mit Wasser voll gesogen habe und damit nun bleischwer geworden sei. Zudem möchte er seine Isomatte los werden, die für ihn nur unnötiger Ballast darstelle. Er lehnt sie an einen Wegweiser und hofft einem anderen Pilger damit eine Freude machen zu können. Die Spanierinnen halten das aber für keine gute Idee und schlagen vor, die Isomatte für ihn nach Roncesvalles abwechselnd zu tragen. Mark ist zwar davon überzeugt, dass er sie auf dem Jakobsweg zu keinem Zeitpunkt mehr brauchen wird, aber willigt ein. Um ihn für den Rest der Etappe zu Kräften kommen zu lassen, reiche ich ihm den letzten Schluck aus meiner Trinkflasche. Für unsere Unterstützung bedankt er sich mehr als nur einmal.

       Während Mark seine Zigarettenschachtel auspackt und anfängt zu rauchen, teilt er uns schließlich folgendes mit: »Guys, you can go. Don’t worry about me. I’m going to make it.«

       Er klingt sehr entschlossen und sich seiner Sache sicher. Allerdings reagieren wir etwas zögerlich auf seinen Entschluss und befürchten, dass er womöglich lediglich ein schlechtes Gewissen hat, uns aufzuhalten. Obwohl wir ihn vom Gegenteil versuchen zu überzeugen, schüttelt er nur vehement den Kopf. Dann vergewissert er unserer Gruppe ein weiteres Mal ausdrücklich, dass er mit Musik im Ohr und diversen Pausen den Anstieg nach Roncesvalles heute noch schaffen werde. Damit gibt er uns nun endgültig zu verstehen, dass wir nicht mehr auf ihn warten sollen. Also laufen Yoo-kyung, die zwei Spanierinnen und ich ohne ihn weiter.

       Nach einem schier nicht enden wollenden, steinigen Pfad bergauf, gelangen wir irgendwann auf eine scheinbar still gelegte Straße. In der nebligen Ferne können wir ein Kreuz erkennen. Weil mich jeder weitere Anstieg heute matt gesetzt hätte, bin ich froh, dass wir nun für heute die nötigen Höhenmeter geschafft haben.

       Aufgrund fehlender Wegweiser sind wir für einen kurzen Augenblick etwas desorientiert, bis wir schließlich vor uns andere Pilger sehen können. Wir gehen ihnen nach und werden auf der Suche nach Pfeilen und Jakobsmuscheln wieder fündig.

       Nun ist es wirklich nicht mehr weit bis nach Roncesvalles. Yoo-kyung war bisher, wie auch ihre zwei Landsmänner, sehr ruhig und hat kaum geredet, aber so kurz vor dem heutigen Etappenziel kommt sie aus sich heraus. Sie freut sich sogar derart, dass sie schon fast den Tränen nahe ist. Auch die Spanierinnen fangen an zu jubeln: »Por fin llegamos!« Endlich sind wir da!

       Als wir die ersten Gebäude von Roncesvalles sehen können, vernehmen wir bei zunehmend nebliger Sicht ein Hogwarts anmutendes Schloss. Nur kurze Zeit später stehen wir davor und es stellt sich heraus, dass das vermeintliche Schloss eine Abtei und zugleich unsere Schlafstätte heute Nacht ist. Wir betreten die Herberge und zahlen bei zwei netten holländischen Hospitaleros am Empfang zehn Euro für die Übernachtung. Laut meinem Reiseführer, ist das die mit Abstand teuerste kirchliche beziehungsweise öffentliche Pilgerherberge Spaniens. In unserem Zustand wären wir aber bestimmt gewillt, auch noch mehr für eine warme Dusche und ein Bett hinzublättern. Denn das ist alles, wonach wir uns jetzt sehnen.

       Zuvor werden wir aber zu einem Raum gewiesen, in dem bereits mehrere Dutzend Pilger ihre Wanderboots zum Trocknen und Ausstinken in einem Regal abgestellt haben. Ich gehe sicher, dass dort keine allzu ähnlichen Schuhe stehen und stelle meine dazu.

       Als wir vier den Raum verlassen, treffen wir auf die zwei Südkoreaner, die schon wesentlich früher angekommen sind und bereits geduscht haben. Beide sind wohlauf und freuen sich uns zu sehen. Sie informieren sich nach Mark und wir erzählen ihnen, dass er darauf bestand, die restliche Strecke alleine zu gehen.

       Die letzten zwei Betten im ersten Stock haben die zwei Spanierinnen bekommen. Yoo-kyung und ich sind somit die ersten Pilger im zweiten Stock. Was das bedeutet, wird uns erst bewusst, als wir direkt neben der Rezeption vor der nach oben führenden Steintreppe stehen.

       »Bitte lass das für heute wirklich die allerletzten Höhenmeter sein!«, seufze ich verzweifelt vor mich hin.

       Eigentlich ja kein Problem für uns Jungspunds, aber nach dem heutigen Tag sehr wohl eine Herausforderung. Einen Aufzug gibt es offensichtlich nicht. Das hätte mich in diesem Gebäude ehrlich gesagt auch gewundert. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere unverschämt schweren Rucksäcken in den zweiten Stock zu hieven.

       Wie gerne würden wir uns jetzt einfach nur ins Bett fallen lassen und bis morgen Früh durchschlafen. Allerdings sind wir vom Regen und den Anstrengungen des heutigen Tages nass bis auf die Haut. Noch nie in meinem Leben war das Bedürfnis nach einer warmen Dusche so groß wie heute. Daher lasse ich es mir nicht nehmen ganze dreißig Minuten unter dem wohltuend warmen Wasser zu stehen. Da der Duschhahn nach etwa dreißig Sekunden immer wieder automatisch ausgeht, muss ich zwar mindestens sechzig Mal auf den Knopf drücken, aber das ist mir in diesem Moment völlig egal.

       Als ich wie neugeboren vor dem Spiegel stehe, bekomme ich die Spuren zu sehen, die mein Rucksack hinterlassen hat. Rote Striemen zieren meine schmerzenden Schultern. Zudem hat sich die Druckstelle an meinem Fuß trotz des Pflasters nochmals verschlimmbessert und ich werde höllisch aufpassen müssen, dass das nicht weiter ausartet. Ich bin unglaublich stolz auf die Leistung, die mein Körper heute erbracht hat. Aber ich führe mir auch vor Augen, dass das gerade mal die erste Etappe war und noch mindestens dreißig weitere folgen werden.

       Ich brauche eine Weile bis ich über den langen Flur humpelnd wieder an meinem Bett angelangt bin. Dort fällt mir auf, dass ich meinen Rucksack und damit sämtliche Wertsachen unbeaufsichtigt zurückgelassen habe. Ich überprüfe den Inhalt und bin erleichtert, dass nichts fehlt. Jeder Mensch hätte sich theoretisch daran vergehen und so tun können, als sei es sein eigener Rucksack. Grundsätzlich glaube ich immer an das Gute im Menschen. Warum also nicht auch im Pilger? Meine Wertsachen werde ich dennoch von nun an besser bei mir tragen.

       Yoo-kyung und ich hängen unsere durchnässten Klamotten auf der Heizung zum Trocknen auf.

       »Mark!«, ruft sie plötzlich.

       Total erschöpft, aber überglücklich uns wiederzusehen, trottet er auf uns zu. Ohne viel Worte zu verlieren, zeigen wir ihm wo die Duschen sind und schlagen vor anschließend gemeinsam irgendwo zu Abend essen zu gehen. Mark nickt uns müde zu und so verabreden wir uns für neunzehn Uhr vor den Schlafkabinen.

      Weil Roncesvalles eine überschaubare Auswahl an Restaurants und Gaststätten hat, dauert es nicht lange, sich einen Überblick vom Angebot zu verschaffen. Wir entscheiden uns schließlich für eine kleinere Bar, in der bereits einige Leute sitzen und es zudem lecker riecht. Der Karte können wir entnehmen, dass es das Pilgermenü erst zu späterer Uhrzeit gibt. Das soll uns aber nach dem gestrigen Reinfall nur recht sein und greifen daher ohnehin lieber zu Nudeln mit Tomatensoße. Dazu trinken wir ein leckeres Bier und führen eine amüsante Unterhaltung mit einem italienischen Pilger, der ebenfalls bei uns am Tisch sitzt.

       Wir verlassen die Bar als es anfängt dunkel zu werden. Auf dem Weg zurück zur Herberge, begegnen wir überraschend Luis und Claire. Die beiden haben von der Alternativroute nichts gewusst und sind den Weg über den Pass gelaufen. Sie sind gerade erst in Roncesvalles angekommen und, ähnlich wie nach unserer Ankunft, schöpfen sie nun aus den allerletzten Energiereserven. Wir können uns nur allzu gut vorstellen wie anstrengend ihre Etappe gewesen sein muss. Daher wollen wir die beiden nicht länger von ihrer wohlverdienten Dusche und einem leckeren Abendessen abhalten. Um ihnen bei der Suche nach etwas Essbarem zu helfen, empfehlen wir die Bar, aus der wir gerade kommen. Sie bedanken sich und wir wünschen uns bereits eine gute Nacht, da wir uns heute voraussichtlich nicht mehr sehen werden.

       In der Herberge begutachten wir die zum Trocknen aufgehängte Wäsche und hegen starke Zweifel daran, ob sie bis morgen Früh ausreichend trocknen wird. Daher beschließen wir nach unserer ersten Etappe bereits einen Waschtag einzulegen. Im Keller der Abtei gibt es zum Glück nicht nur eine Waschmaschine, sondern auch einen Trockner. Gegen eine Gebühr in Höhe von acht Euro müssen Mark, Yoo-kyung und ich lediglich unsere Wäsche in einen Korb legen. Danach kümmern sich freiwillige Mitarbeiter der Herberge um den Rest.

       »What a service!«, staunen wir nicht schlecht und wollen gerade den Keller über die Treppe verlassen, als wir erneut positiv