Dominik Trottier

Ultreya auf dem Camino


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Arbeit, Ausbildung oder Studium. Für mich persönlich war mein beruflicher Werdegang absolut klar.

       Daher hielt ich es auch nicht für notwendig mich zu fragen: »Was wäre wenn…?«

       Nun aber hatte ich die Gewissheit. Aus mir wird kein Pilot. Ich muss einen anderen Weg gehen.

       Fürs Erste brauchte ich vor allem zwei Dinge. Zeit, um mir über meine Zukunft Gedanken zu machen. Und Abstand, um den Kopf freizubekommen sowie zuhause nicht tagtäglich an die Monate der vergeblichen Vorbereitung erinnert zu werden.

       Auf der Suche nach einem neuen Ziel, einer neuen Herausforderung und nicht zuletzt einem Erfolgserlebnis, fasste ich mir einen ganz besonderen Weg ins Auge. Ich hoffte, dass mich dieser Vergangenes verarbeiten lassen und für Neues öffnen würde.

      Anfang April 2012, nur zwei Wochen nach den Untersuchungen beim DLR, saß ich schließlich im Fernreisebus nach Südfrankreich. Ich begab mich auf den Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Dort wurde ich in dreißig Tagen nicht nur zum Pilger, sondern auf knapp achthundert Kilometern auch zu einem anderen Menschen. Meine Erfahrungen habe ich in diesem Buch festgehalten.

      Augsburg, im Mai 2012

      Dominik Trottier

      Südfrankreich

      04. April 2012: Saint-Jean-Pied-de-Port

      Ich fühle mich jetzt schon wie gerädert. Dabei bin ich noch keinen Meter gepilgert. Die alles andere als komfortable, planmäßig etwa vierundzwanzigstündige Busfahrt nach Bayonne im Süden Frankreichs fordert mich und meinen Körper bereits dermaßen heraus. Ich bin todmüde und kann mir nur schwer vorstellen, ab morgen mehrere Dutzend Kilometer Tag für Tag quer durch Spanien gen Westen zu flanieren. Alleine der Gedanke daran, das mit meinem viel zu schweren Gepäck zu tun, nimmt mir einen Teil der noch anhaltenden Vorfreude.

       Als ob die Fahrt nicht schon lange und unangenehm genug gewesen wäre, verzögert sie sich zum Ärger aller Fahrgäste um ganze fünf Stunden. Da die Hydraulik des Buses einen Defekt aufwies, musste der Fahrer rechts anhalten und nach kurzer Inspektion telefonisch ein Ersatzteil ordern.

       Mitten in der Pampa, nur wenige Kilometer von meinem eigentlichen Zielort entfernt, warten wir nun in den frühen Morgenstunden auf den französischen ADAC. Da wir keinerlei Informationen bekommen, wie lange das denn dauern könnte, gehe ich ähnlich wie bei Klausuren aus vergangenen Schultagen erstmal vom Schlimmsten aus. Vermutlich werden sich die Kollegen nämlich erstmal in aller Ruhe einen Kaffee gönnen und von Gott weiß woher anfahren müssen. Sollten sie aber unerwartet früher eintreffen, freue ich mich darüber umso mehr.

       Um die Warterei zu überbrücken, habe ich nun die Qual der Wahl. Zwar ist es im Bus immerhin kuschlig warm, allerdings scheint nahezu jeder Fahrgast stark erkältet zu sein. Während ich hier Gefahr laufe, mich ihrer Riege anzuschließen, droht mir draußen an der immerhin frischen Luft, bei wiederum Minusgraden, der Hintern abzufrieren. Wie ich mich auch entscheide, in beiden Fällen scheint ein grippaler Infekt unausweichlich.

       Für einen Augenblick überlege ich, ob ich nicht einfach von hier meine Pilgerreise beginnen soll. Allerdings verdränge ich diesen dummen Gedanken so schnell, wie er gekommen ist und begebe mich schließlich auf die Suche nach Sauerstoff.

       Vor dem Bus bildet sich ein kleiner Stehkreis aus jungen Leuten, die ebenfalls vor der abgestandenen und längst aufgebrauchten Luft nach draußen geflohen sind. Ich schließe mich ihnen an und wir kommen ins Gespräch.

       Es dauert nicht lange und schon haben wir unsere größte Gemeinsamkeit gefunden, die sich ausgesprochen noch etwas merkwürdig anhört: »Wir sind Pilger.«

       Zwar haben wir noch keinen Fuß auf den Jakobsweg gesetzt, ein gemeinsames Ziel teilen wir aber schon jetzt.

       Da wir seit mehr als vierundzwanzig Stunden kein Wort mehr gesprochen, geschweige denn mit jemand anderem uns über das Pilgern unterhalten haben, sind wir froh, nach dieser langen Zeit endlich Mitstreiter und Gleichgesinnte gefunden zu haben.

       Während wir uns über die traumatische Busodyssee austauschen, stelle ich glücklich fest, dass ich soeben meine allerersten Pilgerbekanntschaften gemacht habe. Jedoch zeigt sich schnell, dass wir uns auf dem Jakobsweg voraussichtlich kein einziges Mal begegnen werden.

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      Abfahrt in Augsburg

       »Steigt ihr auch in Bayonne aus?«, frage ich noch hoffnungsvoll.

       Kollektives Kopfschütteln.

       »Ich fange in León an. Das sind mindestens nochmal vier Stunden Fahrt von hier.«, stellt einer von ihnen ernüchternd fest.

       Es folgen vier weitere Pilger, die erzählen, dass sie lediglich knapp zwei- bis dreihundert Kilometer vor Santiago auf dem Jakobsweg einsteigen werden. Eine von ihnen läuft sogar eine völlig andere Route, weiter nördlich direkt an der Küste entlang.

       Offensichtlich bin ich in der Gruppe der Einzige, der sich vier Wochen Zeit genommen hat, um die meines Wissens wohl bekannteste und auch klassische Route des Jakobswegs zu pilgern, den Camino Francés. Von meinem gewählten Startpunkt werde ich knapp achthundert Kilometer zurücklegen müssen, um nach Santiago de Compostela zu gelangen.

       Auf einmal kommen in mir starke Zweifel an meinem Vorhaben auf. War ich zu blauäugig, diese Reise ohne jegliche Pilgererfahrung anzutreten? Habe ich das Ganze womöglich total unterschätzt? Ist es übermütig oder gar naiv von mir zu glauben, morgen Früh bei Wind und Wetter die Pyrenäen überqueren zu können?

       Vielleicht sollte ich auch einfach im Bus sitzen bleiben und nur etwa ein Drittel der ursprünglich geplanten Strecke laufen. Ich kann ja jederzeit wieder herkommen und dann das nächste Mal eine größere Distanz absolvieren.

       Vor der Abreise war ich doch noch so zuversichtlich. Jetzt stell ich plötzlich alles in Frage. Ich wollte eine Herausforderung? Hier habe ich sie! Nach einem ersten Gespräch mit blutigen Pilgeranfängern wie mich selbst, bereits die Flinte ins Korn zu werfen und meine Ziele aus purem Respekt runterzuschrauben, entspricht nicht meinem sportlichen Ehrgeiz. In letzter Sekunde einen Rückzieher von meinem festen Entschluss machen? Mit diesem Gedanken kann und will ich mich nicht anfreunden und so bleibe ich nun dabei. Ich werde in Bayonne aussteigen und von dort mit dem Zug an den Ort fahren, wo schon so viele Menschen vor mir ihre ersten Pilgergehversuche erfolgreich unternommen haben.

       Irgendwann tauchen die übermüdeten Mechaniker auf und reparieren unseren Bus im Halbschlaf. Wir vertreten uns noch ein wenig die Füße und als wir zurückkommen, kann die Fahrt endlich weiter gehen.

       Nach nicht mal einer Stunde, nehmen wir im Morgengrauen schließlich eine Ausfahrt und halten nur wenige Meter später auf dem Seitenstreifen rechts an. Eine erneute Panne wird das wohl kaum sein. Oder?

       Dann höre ich den Busfahrer über die Lautsprecher durchsagen: »Bayonne.«

       Ach echt? Hier? Etwas provisorisch diese Haltestelle, aber bitte. Immerhin hat diese abenteuerliche Busfahrt nun ein Ende.

       Weil ich im gesamten Bus tatsächlich der Einzige bin, der hier aussteigen möchte, geht auf einmal alles ganz schnell. Mit einem »Buen camino!« von meinen Pilgerkollegen verlasse ich den Bus. Draußen wird mir mein Rucksack vom Fahrer unsanft zugeworfen. Danach schließt er die Türen und fährt ab. Ohne mich. Ich stehe nur da und schaue dem Bus hinterher. Als er wieder auf die Autobahn auffährt, drehe ich mich um und versuche mich zu orientieren. Es scheint nun loszugehen.

       Offiziell gesehen bin ich ja bereits ein waschechter Pilger. So steht es zumindest im credencial, meinem Pilgerausweis. Deshalb zähle ich die Busfahrt auch schon irgendwie zu meiner Pilgerreise. In gewisser Weise ist sie mein erstes Highlight. Hoffentlich folgen noch einige positivere Höhepunkte.

       Lediglich meinen engsten Freunden habe ich von meinem Projekt erzählt. Das Projekt Jakobsweg. Bei allen Anderen sprach ich geheimnisvoll von einem »einmonatigem Spanienaufenthalt«.