nach Sonnenuntergang war es nicht merklich kühler geworden, und die Gebete zu den Heiligen hatten bislang nichts bewirkt, der Regen war auch an diesem Tag ausgeblieben. Vorsorglich umrundete der Vogt noch einmal den Wehrgang, aber alle Posten waren wach und am angewiesenen Platz. Da begab auch Reginald sich zur Ruhe.
Im Osten dämmerte es bereits, die ersten Vögel hatten zaghaften Gesang angestimmt, sonst lag Stille über dem Werder, über den weiten Schilfflächen und dem Fluß, der unterhalb des Walles dem Meer zustrebte. Plötzlich schreckte der Wächter, der dort müde seinen Dienst versah, auf: War da nicht ein Geräusch zu hören? Er lauschte. Es klang, als würden Ruderblätter vorsichtig ins Wasser getaucht. Er spähte über die Brüstung hinweg in die Richtung, wo der Fluß mit leichter Krümmung hinter dem gegenüberliegenden Waldrand verschwand. Und dann sah er das Schiff, das sich langsam flussaufwärts bewegte, er sah die Gewappneten, die zwischen den Ruderknechten zuhauf standen, und er sah, wie dahinter ein Steven nach dem anderen auftauchte. Da rief er laut das Alarmsignal in die Burg und stürzte zum Palas des Vogtes, um Bericht zu erstatten. Die Schlafenden fuhren auf und griffen sich ihre Waffen, um eilig den umlaufenden Wehrgang zu besetzen.
Reginald hatte das lederne Wams übergestreift, das ihn gegen feindliche Pfeile schützen sollte, schon im Laufen griff er den Helm und stülpte ihn über den Schädel. Er warf nur einen kurzen Blick über die Palisade, dann befahl er zwei Männern, die Pferde zu satteln und in gestrecktem Galopp zur Civitas zu reiten, um mit dem Horn die Bürger zu wecken. Sie sollten bewaffnet zum Hafen eilen, um möglichst eine Landung der feindlichen Truppen zu verhindern, denn nur dort konnten sie nahe genug ans Ufer rudern. Die Männer liefen zu den Ställen, das Burgtor wurde geöffnet, und die Berittenen verließen den schützenden Wall. Einen Augenblick überlegte der Vogt, mit seiner ganzen Mannschaft ebenfalls zum Hafen zu ziehen, doch sie würden wohl zu spät dort eintreffen, und er durfte die gräfliche Burg nicht schutzlos zurücklassen. Die Ritter und Knechte, die hier seinem Befehl unterstanden, reichten im übrigen kaum aus, um den Wall ringsum wirksam zu verteidigen. Die Männer in der Civitas mussten schon selbst sehen, wie sie den Angriff abwehren konnten, und Reginald vertraute auf die Umsicht der Ältermänner, die dort die Führung übernehmen würden.
Als das Horn ertönte und die lauten Rufe der Boten erklangen, weckte Dietmar Frau und Sohn. Noch ehe er aus dem Haus trat, um Näheres zu erfahren, befahl er Alf, mit Madalene über den Markt hinweg in Richtung Wald zu laufen, der Weg zur Burg schien ihm zu unsicher, wenn die Mannschaft dort bereits die Feinde gesichtet hatte. Alf wäre gern geblieben, doch er gehorchte dem Vater und führte Magdalene über die weite Fläche des Marktes in Richtung Süden. Die junge Frau hatte bereits den schwerfälligen Gang, der sich nach einigen Monaten der Schwangerschaft einstellte, so dass Alf sie am Arm packte, um sie zu stützen. Die beiden eilten durch den Wald, der schon recht gelichtet war und wenig Schutz bot, bis sie an den Rand oberhalb des Kietzes kamen, wo Sträucher und junge Buchen die Sicht hinderten.
Alf wollte schon trockenes Laub zusammenkehren, damit Magdalene sich dort niederlassen könnte, als sein Blick auf die Hütten dort drüben fiel. Die Männer bereiteten ihr Boote vor, die Frauen holten Wasser vom Fluß, und etliche Kinder hüpften nackt am Ufer herum. Der Klang der Hörner hatte nicht ausgereicht, um auch die Fischersiedlung zu warnen. Und irgendwo da unten war auch Duscha – seine Duscha. Gut, sie waren Wenden wie auch die Angreifer, aber würden die Krieger einen Unterschied machen, wenn der Blutrausch über sie kam? Und gab es nicht stets auch Feindschaft zwischen den slawischen Stämmen? Mit raschem Entschluß packte er Magdalene am Arm: „Dort hinunter, wir müssen sie warnen!“
Die Frau blickte entsetzt: „Ich soll zu den Barbaren? Sie haben meinen ersten Mann getötet, sollen sie jetzt auch mich töten – und das Kind in meinem Leibe?“ „Es sind Freunde,“ antwortete Alf, „sie unterstehen genau wie wir dem Grafen Adolf, und sie sind genau wie wir in großer Gefahr!“ Nur widerstrebend ließ die Frau sich den Hügel hinabziehen. Neugierig, ja misstrauisch blickten die Dorfbewohner den Deutschen entgegen. „Bucu wird überfallen,“ rief Alf schon von weitem und hoffte, dass die Wenden ihn verstehen würden. Wenn nur Duscha auftauchte, sie könnte sicher übersetzen, was er mitteilen wollte. Doch der Dorfälteste hatte erkannt, was der fremde junge Mann mitteilen wollte. Ruhig gab er einige Anweisungen, zwei Männer liefen den Hügel hinauf, offensichtlich sollten sie Ausschau halten und die anderen warnen, falls Gefahr drohte.
Da kam Duscha vom Ufer herauf, wo sie mit dem Vater das Boot für einen Fang rüsten wollte. Wortlos packte sie Alf am Arm und zog ihn zusammen mit der jammernden Magdalene in eine Hütte. „Setz dich, Frau,“ sagte sie und wies auf ein sauberes Strohlager an der Rückwand. „Erzähle, was ist geschehen?“ wandte sie sich dann an den Freund. Der berichtete, was oben in der Civitas geschah. Duscha hörte aufmerksam zu. „Wartet hier, ich will es dem Ältesten sagen!“ Sie strich Alf mit der Rechten ganz sanft über die Wange und verschwand. Magdalene hatte es mit Abscheu gesehen: „Was erlaubt sich diese kleine Hure,“ fauchte sie. Doch Alf antwortete nur knapp: „Wir kennen uns. Sie ist ein gutes Mädchen.“
Duscha kam zurück: „Ihr könnt hier in der Hütte bleiben, ihr seid unsere Gäste. Wir sind alle sehr betroffen, dass wieder Krieg ist zwischen Wenden und Deutschen, und wenn Gefahr droht, so gibt es ein sicheres Versteck, in das wir gemeinsam fliehen. Unsere Späher werden uns rechtzeitig warnen. Ich werde der Frau warme Ziegenmilch bringen, sie sieht schlecht aus. Ist sie dein Weib?“ Alf erschrak: Sie fragte es ganz ruhig, und doch meinte er Traurigkeit aus den Worten herauszuhören. Rasch antwortete er: „Magdalene ist die Frau meines Vaters, auch wenn sie nicht meine Mutter ist. Und sie erwartet ein Kind.“ „Das sehe ich.“ Duschas Miene schien sich aufzuhellen. „Sie soll sich schonen. Es ist nicht gut, wenn sie sich aufregt. Und nun gehe ich die Ziege melken.“ Und wieder verschwand sie.
Magdalene saß aufrecht auf dem Stroh. „Komm, setz dich neben mich,“ sagte sie zu Alf. „Ich brauche jemand, der mir nahe ist.“ Alf gehorchte, und er duldete auch, dass die Frau ihren Kopf gegen seine Schulter lehnte, aber als sie nach seiner Hand tastete, entzog er sie ihr. „Du solltest dich legen,“ sagte er, „ich werde dir Platz machen.“ Er stand auf und zwang sie, sich auf dem Lager auszustrecken. Er war erschrocken über ihr Verhalten, und plötzlich erinnerte er sich, dass sie ihm oft mit den Blicken gefolgt war, wenn er durch das Haus des Vaters ging. Er hatte nicht darauf geachtet, doch jetzt sah er das mit anderen Augen. Sie ist Vaters Eheweib, und sie trägt ein Kind von ihm im Leib, dachte er. Sie hat nichts mit mir zu schaffen.
*
Dietmar der Schmied hatte, sobald Sohn und Frau fortgeeilt waren, sein Schwert ergriffen und lief, wie es die Herolde befahlen, zum Hafen hinunter. Doch kaum einer der Männer aus den Häusern am Wegrand folgte ihm. Vergebens schlug mit dem Schwertknauf gegen die Türen, rief und mahnte zur Eile. Hier und da taumelte jemand auf die Straße, weniger vom Schlaf als von dem vielen Bier noch trunken. Es waren wohl nur zwei Handvoll Männer, die sich auf dem Platz des Hafenmarktes um Hinrich von Soest und den zweiten Ältermann zusammenscharten, und auch diese waren teils ohne Waffen erschienen.
Inzwischen waren die Langschiffe Niklots herangekommen, der Fürst stand gerüstet neben dem Steven des vordersten Bootes. Hilflos mussten die Männer an Land zuschauen, wie die Wenden Feuerbrände auf ihre eigenen Schiffe schleuderten, eins nach dem anderen stand in Flammen, und mit Schiff und Waren verbrannte auch mancher der Schifferknechte, die an Bord ihren Rausch ausschlafen wollten. Niklot erkannte die Schwäche des Gegners, er wartete, bis die ausgebrannten Schiffe im Fluß versanken, um dann erst das Zeichen zum Landen zu geben. Mit wildem Geschrei stürzten die feindlichen Krieger ans Ufer und rückten gegen die kleine Gruppe der Verteidiger vor. Da ergriffen die meisten voller Angst die Flucht, verfolgt von den siegreichen Wenden. Einer nach dem anderen wurde niedergemacht, auch Hinrich, der mutig den Angreifern entgegengetreten war, erhielt einen Schwertstreich gegen die linke Schulter und sank zu Boden. Doch das rettete ihm das Leben, denn die Wenden ließen den scheinbar leblosen Körper im Staub liegen und stürmten weiter, auf die Häuser und Hütten der Civitas zu.
Dietmar hatte ein oder zwei Gegner abgewehrt, dabei langsam rückwärts schreitend, doch er sah ein, dass ihm nur noch der Tod blieb, falls er den Kampf fortsetzen sollte. Also sprang er in eine schmale Gasse zwischen zwei Hütten, ließ die vordersten Kämpfer vorüber rennen und schlich dann hinter den Weidenzäunen, die die Grundstücke trennten,