darunter geschrieben. Ich nickte abwesend. Solange man mein Gesicht nicht sah, war es okay.
»Hab ich doch. Deshalb bin ich doch auf die Schnauze gefallen.«
»Und dann gleich beide Arme. Am ersten Tag der Sommerferien. Das würde mich total ankotzen«, sagte Marcel. Dafür, dass er mein bester Freund war, bewies er bemerkenswert wenig Mitgefühl. Immerhin hob er die Bierflasche ab und zu an meine Lippen, so dass ich nur noch den Kopf in den Nacken zu legen und zu schlucken brauchte.
»Sag nicht so was«, erwiderte ich sarkastisch und rülpste. Unruhig rutschte ich auf der Parkbank hin und her. Rutsche, Wippe und Klettergerüst auf dem Spielplatz waren verwaist. Im heißen Wind schwankte einsam die Schaukel. Eine warme Brise wehte mir die Haare aus dem Gesicht. Es waren bestimmt 30 Grad im Schatten. Schweiß lief mir die Stirn herab.
»Ich fahre jetzt doch die nächsten zwei Wochen weg. Meine Mutter will, dass ich noch einmal mit ihr und meiner Schwester nach Italien komme. Wird hoffentlich das letzte Mal sein«, sagte Marcel. Das Schicksal meinte es wirklich nicht gut mit mir.
»Na toll. Zwei Wochen allein mit Daniela«, sagte ich. Und das waren nur zwei von drei Wochen, die mein Vater auf Dienstreise in China war. Als Maschinenbauingenieur betreute er den Einbau von Turbinen in einen neuen Staudamm. Oder so was Ähnliches.
»Die sah ja geil aus im Kleid. Man konnte sogar ihre Nippel sehen.«
»Marcel«, sagte ich, »hör auf.«
Marcels Interesse für meine Stiefmutter hatte sich bislang auf ihre Telefonstimme und ihre Funktion als mein Anrufbeantworter beschränkt. Waren mir seine anderen Absichten bislang verborgen geblieben oder sah er sie auf einmal mit anderen Augen?
»Ich find Daniela total geil. Die hat tolle Beine. Und vor allem geile Titten. Hast du sie schon mal nackt gesehen?«
»Marcel!«, wiederholte ich, diesmal etwas lauter. Es war meine Stiefmutter. Sie war keine Frau, hatte nicht mal ein Geschlecht. Sie war nur etwas, das mich störte wie das Flackern einer defekten Glühbirne.
Stiefmutter. Ich hatte sie nie so genannt. Ihr Name war Daniela. Nie hatte ich sie den Platz meiner Mutter einnehmen lassen, die sich aus dem Staub gemacht hatte, als ich acht gewesen war. Ein Ersatz konnte und durfte sie nicht sein, doch in den letzten Jahren war nicht entgangen, dass der Altersunterschied zwischen ihr und meinem Vater eindeutig zu meinen Gunsten ausfiel. Daniela und mich trennten weit weniger Jahre als sie und meinen Vater.
Daniela war das immer bewusst gewesen. Sie hatte für mich mehr sein wollen als die Frau meines Vaters. Sie wollte meine Musik hören und wissen, für wen ich schwärmte, wollte von meiner Jugend etwas abbekommen, weil sie sich noch zu jung für die Opern fühlte, in die mein Vater ging. Doch ich hatte sie zurückgewiesen. Für meine Welt war sie zu alt gewesen.
Mehr als das – sie war das Menetekel an der Wand, das mich immer und jederzeit daran erinnerte, wie wenig ich meiner Mutter bedeutet hatte. Meiner Mutter, die jetzt irgendwo in den USA lebte und mir nur an Weihnachten und zum Geburtstag eine Karte schickte.
Irgendwann würde ich sie verstehen, hatte sie mir bei unserem letzten Telefonat, das Jahre zurück lag, fast vorwurfsvoll gesagt. Irgendwann würde ich verstehen, was Liebe bedeutete und Freiheit und die perfekte Mischung von beidem.
Eine Mischung, die sie mit mir und meinem Vater anscheinend nie gefunden hatte. USA. Ich hatte einmal überlegt, einen Flieger nach Los Angeles zu besteigen, doch dann war das Ticket zu teuer gewesen und die Hürden bei der Einreise zu hoch.
Ich hatte es so lange aufgeschoben, bis es mir egal geworden war und mir die Postkarten zum Geburtstag genügten. Mehr hatte ich von meiner Mutter nicht mehr erwartet.
Marcel grinste und dachte nicht daran, den Mund zu halten. Wenn er grinste, was ziemlich häufig vorkam, zog sich sein kantiges Gesicht in die Breite wie ein ausgeleierter Putzschwamm.
Er hielt sich für gut aussehend, jedenfalls behauptete er, seine Schwester hätte das einmal zu ihm gesagt, aber in meinen Augen war ein hässlicher Kerl. Und seitdem er mir ein Foto von sich als Baby gezeigt hatte, wusste ich, dass er schon von Geburt an hässlich gewesen war.
»Wart ihr mal am FKK-Strand? Boah, ich hätte einen Dauerständer. Ich versteh deinen Vater, dass der sie geheiratet hat. Das ist ja so, als würde man seine Tochter heiraten. Echt verboten.«
»Ach, halt’s Maul«, resignierte ich. Vielleicht waren es die Hormone, oder die Trennung von seiner Freundin Tine vor ein paar Wochen, mit der auch meine letzte Hoffnung auf ein Zusammenkommen mit Sophie endgültig gestorben war.
»Mach doch mal ein paar Fotos, wenn sie sich auf der Terrasse sonnt. Ach, Scheiße, geht ja nicht.«
Marcel lachte trocken und gab mir wieder zu trinken. Das Bier schmeckte abgestanden. Nacktfotos von Daniela. Die gab es doch bereits seit unserem letzten gemeinsamen Urlaub in Dänemark vor ein paar Jahren. Foto einer schludrig zusammengesetzten Patchworkfamilie in Alben, die Staub angesetzt hatten. Ich hatte mehr als Nacktbilder gesehen. Damals. Im Bunker. Bilder, die ich nie wieder aus meinem Kopf bekommen hatte. Hatte etwas gesehen, das ich nicht hätte sehen dürfen. Meine Unruhe wuchs. Und auch unter dem linken Gips juckte es.
»Kratzen.« Ich murmelte meine Bitte im Befehlston. Besser als Jammern. Ich konnte jammernde Kranke nicht leiden. Dann lieber kommandieren. Marcel nahm das Lineal und schob es von der Armbeuge aus zwischen Gips und Haut. Ob er wusste, wie gut das Kratzen tat, wie gut es sich anfühlte, diesen unerträglichen Reiz abzuschalten? Eine halbe Minute lang stocherte er dort herum. Das Jucken ließ nach.
»Ehrlich, mich würde das wahnsinnig machen. Gleich beide Arme. Du kannst dir ja nicht mal was aus dem Kühlschrank holen.«
»Du sagst es«, knurrte ich. Durch die Kastanien über uns glitzerte Sonnenlicht. Kühlschrank, als käme es darauf an. Die Frustration einer ganzen Woche hatte sich aufgestaut. Einen irrwitzigen Moment lang hoffte ich, Marcel böte mir an, Sophie anzurufen um sie zu fragen, ob sie mich dort kratzen könne.
»Frag doch mal Laura«, sagte er. Schon wieder Laura. Warum konnte er mich nicht einmal in dieser Situation von ihr verschonen? Laura verfolgte mich seit Wochen, wollte mit mir Hausaufgaben machen und in der Pause zwischen Mathe und Erdkunde immer irgendetwas unheimlich Wichtiges von mir wissen.
So aufdringlich war ich seit Jahren nicht umworben worden. Mein Problem: dünn, laut und mit Haaren, die weder blond noch braun waren, entsprach Laura überhaupt nicht meinem Typ. Sie war laut und aufdringlich und stellte tiefgehende Fragen. Sie nervte.
»Vergiss es«, schnappte ich. »Ich kann die nicht ab.«
»Du bist so wählerisch! Dann ruf doch gleich Sophie an.«
»Fragst du sie für mich?«, fragte ich zurück und meinte es ernster, als es sich anhörte. Sophie. Traum meiner schlaflosen Nächte. »Ich kann ja nicht mal telefonieren. Mein Handy hat’s total zerlegt.«
»Stimmt. Und was machst du, wenn du auf Klo musst?«
Freundin.
Das Klo war von der Tür aus gesehen ein kalter, abweisender Ort, der sich ins Unendliche dehnte. Ein dunkler Keller, eine Folterkammer, ein Ort, an dem ich nicht alleine sein konnte. Vorsichtig tat ich einen Schritt in den Raum. Ich spürte Daniela hinter mir.
»Na los«, sagte sie. »Das muss dir nicht peinlich sein.«
»Ist es ja auch nicht«, sagte ich mit dem Trotz des Durchschauten.
Ich stellte mich vor das Toilettenbecken. Meine Arme hingen in ihren Schlaufen vor meinem Bauch wie abgestorbene Äste. Dann drehte ich mich um. Meine Stiefmutter sah mich belustigt an. Sie trug ihre langen, schwarzen Haare offen. Die enge Bluse spannte sich über den großen Brüsten unter einem weißen BH.
Rasch beugte sie sich nach vorne. Ihre Finger griffen in den Bund meiner Shorts und zogen sie mitsamt der Unterhose herunter. Dann richtete sie sich wieder auf.
»Ihr habt Bier getrunken?«, fragte sie rein rhetorisch.