Meinung nach von dem großen Abstand zwischen seinen
Extremitäten herrührte. Er hatte einen Kopf von geringem
Umfang und noch geringerem Inhalt; er hatte schwache Augen
und schwache Knie, und man konnte sich, wenn man ihn ansah,
des allgemeinen Gefühls nicht erwehren, daß sowohl für seine
Gelenke wie für seinen Geist zuviel von ihm da war. Aber er war
ein freundlicher, wenn auch schüchterner junger Mensch (seine
Mutter vermietete ihn und gab das Geld für sich aus), und wir
wurden miteinander bekannt, als er zu Fuß von einem Jahrmarkt
zum anderen ging, um dem Pferd ein wenig Ruhe zu gönnen.
Man nannte ihn Rinaldo di Velasco, doch sein wirklicher Name
war Pickleson.
Dieser Riese namens Pickleson vertraute mir unter dem Siegel
der Verschwiegenheit an, daß er sich erstens selbst zur Last
wäre und daß ferner das Leben ihm zur Last gemacht würde
durch die Grausamkeit seines Herrn gegen eine taubstumme
Stieftochter. Ihre Mutter war tot, sie hatte keine Menschenseele,
die sich ihrer annahm, und wurde schändlich behandelt. Sie reiste
nur deshalb mit der Karawane seines Herrn, weil man sie
nirgends lassen konnte, und dieser Riese namens Pickleson ging
sogar so weit zu glauben, daß sein Herr oft den Versuch machte,
sie auf dem Weg zu verlieren. Er war ein so schlaffer junger
Mann, daß es unendlich lange dauerte, bis er diese Geschichte
von sich gegeben hatte, aber sie gelangte doch allmählich zu
seiner obersten Extremität.
Als ich diesen Bericht von dem Riesen namens Pickleson
vernahm und er mir ferner erzählte, daß das arme Mädchen
schönes, langes schwarzes Haar habe und oft daran zu Boden
gezogen und geschlagen werde, da konnte ich den Riesen durch
das, was feucht in meinen Augen stand, nicht mehr sehen.
Nachdem ich sie mir gewischt hatte, schenkte ich ihm ein
Sechspencestück (denn man hielt ihn so kurz, wie er lang war),
und er leistete sich zwei Gläschen Gin mit Wasser dafür. Diese
machten ihn so munter, daß er das beliebte komische Lied: »Ist's
nicht kalt?« vortrug – eine vom Publikum sehr begehrte
Nummer, die sein Herr durch zahllose andere Mittel vergeblich
aus ihm herauszukriegen versucht hatte, wenn er als Römer
auftrat.
15
Sein Herr hieß Mim. Er war ein sehr heiserer Mann, und ich
kannte ihn von früheren Unterhaltungen her. Ich ging als bloßer
Zuschauer zu diesem Jahrmarkt, nachdem ich den Karren
außerhalb der Stadt untergebracht hatte, und ich sah mich
während der Vorstellung an der Rückseite der Wohnwagen um.
Endlich traf ich auf das arme taubstumme Mädchen, das im
Halbschlaf an ein kotiges Wagenrad gelehnt dasaß. Beim ersten
Halbschlaf an ein kotiges Wagenrad gelehnt dasaß. Beim ersten
Blick hätte ich beinahe geglaubt, sie sei aus einer Menagerie
wilder Tiere ausgebrochen; aber beim zweiten hatte ich einen
günstigeren Eindruck und dachte, man müsse sie bloß besser
versorgen und freundlicher behandeln, dann würde sie meinem
verlorenen Kind ähnlich sein. Sie war gerade in dem Alter, in
dem meine Tochter gewesen wäre, wenn ihr hübsches Köpfchen
an jenem unseligen Abend nicht auf meine Schulter
niedergesunken wäre.
Kurz, ich sprach vertraulich mit Mim, während er draußen
zwischen zwei Partien die Glocke läutete, und ich sagte zu ihm:
»Sie liegt Euch schwer auf der Tasche; was wollt Ihr für sie
haben?«
Mim pflegte stets entsetzlich zu fluchen. Wenn ich diesen Teil
seiner Antwort, der bei weitem der längste war, übergehe, so
lautete sie:
»Ein Paar Hosenträger.«
»Nun, ich will Euch sagen«, sage ich, »was ich mit Euch machen
werde. Ich werde euch ein halbes Dutzend der feinsten
Hosenträger im Karren holen und das Mädchen dann mit mir
fortnehmen.«
Darauf Mim (wieder mit einigen Flüchen):
»Ich werde es glauben, wenn ich die Sachen habe, und nicht
früher.«
Ich lief, so rasch ich konnte, damit er es sich nicht etwa noch
anders überlegte, und der Handel kam zustande. Pickleson freute
sich so sehr darüber, daß er der Länge nach, wie eine Schlange,
zu seiner kleinen Hintertür herauskam und uns »Ist's nicht kalt?«
zwischen den Rädern zum Abschied flüsternd vortrug.
Es waren glückliche Tage für uns beide, als Sophy und ich in
dem Karren zu reisen begannen. Ich hatte ihr ein für allemal den
Namen Sophy gegeben, damit sie für immer mir gegenüber die
Stellung meiner leiblichen Tochter einnehmen sollte. Durch die
Güte des Himmels gelang es uns bald, uns zu verständigen,
sobald sie zu der Überzeugung gekommen war, daß ich es
ehrlich und freundlich mit ihr meinte. In ganz kurzer Zeit hatte sie
eine wunderbare Zuneigung zu mir gefaßt. Ihr könnt euch nicht
denken, wie es ist, wenn jemand einem wunderbar zugetan ist,
wenn nicht die Einsamkeitsgefühle, von denen ich euch erzählt
habe, euch nicht schon niedergedrückt haben und über euch
hergefallen sind.
Ihr hättet gelacht – oder das Gegenteil, das hängt von eurem
Gemüt ab –, wenn ihr bei meinen Versuchen, Sophy zu
unterrichten, hättet dabeisein können. Zuerst halfen mir dabei –
ihr würdet das nie erraten – die Meilensteine. Ich verschaffte mir
einige große Alphabete in einer Schachtel, jeder Buchstabe für
einige große Alphabete in einer Schachtel, jeder Buchstabe für
sich auf einem kleinen Stäbchen, und angenommen, wir fuhren
nach Windsor, so setzte ich die Buchstaben zu diesem für sie
zusammen, machte sie dann auf jeden Meilenstein aufmerksam,
auf dem die Buchstaben in derselben Reihenfolge standen, und
wies schließlich auf die königliche Residenzstadt, der wir uns
näherten. Ein andermal stellte ich die Buchstaben KARREN für
sie zusammen und