gab ich ihr DOKTOR
MARIGOLD und heftete ein Schildchen mit der entsprechenden
Aufschrift auf meine Weste. Die Leute, die uns begegneten,
starrten uns zwar an und lachten, aber was machte ich mir
daraus, wenn sie die Sache nur begriff. Sie begriff sie, nachdem
ich viel Geduld und Mühe aufgewendet hatte, und von da an ging
es wie geschmiert, das könnt ihr mir glauben.
Zu Anfang war sie zwar ein wenig geneigt, mich für den Karren
zu halten und den Karren für die königliche Residenzstadt, aber
das war bald vorüber.
Wir hatten auch unsere privaten Zeichen, und es waren viele
Hunderte. Bisweilen saß sie, den Blick auf mich gerichtet, da und
überlegte eifrig, wie sie sich über etwas Neues mit mir
verständigen könnte – wie sie mich etwas fragen könnte, was sie
erklärt zu haben wünschte –, und dann war sie (oder es schien
mir zumindest so) meinem Kind, wenn es ebenso alt gewesen
wäre wie sie, so ähnlich, daß ich halb glaubte, es sei es wirklich
und wäre nur gekommen, um mir zu erzählen, wo es im Himmel
gewesen wäre und was es seit jener unseligen Nacht gesehen
hätte, nachdem es davongeflogen war. Sie hatte ein hübsches
Gesicht, und jetzt, wo sie niemand mehr an ihrem glänzenden
schwarzen Haar zerrte und es in Ordnung war, lag etwas
Rührendes in ihren Blicken, das den Karren ruhig und friedlich,
aber nicht im mindesten melancholisch machte.
Es war wirklich zum Staunen, wie sie jeden meiner Blicke zu
verstehen lernte.
Wenn ich abends mit dem Verkaufen beschäftigt war, saß sie,
vom Publikum ungesehen, im Wagen drinnen, sah mir scharf in
die Augen, wenn ich einen Blick hineinwarf, und reichte mir dann
ohne Zögern genau den Artikel oder die Artikel, die ich
brauchte. Und dann klatschte sie vor Freude in die Hände und
lachte. Und was mich angeht, so mußte ich immer daran denken,
wie sie ausgesehen hatte, als ich ihr zum erstenmal begegnet war:
wie sie schlafend gegen das kotige Karrenrad gelehnt
dagesessen hatte, halb verhungert, verprügelt und in Lumpen
gehüllt. Und sie jetzt dagegen so glücklich zu sehen, das stimmte
mich so froh, daß mein Ruf besser denn je wurde. Aus
Dankbarkeit aber vermachte ich Pickleson (unter dem Namen
»Mims reisender Riese, sonst Pickleson geheißen«) in meinem
Testament eine Fünfpfundnote.
Dieses glückliche Leben im Wohnwagen ging so weiter, bis
Sophy sechzehn Jahre alt war. Um diese Zeit befielen mich
Sophy sechzehn Jahre alt war. Um diese Zeit befielen mich
Zweifel, ob ich meine volle Pflicht an ihr getan hätte und ob sie
nicht einen besseren Unterricht haben müßte, als ich ihn ihr geben
konnte. Es gab viele Tränen auf beiden Seiten, als ich anfing, ihr
diese meine Meinung auseinanderzusetzen; aber was recht ist, ist
recht, und man kann weder durch Tränen noch Lachen darum
herumkommen.
So faßte ich sie eines Tages bei der Hand und ging mit ihr zur
Taubstummenanstalt in London, und als der Gentleman kam, um
mit uns zu sprechen, sagte ich zu ihm:
»Nun will ich Ihnen mal sagen, was ich mit Ihnen machen werde,
Sir. Ich bin bloß ein Hausierer, aber in den letzten Jahren habe
ich trotzdem etwas für einen regnerischen Tag zurückgelegt. Das
hier ist meine einzige Tochter (durch Adoption), und Sie können
bestimmt kein tauberes oder stummeres Mädchen finden. Lehren
Sie sie alles, was ihr in der kürzesten Trennungszeit, die Sie mir
nennen können, beigebracht werden kann – bestimmen Sie den
Preis dafür – und ich zahle Ihnen den 17
Preis auf den Tisch. Ich werde Ihnen nicht einen einzigen Penny
davon abziehen, Sir, sondern lege Ihnen das Geld hier und jetzt
auf den Tisch und ich gebe Ihnen aus Dankbarkeit noch ein
Pfund zu. Das ist alles!«
Der Gentleman lächelte und sagte dann:
»Gut, gut. Erst muß ich aber wissen, was sie bereits gelernt hat.
Wie verständigt Ihr Euch mit ihr?«
Daraufhin zeigte ich es ihm und sie schrieb mit Druckbuchstaben
viele Bezeichnungen von Gegenständen und so weiter auf.
Außerdem hatten sie und ich eine lebhafte Unterhaltung über eine
kleine Geschichte in einem Buch, die der Gentleman ihr zeigte
und die sie zu lesen vermochte.
»Das ist ja ganz außerordentlich«, sagte der Gentleman. »Ist es
möglich, daß Ihr ihr einziger Lehrer wart?«
»Ich bin ihr einziger Lehrer gewesen, Sir«, sagte ich, »abgesehen
von ihr selbst.«
»Dann«, sagte der Gentleman, und angenehmere Worte habe ich
nie vernommen,
»seid Ihr ein gescheiter Mann und ein guter Mann.«
Das machte er Sophy verständlich, die ihm die Hände küßte, die
ihrigen zusammenschlug und dazu weinte und lachte.
Wir sprachen im ganzen viermal mit dem Gentleman, und als er
meinen Namen aufschrieb und mich fragte, woher in aller Welt
ich den Vornamen Doktor hätte, da stellte es sich heraus, daß er
der leibliche Neffe der Schwester ebendesselben Doktors war,
nach dem man mich genannt hatte. Das brachte uns einander
noch näher, und er sagte zu mir:
noch näher, und er sagte zu mir:
»Nun, Marigold, sagt mir, was soll Eure Adoptivtochter noch
mehr lernen?«
»Ich möchte, Sir, daß sie durch ihre Gebrechen so wenig wie
möglich von der Welt abgeschnitten ist, und deshalb soll sie alles
Geschriebene ganz leicht und gut lesen können.«
»Was wollt Ihr nachher mit ihr machen?« fragte der Gentleman
mit einem etwas zweifelnden Blick. »Wollt Ihr sie im Land
herumführen?«
»Im Karren, Sir, lediglich im Karren. Sie wird im Karren ein
privates Leben führen, verstehen Sie. Es würde mir niemals
einfallen, ihre Gebrechen vor das Publikum zu bringen. Kein
Geld der Welt sollte mich dazu bewegen, sie öffentlich zu
zeigen.«