Charles Dickens

Weihnachtserzählungen - 308 Seiten


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gab ich ihr DOKTOR

       MARIGOLD und heftete ein Schildchen mit der entsprechenden

       Aufschrift auf meine Weste. Die Leute, die uns begegneten,

       starrten uns zwar an und lachten, aber was machte ich mir

       daraus, wenn sie die Sache nur begriff. Sie begriff sie, nachdem

       ich viel Geduld und Mühe aufgewendet hatte, und von da an ging

       es wie geschmiert, das könnt ihr mir glauben.

       Zu Anfang war sie zwar ein wenig geneigt, mich für den Karren

       zu halten und den Karren für die königliche Residenzstadt, aber

       das war bald vorüber.

       Wir hatten auch unsere privaten Zeichen, und es waren viele

       Hunderte. Bisweilen saß sie, den Blick auf mich gerichtet, da und

       überlegte eifrig, wie sie sich über etwas Neues mit mir

       verständigen könnte – wie sie mich etwas fragen könnte, was sie

       erklärt zu haben wünschte –, und dann war sie (oder es schien

       mir zumindest so) meinem Kind, wenn es ebenso alt gewesen

       wäre wie sie, so ähnlich, daß ich halb glaubte, es sei es wirklich

       und wäre nur gekommen, um mir zu erzählen, wo es im Himmel

       gewesen wäre und was es seit jener unseligen Nacht gesehen

       hätte, nachdem es davongeflogen war. Sie hatte ein hübsches

       Gesicht, und jetzt, wo sie niemand mehr an ihrem glänzenden

       schwarzen Haar zerrte und es in Ordnung war, lag etwas

       Rührendes in ihren Blicken, das den Karren ruhig und friedlich,

       aber nicht im mindesten melancholisch machte.

       Es war wirklich zum Staunen, wie sie jeden meiner Blicke zu

       verstehen lernte.

       Wenn ich abends mit dem Verkaufen beschäftigt war, saß sie,

       vom Publikum ungesehen, im Wagen drinnen, sah mir scharf in

       die Augen, wenn ich einen Blick hineinwarf, und reichte mir dann

       ohne Zögern genau den Artikel oder die Artikel, die ich

       brauchte. Und dann klatschte sie vor Freude in die Hände und

       lachte. Und was mich angeht, so mußte ich immer daran denken,

       wie sie ausgesehen hatte, als ich ihr zum erstenmal begegnet war:

       wie sie schlafend gegen das kotige Karrenrad gelehnt

       dagesessen hatte, halb verhungert, verprügelt und in Lumpen

       gehüllt. Und sie jetzt dagegen so glücklich zu sehen, das stimmte

       mich so froh, daß mein Ruf besser denn je wurde. Aus

       Dankbarkeit aber vermachte ich Pickleson (unter dem Namen

       »Mims reisender Riese, sonst Pickleson geheißen«) in meinem

       Testament eine Fünfpfundnote.

       Dieses glückliche Leben im Wohnwagen ging so weiter, bis

       Sophy sechzehn Jahre alt war. Um diese Zeit befielen mich

       Sophy sechzehn Jahre alt war. Um diese Zeit befielen mich

       Zweifel, ob ich meine volle Pflicht an ihr getan hätte und ob sie

       nicht einen besseren Unterricht haben müßte, als ich ihn ihr geben

       konnte. Es gab viele Tränen auf beiden Seiten, als ich anfing, ihr

       diese meine Meinung auseinanderzusetzen; aber was recht ist, ist

       recht, und man kann weder durch Tränen noch Lachen darum

       herumkommen.

       So faßte ich sie eines Tages bei der Hand und ging mit ihr zur

       Taubstummenanstalt in London, und als der Gentleman kam, um

       mit uns zu sprechen, sagte ich zu ihm:

       »Nun will ich Ihnen mal sagen, was ich mit Ihnen machen werde,

       Sir. Ich bin bloß ein Hausierer, aber in den letzten Jahren habe

       ich trotzdem etwas für einen regnerischen Tag zurückgelegt. Das

       hier ist meine einzige Tochter (durch Adoption), und Sie können

       bestimmt kein tauberes oder stummeres Mädchen finden. Lehren

       Sie sie alles, was ihr in der kürzesten Trennungszeit, die Sie mir

       nennen können, beigebracht werden kann – bestimmen Sie den

       Preis dafür – und ich zahle Ihnen den 17

       Preis auf den Tisch. Ich werde Ihnen nicht einen einzigen Penny

       davon abziehen, Sir, sondern lege Ihnen das Geld hier und jetzt

       auf den Tisch und ich gebe Ihnen aus Dankbarkeit noch ein

       Pfund zu. Das ist alles!«

       Der Gentleman lächelte und sagte dann:

       »Gut, gut. Erst muß ich aber wissen, was sie bereits gelernt hat.

       Wie verständigt Ihr Euch mit ihr?«

       Daraufhin zeigte ich es ihm und sie schrieb mit Druckbuchstaben

       viele Bezeichnungen von Gegenständen und so weiter auf.

       Außerdem hatten sie und ich eine lebhafte Unterhaltung über eine

       kleine Geschichte in einem Buch, die der Gentleman ihr zeigte

       und die sie zu lesen vermochte.

       »Das ist ja ganz außerordentlich«, sagte der Gentleman. »Ist es

       möglich, daß Ihr ihr einziger Lehrer wart?«

       »Ich bin ihr einziger Lehrer gewesen, Sir«, sagte ich, »abgesehen

       von ihr selbst.«

       »Dann«, sagte der Gentleman, und angenehmere Worte habe ich

       nie vernommen,

       »seid Ihr ein gescheiter Mann und ein guter Mann.«

       Das machte er Sophy verständlich, die ihm die Hände küßte, die

       ihrigen zusammenschlug und dazu weinte und lachte.

       Wir sprachen im ganzen viermal mit dem Gentleman, und als er

       meinen Namen aufschrieb und mich fragte, woher in aller Welt

       ich den Vornamen Doktor hätte, da stellte es sich heraus, daß er

       der leibliche Neffe der Schwester ebendesselben Doktors war,

       nach dem man mich genannt hatte. Das brachte uns einander

       noch näher, und er sagte zu mir:

       noch näher, und er sagte zu mir:

       »Nun, Marigold, sagt mir, was soll Eure Adoptivtochter noch

       mehr lernen?«

       »Ich möchte, Sir, daß sie durch ihre Gebrechen so wenig wie

       möglich von der Welt abgeschnitten ist, und deshalb soll sie alles

       Geschriebene ganz leicht und gut lesen können.«

       »Was wollt Ihr nachher mit ihr machen?« fragte der Gentleman

       mit einem etwas zweifelnden Blick. »Wollt Ihr sie im Land

       herumführen?«

       »Im Karren, Sir, lediglich im Karren. Sie wird im Karren ein

       privates Leben führen, verstehen Sie. Es würde mir niemals

       einfallen, ihre Gebrechen vor das Publikum zu bringen. Kein

       Geld der Welt sollte mich dazu bewegen, sie öffentlich zu

       zeigen.«