in dieser
selben Stadt Lancaster, in der ich mich erst zwei Abende lang
aufhielt, diesen selben Fremden zweimal in der Nähe meiner
Wagen beobachtet hatte.
Das versetzte mich in Unruhe. Was es im einzelnen zu bedeuten
hatte, das ahnte ich ebensowenig, wie ihr es jetzt ahnen könnt,
aber es machte mir Sorgen. Trotzdem tat ich Pickleson
gegenüber so, als wäre die Sache nicht ernst zu nehmen, und ich
verabschiedete mich von ihm mit dem Rat, sein Vermächtnis zur
Kräftigung seiner Gesundheit zu verwenden und sich seine
Religion nach wie vor nicht nehmen zu lassen. Gegen Morgen
hielt ich nach dem Fremden Ausschau, und – was mehr war –
ich sah ihn. Er war ein gutgekleideter, hübscher junger Mensch.
Er ging ganz nahe bei meinen Wagen hin und her, so als ob er sie
bewachte, und kurz nachdem es Tag geworden war, drehte er
sich um und ging davon. Ich rief hinter ihm her, aber er fuhr
weder zusammen noch drehte er sich um und nahm auch nicht
die geringste Notiz davon.
Etwa ein oder zwei Stunden später verließen wir Lancaster, um
nach Carlisle zu fahren. Am nächsten Morgen gegen
Tagesanbruch hielt ich wieder nach dem fremden jungen Mann
Ausschau. Ich bekam ihn nicht zu sehen. Aber am folgenden
Morgen 24
paßte ich abermals auf, und diesmal war er wieder da. Ich rief
wiederum hinter ihm her, aber, wie das erstemal, gab er nicht das
geringste Zeichen, daß er irgendwie betroffen war. Das brachte
mich auf einen Gedanken. Ich folgte meinem Einfall und
beobachtete ihn in verschiedener Weise und zu verschiedenen
Zeiten – die Einzelheiten tun nichts zur Sache –, bis ich
herausfand, daß dieser fremde junge Mann taubstumm war.
Diese Entdeckung brachte mich ganz aus dem Häuschen. Ich
wußte, daß in einem Teil der Anstalt, wo sie gewesen war, junge
Männer untergebracht waren (einige darunter in guten
Verhältnissen), und ich dachte mir: »Wenn sie ihn vorzieht, wo
bleibe dann ich? Und wo bleibt alles, wofür ich Pläne gemacht
und gearbeitet habe?«
In der Hoffnung – ich muß gestehen, daß ich so selbstsüchtig war
–, daß sie ihn nicht vorzöge, machte ich mich daran, die
Wahrheit herauszufinden. Schließlich wurde ich zufällig Zeuge
einer Zusammenkunft zwischen ihnen. Es war im Freien, und ich
stand hinter einer Fichte verborgen, ohne daß sie von meiner
Anwesenheit etwas ahnten. Es war ein rührendes
Zusammentreffen für uns alle drei. Ich verstand jede Silbe, die
zwischen ihnen gewechselt wurde, ebensogut wie sie selbst. Ich
belauschte sie mit meinen Augen, die es gelernt hatten, eine
Taubstummenunterhaltung ebenso rasch und sicher aufzufassen,
wie meine Ohren gesprochene Worte verstanden. Er war im
Begriff, als kaufmännischer Angestellter nach China zu gehen zu
Begriff, als kaufmännischer Angestellter nach China zu gehen zu
einer Firma, wo früher sein Vater beschäftigt gewesen war. Sein
Einkommen erlaubte es ihm, eine Frau zu ernähren, und er
wollte, daß sie ihn heiraten und mit ihm gehen sollte. Sie sagte
hartnäckig nein. Er fragte sie, ob sie ihn nicht liebe. Doch, sie
liebe ihn von ganzem Herzen, aber sie könnte niemals ihrem
geliebten, guten, edlen, großmütigen und ich weiß nicht was noch
alles Vater (damit meinte sie mich, den fahrenden Hausierer in
der Ärmelweste) die Enttäuschung bereiten, ihn zu verlassen, und
sie wolle bei ihm bleiben, der Himmel segne ihn!, und wenn ihr
das Herz darüber bräche.
Hier fing sie bitterlich zu weinen an, und damit war mein
Entschluß gefaßt.
Solange ich mir über ihre Gefühle zu diesem jungen Mann im
unklaren gewesen war, hatte ich eine so unvernünftige Wut auf
Pickleson gehabt, daß es gut für ihn war, sein Vermächtnis gleich
ausgezahlt gekriegt zu haben. Denn ich hatte oft gedacht:
»Wenn dieser schwachköpfige Riese nicht gewesen wäre, so
wäre es vielleicht nie dazu gekommen, daß ich mir wegen dieses
jungen Mannes den Kopf zerbreche und die Seele aus dem Leib
ärgere.« Aber, sobald ich einmal wußte, daß sie ihn liebte –
sobald ich gesehen hatte, wie sie Tränen um ihn vergoß – da war
es eine ganz andere Sache. Ich bat Pickleson auf der Stelle im
Geiste alles ab, und nahm mich zusammen, um allen gegenüber
Geiste alles ab, und nahm mich zusammen, um allen gegenüber
das Rechte zu tun.
Inzwischen hatte sie den jungen Mann verlassen (denn es dauerte
einige Minuten, bevor ich mich gänzlich zusammengenommen
hatte), und er stand gegen eine andere Fichte gelehnt und hatte
das Gesicht auf den Arm gepreßt. Ich berührte ihn am Rücken.
Er blickte auf, und als er mich wahrnahm, sagte er in der
Taubstummensprache: »Seid nicht böse.«
»Ich bin nicht böse, guter Junge. Ich bin Euer Freund. Kommt
mit mir.«
Ich ließ ihn an den Stufen des Bibliothekswagens stehen und ging
allein hinauf. Sie wischte sich die Augen.
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»Du hast geweint, mein Kind.«
»Ja, Vater.«
»Weshalb?«
»Mir tut der Kopf weh.«
»Nicht das Herz?«
»Ich sagte der Kopf, Vater.«
»Doktor Marigold muß für diesen Kopfschmerz ein Rezept
ausstellen.«
Sie nahm das Buch mit meinen »Rezepten« auf und hielt es mit
einem gezwungenen Lächeln in die Höhe. Da sie mich aber so
ernst und ruhig sah, legte sie es sacht wieder hin, und ihre Augen
blickten mich mit größter Aufmerksamkeit an.
»Das Rezept ist nicht da drin, Sophy.«
»Wo ist es denn?«
»Hier, mein Kind.«
Ich führte ihren jungen Gatten herein, und ich legte ihre Hand in
die seine, und die einzigen Worte, die ich noch an die beiden
richten konnte, lauteten: