Kate Rapp

Keine Heilige


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geheult. Danach waren sie sehr lieb zu mir. Nie wieder ein Wort davon.“

      „Nie wieder?“

      „Nur diese Blicke von Fremden und neuen Bekannten. Du weißt schon.“

      „Keiner hat dich darauf angesprochen?“

      „Du musst sie nur furchteinflößend genug ansehen. Oder mit einem Hauch von Wahnsinn. Dann wagen sie es nicht.“

      „Und, wie war sie denn so? Ich meine Uromi.“

      „Eine Großmutter eben. Etwas verknöchert, als ich sie kennenlernte. Sie war furchtbar bieder, eine Perlenkette trug sie nur zu besonderen Anlässen. Sie hatte ständig irgendein Kreuzworträtsel auf den Knien, das sie in kürzester Zeit gelöst hatte. Schrecklich prüde Ausstrahlung, aber ein feiner Sinn für Humor, daran erinnere ich mich. Und etwas Verschlagenes im Blick. Oft lächelte sie irgendwie ironisch vor sich hin. Würde mich nicht wundern, wenn sie im Krieg in Bletchley Park gearbeitet hätte.“

      „Da wäre sie fast sechzig gewesen!“

      „Du klingst, als sei man mit sechzig scheintot. Findest du, dass ich sehr alt aussehe?“

      Jess musterte ihre Mutter. Sie war eine zweiundsechzigjährige lebhafte Früh-Rentnerin in verwaschenen Jeans. Am liebsten trug sie Turnschuhe (die sind so bequem!), weil sie sie jünger wirken ließen. Und sie verabscheute Perlen. Ihr kinnlanges Haar hatte die Farbe von Lärchenholz, das langsam verwitterte.

      „Nein, Mum, natürlich nicht. Du siehst toll aus. Und Uroma war also schwierig?“

      „Dein Großvater war ihr einziger Sohn. Sie war nicht mehr die Jüngste, als sie ihn bekam. Ziemlich blaustrümpfig. Ein Wunder, dass sie überhaupt geheiratet hat. Ich denke, das hat sie manchmal sogar selbst überrascht. Warum interessierst du dich denn jetzt auf einmal so für sie?“

      „Ich werde wieder häufiger auf sie angesprochen. Dieser neue Miss Marple Block-Buster, du weißt schon. Und ich kann mich gar nicht an sie erinnern.“

      „Sie saß dort, in dem Sessel da drüben, und hatte dich im Arm. Sie sah dir in die Augen und sagte: Mit der werdet ihr was erleben. Die hat den Schalk in ihrem Blick.

      „Schade, dass ich sie nie kennenlernen konnte.“

      „Tja. Drei Monate später kam der Schlaganfall. Ich meine, einundneunzig! Eine Gnade, wenn du mich fragst. Als sabbernde Greisin hätte diese kluge Frau nur gelitten.“

      „Gibt es denn nichts, was du mir noch über sie erzählen kannst?“

      „Nun, sie war immer sehr zugeknöpft. Allerdings änderte sich das im hohen Alter ein wenig. Du weißt, dass wir hier nach Surrey gezogen sind, um in ihrer Nähe zu sein, als ihr Sohn starb. Ihr Mann war schon lange tot und sie hatte nur noch deinen Vater. Natürlich war sie eine äußerst selbstständige Person. Lehnte jede Hilfe ab, als handele es sich um einen unschicklichen Antrag. Aber am Wochenende kam sie gerne zum Essen, saß in dem Sessel und nickte ein wenig ein. Wenn sie aufwachte, war sie häufig in einer melancholischen Stimmung. Dann erzählte sie auch das ein oder andere aus ihrem Leben.“

      „Jetzt spann mich doch nicht auf die Folter. Sag schon.“

      „Ich weiß nicht recht, ich habe es mir nur grob gemerkt. Klang alles so unspektakulär. Ich meine, sie ist noch tief im neunzehnten Jahrhundert geboren worden, 1885, wenn ich mich nicht irre. Späte Heirat, wie gesagt, und ihren Sohn bekam sie dann mit achtunddreißig. In dem Alter war meine Mutter beinahe schon wieder Großmutter. Später hatte sie dann wohl eine Fehlgeburt, das deutete sie natürlich nur an. Blutverlust und so weiter.“

      „Schon klar. Ich arbeite auf der Gynäkologischen, wie du wissen solltest.“

      „Ist ja gut. Sie war wohl ziemlich geschwächt und verbrachte ein paar Wochen in einem Kurhotel in Yorkshire, weit ab von der Familie. Als dann Jahrzehnte später dein Vater zur Welt kam, vier Jahre nach dem Krieg, angeblich ein äußerst anämisches Würmchen, wurde sie eine hingebungsvolle Oma. Was sie sich nicht alles hat einfallen lassen, wenn ihr einziger Enkel zu Besuch war. Davon konnte dein Vater stundenlang schwärmen, erinnerst du dich?“

      „Die Kinderrätsel und später die Schnitzeljagden, die sie für ihn veranstaltet hat? Ja, davon hat er erzählt.“

      „Sie hat das gemacht, bis sie hoch in ihren Siebzigern war. Aufgehört hat sie erst, als es dein Vater mit fünfzehn irgendwann uncool fand. Da war sie neunundsiebzig.“

      „Und ihr habt sowas dann auch an meinen Geburtstagen durchgezogen. Mit Geheimnachrichten und Knochenrätseln und so weiter.“ Sie sah ihre Mutter liebevoll an. „Ihr wart gute Eltern.“

      „Und all das lange vor GPS-Schatzsuche und Escape-Games.“

      „Und sonst? Fällt dir noch irgendetwas ein?“

      „Naja, über den Krieg hat sie sich nie sehr ausführlich ausgelassen. Ich dachte immer, es lag daran, dass ihr Mann verschollen ist. Aber ich denke, sie hat womöglich bei der Spionageabwehr oder der Codeentschlüsselung oder etwas anderem, sehr Geheimnisvollen mitgearbeitet. Ihre Lippen waren versiegelt, auch was den Tod ihres Mannes betraf.“

      „Du meinst, er war selber Spion?“

      „Was weiß ich. Womöglich bin ich nur fantasiebegabt. Aber es ist doch erstaunlich, dass sie nie über seinen Tod sprach und es auch kein Grab gibt, an das sie gehen konnte.“

      „Und du hast es einfach auf sich beruhen lassen?“

      „Deine Urgroßmutter war keine Frau, die ihr Herz auf der Zunge trug, wirklich nicht. Unter Folter hätten sie nichts aus ihr herausbekommen, was sie nicht preisgeben wollte. Und sie war meine Schwieger-Oma. Ich war zuständig für das Sonntagessen, kräftigen Tee und Scones. Dein Vater war ihr Vertrauter. Auch deshalb war sie jemand, mit dem ich es mir nicht verderben wollte.“

      „Du hast sie also nie ausgequetscht.“

      „Es gab keinen Grund und keinen Hinweis auf irgendwelche skandalösen Tatsachen. Ich verstehe ehrlich gesagt auch nicht, warum du das ausgerechnet jetzt alles wissen willst. Bletchley Park hatte seinerzeit doppelt so viele Mitarbeiter wie der MI5 heutzutage. Jede zweite Hausfrau in der Umgebung wurde für den Landsitz rekrutiert.“

      „Sie werden geschmunzelt haben, als sie eine Code-Knackerin namens Mrs. Marple einstellten. Das ging bestimmt schon damals los. Schließlich hatte die literarische Miss Marple bis Kriegsende bereits drei Mordfälle gelöst.“

      „Deine Urgroßmutter hat in der Zeit sicherlich zehnmal so viele Codes geknackt, möchte ich wetten. Allerdings haben dort nicht alle Rätsel gelöst. Als Tippsen, Köchinnen, Zugehfrauen arbeiteten die meisten der Frauen. Also nichts Besonderes.“

      „Wenn du das sagst.“

      „Das sind doch alles nur Vermutungen. Keine Ahnung. Vielleicht hat deine Uromi im Krieg auch nichts anderes getan, als Kohle zu horten und zitternd in ihrer Verdunkelung zu sitzen, verzweifelt, weil sie ohne Licht nicht stricken konnte. Was weiß denn ich.“

      „Okay, okay. Ich werde einfach mal nachsehen, ob ich irgendwas von ihren Sachen finden kann. Keller und Dachboden sagtest du?“

      Ein alter Karton, an einer Seite leicht eingedrückt, im Keller auf dem Regal neben der Werkzeugbank. Trocken und sauber und eindeutig alt. Jess zog ihn hastig hervor und öffnete den Deckel. Es waren ihre eigenen Augen, die Jess aus dem oberen Schwarz-Weiß-Foto entgegenblickten. Die gleichen schweren Lider über den etwas hervorstehenden Augäpfeln.

      „Wir sollten deine Schilddrüse untersuchen lassen“, hatte ihre Mutter eines morgens am Frühstückstisch gesagt, als sie etwa vierzehn war und allmählich diesen schweren Blick entwickelte.

      „Unsinn“, hatte sich ihr Vater eingemischt und kurz von seinem Sportteil aufgesehen. „Wir Marples hatten noch nie was an den Schilddrüsen. Wir sehen nur so aus.“

      Jess lächelte wehmütig. Sie vermisste ihn. Dieser ganzen Wirbel