Kate Rapp

Keine Heilige


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erinnerst du dich?“

      „Nein. Nein, natürlich nicht. Scheiß auf die Restaurants. Ich meine damit, dass ich keine Eltern habe, weil ich sie vergessen habe. Ich habe einfach alles vergessen. Ich erinnere mich an niemanden mehr, an keine Menschenseele. Dadurch habe ich sie alle verloren. Wer kommt mir zu Hilfe? Wer kümmert sich um mich? Wer liebt mich?“

      Sie hatte zuletzt nur geflüstert und den Blick zu Boden gerichtet. Es klang nicht melodramatisch, nicht selbstmitleidig. Es war die nüchterne Feststellung einer bitteren Erkenntnis. Sie war allein, vollkommen allein, weil sie alle Menschen und ihre Beziehungen zu ihnen vergessen hatte. Selbst wenn ihre Mutter, ihr Vater oder ihr Freund durch diese Tür treten und sie umarmen würden, wären sie Fremde für sie. Vollkommen Unbekannte. Konnte es einen einsameren Menschen geben?

      Diana fühlte, wie das Mitleid ihr den Hals zuschnürte.

      „Das Einzige, was bleibt, ist, mit dem vorlieb zu nehmen, was sich gerade anbietet. Neue Freundschaften zu knüpfen. Zum Beispiel mit einer vom Krebs zerfressenen, alten Schachtel. Du bist noch da. Und ich bin da. Das ist doch schon ein Anfang, oder nicht?“

      Sie nickte und lächelte und ließ sich umarmen, das Kinn auf Dianas Schulter. Diana spürte ihren schnellen Herzschlag an ihre Brustwand klopfen, wie den eines knochigen, kleine Vögelchens, das Einlass begehrte. Sie schloss die Augen und ließ es hinein.

      10

      Die grüne Landschaft von Surrey glitt an ihr vorbei wie ein ruhiger Dokumentarfilm. Schwere Wolken über hellem Horizont, ein wirklich stimmungsvolles Ansichtskartenmotiv. Der Zug schwebte, ratterte nicht, und hatte Vincent bereits in einen unruhigen Schlaf gewiegt. Jess selbst konnte kaum die Augen offenhalten. Sie machten einen Ausflug zu ihrer Mutter. Selten genug, hatte sie sich gesagt und den wahren Grund vor sich selbst verleugnet: Neugier. Sie hatte es satt, immer wieder auf die fiktive Miss Marple angesprochen zu werden und nichts über die reale Mrs. Marple (ihre Urgroßmutter, und sie war auch verheiratet gewesen) zu wissen. Sie wollte endlich ein wenig mehr über sie erfahren. Vom Jahrgang her tatsächlich eine Zeitgenossin Agatha Christies, etwa fünf Jahre älter. Jess wollte herausfinden, ob es da womöglich noch mehr Parallelen gab. Schließlich hatte sie sich lange genug das Gezischel und Geratsche angehört. Der Inspector hatte mit seinem Getue nur das Fass zum Überlaufen gebracht. Es war Zeit, den Dingen auf den Grund zu gehen und alle Gerüchte aus der Welt zu schaffen. In Jessicas Kindheit war der Familienname Marple nie ein Thema gewesen. Vielleicht hatte es sie auch einfach nicht interessiert. Die Krimis von Agatha Christie gehörten natürlich nicht zu Jessicas Jungmädchenlektüre der achtziger Jahre und waren auch noch zehn Jahre später hoffnungslos altmodisch. Unmodern und altbacken. Nur die ausländischen Touristen sahen sich in ungebrochener Nostalgie Jahrein Jahraus Agatha Christies Theaterstück Die Mausefalle im St. Martin`s Theatre im Westend an. Jess hingegen verbrachte eine unbeeinträchtigte, Miss-Marple-freie Kindheit und Jugend und wuchs in vollkommener Ahnungslosigkeit auf. Unglücklicherweise hatte die Jahrtausendwende gleichzeitig eine Trendwende in Sachen Miss Marple gebracht. Agatha Christies Bücher wurden nun mit neonfarbenen Covern in schmissigen, neuen Übersetzungen stapelweise wiederaufgelegt. Es gab eine neue Fernsehserie, die die Plantschkuh Margaret Rutherford als Betrügerin enttarnte. Als Jess sich im fortgeschrittenen Alter von fünfundzwanzig (hochschwanger, mit Riesenbrüsten und Elefantenfüßen) überwand und ihre erste Geschichte mit Miss Marple las, stellte sie erstaunt fest, dass die Autorin ihre neugierige Namensvetterin zart, freundlich und intelligent gezeichnet hatte und nicht fett, impertinent und peinlich witzig. Den Vogel hatte dann allerdings dieser neue Kinofilm abgeschossen. Helena Bonham-Carter als Miss Marple auf Weltrettungsmission. Sie machte Karate und benutzte ihre Stricknadeln wie japanische Mordinstrumente. In den postmodernen Grautönen der Schweden-Krimis (nicht in den optimistischen Primärfarben der BBC) lieferte sie sich chaotische Verfolgungsjagden in ihrem alten Jaguar oder einem entführten Zeppelin. Dabei trug sie umwerfende Hosenanzüge und türkisfarbene lange Wildlederhandschuhe. Und natürlich die unvermeidliche Perlenkette, die sie nicht einmal zum Schlafen ablegte (Perlen sind wie Babys, sie brauchen menschlichen Hautkontakt). Plötzlich war Miss Marple wieder modern und in aller Munde. Voll angesagt. In. Sie war von der alten Jungfer zur modernen Marvel-Heldin mutiert und ihren Namen kannte plötzlich jedes Kind. Er tauchte an vorüberfahrenden Bussen in London auf, auf Litfaßsäulen und Taxis. Es war beängstigend. Vincent hatte sich die DVD gewünscht und seine Freunde zeigten sich angemessen beeindruckt von der Namensgleichheit. (Mann, cool Alter, hast du die Mordnadel geerbt?) Und es ging los mit den Bemerkungen. Früher hatten sie sich vielleicht nicht getraut, wollten nicht zugeben, dass sie Miss Marple kannten und keiner hatte auf einer Party auch nur gezuckt, wenn Jess sich mit ihrem Nachnamen vorstellte. Nun verging kaum ein Tag, an dem sie nicht ein wissendes Lächeln im Mundwinkel ihres Gegenübers entdeckte. Einen plötzlich aufmerksamen Blick, ein verstecktes Mustern. Und immer wieder die Bemerkungen. Die Anspielungen. Die Witze.

      „Wie hältst du das nur aus“, hatte Andy eines Abends gesagt, als er Vincent vom Unterricht abgeholt hatte.

      „Heute hat mich eine seiner Lehrerinnen mit Mister Marple angesprochen und neckisch gezwinkert.“

      „Sei froh, dass sie wenigstens mit dir flirtet. Über mich machen sie sich lustig. Kluger Blaustrumpf, Nervensäge. Das alles steht in ihren taxierenden Blicken.“

      „Kluger Blaustrumpf? Nie im Leben. Aber bei Nervensäge, da würde ich schon mitgehen“, sagte Andy und grinste. „Manchmal.“

      Dann küsste er sie auf die Nasenspitze. Das war Monate her. Die Küsse waren seltener geworden, die Bemerkungen nicht.

      Andy war dieses Wochenende wieder einmal angeln (an welchem Wochenende tat er das nicht?). Zudem hasste er ihre Mutter, was auf unverhohlener Gegenseitigkeit beruhte. Seit ihrer Hochzeit hatte er nie wieder einen Fuß ins Haus ihrer Eltern gesetzt. Das hatte einen oberflächlich fragilen Familienfrieden gewährleistet. Die Gründe waren Jess niemals ganz klargeworden, Andy weigerte sich, darüber zu sprechen. Ihre Mutter ebenso. Sie beteuerte sogar, sie würde ihn vermissen. Auf eine unglaubwürdig theatralische Weise, die Vincent zum Augenrollen brachte.

      „Hast du nicht irgendwo noch eine Kiste mit Uromas alten Sachen?“, fragte Jessica, kaum hatte sie mit ihrer Mutter die erste Tasse Tee getrunken. Sie war noch nie gut im Small –Talk und wollte vermeiden, dass ihre Mutter nach Andy fragte. Das tat sie nicht.

      „Oma, darf ich die Kaninchen rauslassen?“, fragte Vincent vom Wohnzimmerteppich aus, wo er auf dem Bauch lag und in einer Fernsehzeitschrift blätterte.

      „Was interessierst du dich plötzlich für das verstaubte Gerümpel?“

      „Die Kaninchen! Darf ich?““

      „Keine Ahnung, wo die Sachen sind, dein Vater konnte einfach nichts wegwerfen. Geh einfach raus, sie sind im Gehege.“

      „Im Gehege?“, fragte Jess verblüfft.

      „Die Kaninchen sind im Gehege.“

      „Geht klar“, meinte Vincent, sprang auf die Füße und trollte sich in den Garten.

      „Ich verstehe zwar nicht, was der ganze Umstand soll, Jessica. Aber vielleicht findest du etwas von Janets Papieren auf dem Dachboden. Oder im Keller, unter einem Bett, was weiß ich.“

      „Hat er dich denn nie genervt, der Name, den du geheiratet hast?“

      „Natürlich hat er das! Es war grauenvoll. Ich meine, wir heirateten 1974. Meine gesamte Jugend über wurde ich mit Margaret Rutherford gequält. Diese Frau! Sie hat später sogar einen Oscar gewonnen, kaum zu glauben!“

      Noch nie war Jess so uneingeschränkt derselben Meinung wie ihre Mutter gewesen.

      „Wie bist du damit umgegangen?“

      „Man gewöhnt sich dran“, sagte ihre Mutter und schnaubte wie eine unwillige Stute. „Aber auch meine Freundinnen konnten es anfangs nicht lassen, mich aufzuziehen.“

      „War es sehr schlimm?“

      „Schlimm? Ich habe