Kate Rapp

Keine Heilige


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Opfers, trieben die Spekulationen die wildesten Blüten. Die einen meinten, sie sei die reiche Erbin eines russischen Ölmagnaten, von der Russenmafia entführt, um ihren Vater zu erpressen. Als er nicht zahlen wollte (sie sind eben grausam, diese Russen), wurde sie auf diese Weise zugerichtet und zum Sterben in die Gasse geworfen. Andere sahen in ihr eine Prinzessin aus dem Morgenland oder wenigstens eine Diplomatentochter, wegen ihrer leicht Mandelförmigen Augen und dem rabenschwarzen Haar. Sie schoben ihren Akzent auf ein osteuropäisches Kindermädchen, das sie quasi allein aufgezogen hatte, da die Eltern zu reich oder zu umtriebig waren, um sich selbst um ihre Brut zu kümmern (arabischer Feudalismus in seiner modernsten Form). Wieder andere sahen in ihr eine geheimnisvolle, aber gefährliche osteuropäische Spionin. Das waren die Mata-Hari-Geschichten. Sie klangen am spannendsten, waren aber am allerunwahrscheinlichsten, fand Jess.

      Geeinigt hatte man sich Blätter-übergreifend auf den Namen heilige Agathe. Denn es gab da diese berühmte Heilige aus Catania, eine junge Frau aus guter Familie, der ein lüsterner Statthalter namens Quintinianus im Jahr 250 die Brüste abschlagen ließ, als sie sich weigerte, ihn zu heiraten. Zuvor hatte er sie zur Strafe in ein Bordell werfen lassen. Doch auch die regelmäßigen Vergewaltigungen konnten sie nicht umstimmen. Sie starb jedoch nicht an ihrer grausamen Verstümmelung, denn der heilige Petrus erschien ihr des Nachts und pflegte ihre Wunden. Helfen tat ihr das letztendlich aber auch nicht. Der verschmähte Wüterich ließ die Genesene auf spitze Scherben und glühende Kohlen legen, bis sie starb.

      Jess musterte angewidert die Abbildungen in den Zeitungen. Berühmte Gemälde zeigten eine schöne Frau mit einem Silbertablett in der Hand. Darauf lagen, wie zwei kleine Törtchen, ihre abgeschnittenen Brüste. Warzen gen Himmel. Manchmal lagen die Brüste auch auf einem Buch, das Agathe vor sich hertrug. Und eines der Gemälde zeigte einen Folterknecht in Aktion, wie er mit einem Eisenhaken die Brust der an eine Säule geketteten Agathe abriss. Meistens waren diese Bilder in Kirchen zu sehen. Wenn das nicht makaber war. Jess wunderte sich über diese sadistischen, lustvoll-präzisen Darstellungen. Es kam ihr vor wie religiöse Pornografie, diese Vermischung von Nacktheit und Qual, von Abscheu und Faszination gegenüber einer frauenverachtenden Folter. Im vierzehnten Jahrhundert wurden solche Martyrien in Frankreich zur Unterhaltung oder Läuterung des Publikums sogar auf der Bühne nachgespielt. Jess hatte eine Gänsehaut, als sie den Artikel am Ende ihrer Frühstückspause zur Seite legte.

      Sie klopfte kurz und ging dann in das Zweibettzimmer hinein. Dr. M, die die Rolle des heiligen Petrus übernommen hatte und täglich mehrmals auf die Wunden ihrer Patientin schaute, hatte veranlasst, sie aus dem Wachzimmer in ein normales Zweibettzimmer zu schieben. Die Monitore wurden für andere frisch Operierte benötigt und sie war der Ansicht, dass ein wenig Ansprache der verwirrten jungen Frau guttun würde. Ihre Wahl (und sie hatte es sich gewiss ganz genau überlegt) war auf Diana Ashley gefallen. Auch eine Brustpatientin. Sie hatte ihre Brüste (beide!) an den Krebs verloren, war gerade an einem Rezidiv operiert worden und befand sich bereits auf dem Weg der Besserung. Sie lief jeden Tag den Stationsflur hinauf und hinunter, die beiden Beutel der Drainageschläuche vor sich hertragend wie zwei kleine Ausgehtäschchen. Sie schien sich wahnsinnig zu langweilen und hielt Jess mit ihren Fragen häufig von der Arbeit ab. Sie war nett, interessiert, unglaublich empathisch („Sie Arme, wahrscheinlich haben Sie jeden Abend grässliche Rückenschmerzen, bei Ihrem anstrengenden Job!“), aber auf diese betuliche Art hinderlich, die man niemandem so recht vorwerfen konnte. Sie hatte „die heilige Agathe“ sofort adoptiert (so wie sie sich eines streunenden Hundes oder eines beinahe ertränkten Kätzchens angenommen hätte) und bemühte sich rührend um sie.

      „Kein Wort an die Presse?“, hatte sie gefragt. „Keine Sorge, ich weiß, was es heißt, ein Geheimnis zu bewahren.“

      „Wie geht es ihr heute?“, flüsterte Jess wie eine Verschwörerin Diana Ashley zu. Die junge Frau schlief noch, sie hatte die Decke über den Kopf gezogen.

      „Sie hatte wieder Alpträume. Hat geschrien und so. Ich habe stundenlang ihre Hand gehalten.“

      „Das haben Sie getan? Warum haben Sie nicht die Nachtschwester gerufen? Sie hätte ihr ein Beruhigungsmittel spritzen können.“

      „Ach was. Ich halte nichts von diesen Chemiekeulen. Trost und menschliche Wärme, das ist es, was sie braucht. Keine Sedativa oder Neuroleptika oder all das Zeug.“

      Ein zärtliches Lächeln breitete sich auf ihrem rundlichen Gesicht aus. Sie trug die Haare sehr kurz. Sie waren ihr infolge einer Chemotherapie („Die dritte, ist das zu glauben!“) ausgefallen und wuchsen nun grau aber so weich und dicht wieder nach, wie bei einem Robbenbaby. Diana Ashley kontrastierte das mit einem leichten Make-Up, welches sie gepflegt und lebendig wirken ließ. Sie betrachtete ihre eingerollte Zimmernachbarin mitfühlend durch ihre dunkle Hornbrille.

      „Das arme Kind. Wie alt mag sie sein. Neunzehn oder zwanzig?“

      „Ich glaube, das wüssten alle nur zu gerne. Zu allererst die Polizei.“

      „Und die Journalisten.“

      Diana Ashley seufzte.

      „Sie wird es nicht leicht haben. Glauben Sie, dass sie das Schlimmste bereits überstanden hat?“

      „Was die Wundheilung angeht, ja. Die transplantierte Haut wächst gut an, es gibt keine Nekrosen. Aber wir kennen ihre Geschichte nicht. Wer weiß schon, was mit ihr passiert, wenn sie die Klinik verlässt?“

      Mrs. Ashley nickte versonnen.

      Die Bettdecke bewegte sich und die junge Frau lugte vorsichtig darunter hervor.

      „Guten Morgen! Geht es Ihnen heute besser?“

      Jess näherte sich ruhig ihrer verstörten Patientin. Sah sich die Verbände an (Dr. M würde sie heute noch eigenhändig wechseln. Später.) und nahm Puls und Temperatur. Die Patientin versuchte ein zaghaftes Lächeln. Sie sah zwischen all den durchsichtigen Infusionsschläuchen, die ihr rechts und links aus den Armen und sogar im Bündel aus dem Hals kamen aus wie ein exotischer Nachtfalter, der sich in einem Spinnennetz verfangen hatte.

      „Ja, danke Schwester. Und danke, Diana“, sie wandte sich an ihre Zimmernachbarin. „Ich habe zwar mein Gedächtnis verloren, aber ich habe nicht vergessen, dass du mir nachts die Hand hältst.“

      Diana Ashley stieg eine leichte Röte an den Hals.

      „Du weckst mich ständig mit deinen Alpträumen. Wenn ich dich beruhigen kann, habe ich selbst eine ruhigere Nacht. Purer Eigennutz.“

      Sie sagte das obenhin, beinahe schnippisch, aber der weiche Ausdruck in ihren Augen strafte ihre Worte Lügen. Jess erkannte das dahinterstehende Gefühl. Es glich der Enge in ihrem Herzen, wenn sie Vincent beim Schlafen zusah, kurz bevor sie ihn morgens wecken musste. Dem Übermut, wenn er ihr früher beim Abholen entgegensah und seine Augen leuchteten, sein Gesicht strahlte, sobald er sie entdeckte hatte (was in letzter Zeit kaum noch der Fall war). Es war die Art mütterlicher Liebe, die jedes Kind, jeder Mensch verdient hatte. Die Art Liebe, die aus Kindern gute Menschen machte, so hoffte sie. Eine ganz andere Art der Liebe hatte sie früher auch Andy gegenüber empfunden. Nicht mütterlich, das nicht. Aber es war auch nie eine Amour fou gewesen, eher wohlige Vertrautheit. Wo war sie nur geblieben?

      Jess war sich nicht sicher, was passiert war oder was gerade passierte.

      Aber das dumpfe Gefühl, dass es so nicht weitergehen könne, hatte sie in den letzten Wochen nicht mehr losgelassen. Sie war sich sicher, ihre Ehe steuerte auf eine Katastrophe zu. Klimawandel im Ehebett. Andy sprach nur noch selten mehr als einen Satz beim Aufstehen mit ihr und schaltete den Fernseher nicht aus, wenn sie nach dem Spätdienst abends heimkehrte. Suchte er nach Worten der Zärtlichkeit, fand er stets nur `ja mein Schatz´, was er floskelhaft wiederholte. Weitere Kosenamen waren ihm irgendwie abhandengekommen. Ihre eigene Sprachlosigkeit aber machte ihr viel mehr zu schaffen als die seine. Denn obgleich sie sich alle Mühe gab, sie zu ändern, es fiel ihr einfach nichts ein, was sie ihm erzählen konnte, ohne ihn zu langweilen. Um diese Leere zu füllen, hatte er eines Abends unvermittelt einen kleinen Topf Rosen mit nach Hause gebracht. Keiner von ihnen hatte daran gedacht, sie zu gießen. Irgendwann hatte Jess sie vollkommen vertrocknet auf der Fensterbank