Kate Rapp

Keine Heilige


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hätte ihn wohl eingezogen.

      6

      An diesem Morgen wurde es nur langsam hell. Der Tag stand bleich und zitternd vor den Fenstern, ein unschlüssiges Milchmädchen. Doch schließlich leerte es schwungvoll seinen Krug und weißes Sonnenlicht ergoss sich wie Milch über den Tower, Big Ben, Buckingham Palace und London Eye, schwappte über das restliche, allmählich erwachende, sich rekelnde London, lief über die Fensterbänke und tropfte in die Leben der Menschen.

      Wolfe grunzte und erwachte.

      Er lag auf dem Rücken, das Leintuch um die Hüften gewickelt, den Körper mit Gänsehaut überzogen. Ächzend wälzte er sich aus dem Bett, fiel zu Boden, fluchte. Die Haare standen ihm zu Berge (woher nur hatten sie, verdammt noch mal, die Kraft dazu?), er fuhr kurz mit den Fingern hindurch und schlurfte ins Bad. Im Radio Wortfetzen, falsche Melodien, Werbejingles. Vor dem Fenster führte der Nachbar seinen fetten Dobermann aus, wie jeden Tag morgens um halb acht.

      Das Wasser der Dusche war heiß. Wolfe hielt es nicht lange darunter aus, trocknete sich nachlässig ab und stand vor dem Badezimmerspiegel, eine kleine Pfütze sich um seine Füße windend, silbern wie eine Blindschleiche.

      War das eine Nacht.

      Und nun dieser grelle Frühlingsmorgen. Er pinkelte und machte sich einen starken Espresso. Die Maschine fauchte, zu laut für seinen Kater. Wo hatte er nur seine Brille abgelegt? Irgendwo in der Wohnung ertönte ein Klingeln, penetrant, aufdringlich und er ging nass und nackt durch die Wohnung, warf seine Kleidung durcheinander, schleuderte alte Zeitschriften in Ecken, vergrub seine Hände in diversen Taschen, wo war nur das verfluchte Handy? Als ihm einfiel, dass er es gestern schon verloren hatte, wurde es plötzlich wieder still.

      „Wolfe hier, was gibt`s?“

      „Inspector Wolfe, endlich! Wie schön, Sie zu hören. Sie haben ja keine Vorstellung davon, was hier los war heute Früh, ich meine heute Nacht, und dann dachten wir auch noch, Ihnen sei ebenfalls etwas passiert, weil, Sie sind ja nicht drangegangen an ihr Handy und das, also wirklich, das ist einfach ganz untypisch für Sie. Aber wie gut, wie gut, dass Sie sich jetzt endlich melden. Haben Sie meine Anrufe abgehört?“

      Wolfe sah fünf Nachrichten auf seinem Band blinken und nickte verschlafen in den Hörer.

      „Haben Sie?“

      Er sah Thomas Todd genau vor sich, den jungen Constable, der seinen Eiförmigen Kopf gerne besorgt hin und her wiegte und dabei auf seine Unterlippe biss. So uncool, dass in seinem früheren Leben als Schüler gewiss kein Tag ohne Stinkbombe im Ranzen, Knoten in den Schnürbändern oder einfach nur pöbelndes Rumgeschubse vergangen war und er sich nun an all jenen ehemaligen Witzbolden zu rächen gedachte. Er war äußerst akribisch und lehrte nicht nur Wolfe, sondern jeden Computer-Hacker das Fürchten. Aber er erinnerte ihn auch irgendwie an seine alte Tante Mildred.

      „Jetzt schießen Sie schon los, Todd.“

      „Letzte Nacht wurde in einer Gasse neben den Loughborough Viadukten eine Leiche gefunden. Sie haben sie ins Krankenhaus gebracht und notfallmäßig operiert.“

      „Operiert? Eine Leiche?“

      „Sie war noch nicht tot.“

      „Eine Frau?“

      „Nun ja, man hatte ihr beide Brüste abgeschlagen.“

      Wolfe schauderte. So etwas hatte auch er in seinen zwanzig Jahren Polizeidienst noch nicht erlebt. Hatte er es plötzlich mit einem pathologischen Schwertkämpfer zu tun? Einem durchgeknallten Samurai? Oder war das nur die unscharfe Erinnerung an seine wilden Träume letzte Nacht?

      „Und das hat sie überlebt?“

      „Der Pathologe war als erster da und er muss doch wissen, ob einer tot ist. Oder eben auch nicht. Sie waren ja nicht zu erreichen“, beschwerte sich Todd nasal.

      „Wo ist das Opfer jetzt?“, fragte Wolfe, ohne auf den Vorwurf einzugehen.

      „Im Kings`s College Hospital. Station 3b. Lucy Pym hält Wache.“

      Wolfe stöhnte. Lucy hatte ihm gerade noch gefehlt. Was Todd an Testosteron fehlte, hatte sie eindeutig zuviel. Das hatte ihr in mancher Situation schon den Arsch gerettet, aber es machte sie auch unangenehm ehrgeizig und Wolfe hatte das Gefühl, er müsse sich vor ihr in Acht nehmen. Als könne sie ihm, aus reiner Karrieresucht, eine Falle stellen, ihn vorführen oder, am naheliegendsten, seine Schwäche ausnutzen und den Fall an sich reißen. Wenn er verhindern wollte, dass sie das Opfer als Erste befragte, musste er sich beeilen.

      „Danke, Todd! Bin auf dem Weg.“

      Wolfe bemerkte, dass er noch immer nackt war. Fröstelnd riss er ein Hemd aus dem Schrank, zog Unterhose und Jeans an, darüber einen Pullover, die Frühlingssonne wärmte noch nicht. Er kippte den letzten Schluck Espresso hinunter und knallte die Wohnungstür hinter sich zu.

      Es war wie in einem Labyrinth.

      Ein Flur, noch ein Flur, dann rechts um die Ecke, dann links in den nächsten Flur. Der Architekt dieser Klinik hatte jeden verdammten Winkel ausgenutzt und Wolfe bekam allmählich das Gefühl, sich verirrt zu haben (was an seiner Polizistenehre nagte, klar). Da sah er plötzlich das Schild der Station 3b vor sich und nickte zufrieden. Das wäre aber auch gelacht. Ha.

      Der Flur war lang, seine Stiefel knarzten irgendwie zu laut, aber was sollte er tun, sich anschleichen wie ein Apache und die armen Krankenschwestern erschrecken? Wo waren die überhaupt? Er blickte in das verwaiste Stationszimmer, in dem die Computer hochgefahren waren und die Tür zum Medikamentenschrank offenstand. Ein Selbstbedienungsladen für alle Junkies. Ein Saftladen. Denen würde er wohl die Meinung sagen müssen.

      Als er sich umdrehte, stand plötzlich die Schwester vor ihm. Sie war beinahe so groß wie er (was für eine Frau schon bemerkenswert war) und sah ihn misstrauisch an.

      „Kann ich Ihnen helfen?“

      Ihre Augen waren grau und groß und rund, ein wenig hervorstehend, mit schweren Lidern, die ihrem forschen Blick etwas Nachlässiges gaben. Ihr Haar war blond und zu einem praktischen, hohen Pferdeschwanz gebunden. Wohl um zu verhindern, dass ihr die Haare ins Gesicht, die Strähnen ins Auge fielen, während sie an einem Pflaster zog, Infusionen herrichtete oder irgendwelche Instrumente sterilisierte. Das stellte er sich zumindest so vor, bis er bemerkte, dass er sie eindeutig zu lange anstarrte.

      „Ja. Bitte.“

      Er nestelte umständlich seine Dienstmarke hervor.

      „Detective Chief Inspector Wolfe.“

      Er streckte seine Hand aus.

      „Jessica Marple. Leitende Stationsschwester.“

      „Miss Marple?“ Er hatte sich wohl verhört. „Echt jetzt?“

      Er konnte eine nur mühsam unterdrückte Genervtheit in ihrem Gesicht wahrnehmen. Doch sie blieb höflich.

      „Nennen Sie mich Jess“, sagte sie, ergriff seine Pranke und schüttelte sie kurz.

      „Das nenne ich einen Händedruck!“

      Wolfe grinste. Ihre Hände waren grob, kantig und leicht gerötet. Hände, wie man sie an einem Handwerker erwarten würde, der viel mit Lauge arbeitet. Einem Maurer vielleicht. Einem Gerber (gab es den Beruf des Gerbers überhaupt noch?). Aber sie waren erstaunlich weich und sie konnten zupacken. Das gefiel ihm.

      „Ich suche eine unbekannte Verletzte. Sie können mir bestimmt sagen, in welchem Zimmer sie liegt? Nomen est omen und so weiter, sie wissen schon, Miss Marple.“

      „Mrs.“,verbesserte sie ihn. „Aber sagen Sie doch einfach Schwester Jessica.“

      Ihr Ton durchfuhr ihn wie ein Eispickel. Anscheinend war sie empfindlicher, als gedacht.

      „Mrs. Marple, soso. Also verheiratet?“

      „Erstaunlich