Kate Rapp

Keine Heilige


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      Als sie zwei Stunden später nach ihr sah, lag die unbekannte Patientin mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Das dunkle Harr wie ein riesiger spanischer Fächer um ihr Gesicht gebreitet. Jess beugte sich gerade über sie, um die Bettdecke, die sie heruntergestrampelt hatte, wieder unter ihr Kinn zu ziehen, da schlug sie die Augen auf. Jess fuhr erschrocken zurück. Die Augen, die sie anstarrten, waren so blau wie der karibische Himmel ihrer Hochzeitsreise (wie lange das schon her war. Und wie lange sie nicht mehr daran gedacht hatte!) und hielten sie unnachgiebig fixiert. Aber sie sagte kein Wort.

      „Hallo!“, sagte Jess leise und legte ihr eine Hand auf den schmalen Unterarm. Zahlreiche blauen Flecken gingen dort ineinander über und ließen ihre Haut wie die einer exotischen Eidechse schillern.

      „Wie geht es Ihnen?“

      Die junge Frau verzog das Gesicht.

      „Wo bin ich?“

      Ihre Stimme war tiefer als erwartet und klang irgendwie fremdländisch. Ein melodischer Singsang mit offenem „O“, das ihrer kurzen Frage etwas Herrisches verlieh.

      „Sie sind im Kings`s College Hospital. Sie waren schwer verletzt und wurden operiert. Haben Sie Schmerzen?“

      In den blauen Augen stand eine Frage, die sich ganz langsam nach innen richtete und Jess konnte sehen, wie sie sich selber antwortete. Abrupt fuhren die zarten Hände nach oben und legten sich beidseits auf ihre Brust. Noch immer ließ die Patientin Jess nicht aus den Augen. Sie konnte die Tränen aufsteigen sehen, beobachten, wie sie überliefen und die blassen Wangen hinunter rannen. Die junge Frau machte keinerlei Anstalten, sie fortzuwischen. Jess nahm einen Tupfer vom Verbandswagen und trocknete ihr Gesicht.

      „Sie können noch ein Schmerzmittel bekommen, wenn Sie wollen.“

      Die Frau antwortete nicht.

      Da öffnete sich die Zimmertür und die Polizistin steckte den Kopf herein.

      „Sie ist aufgewacht? Warum haben Sie nicht Bescheid gegeben?“

      „Sollte ich?“

      „Wozu, denken Sie, sitze ich hier auf dem Flur, wenn nicht, um zu warten, dass die einzige Zeugin des Verbrechens endlich das Bewusstsein wiedererlangt?“

      „Um sie zu schützen?“

      Die Polizistin schnaubte und baute sich am Fußende des Bettes auf. Sie stützte sich mit den Händen auf die gebogene Chromstange und beugte sich leicht nach vorne, lauernd und zugleich herablassend. Dabei hatte sie nicht einen einzigen Stern auf ihrer Schulterklappe.

      „Detective Constable Lucy Pym“, stellte sie sich kurz angebunden vor. „Wie heißen Sie? Und was können Sie uns über den Tathergang mitteilen?“

      „Dürfen Sie das überhaupt?“, fragte Jess.

      „Was denn?“, blaffte die Polizistin, die sich durch Jess offensichtlich gestört fühlte.

      „Die Frau vernehmen, meine ich.“

      „Was geht Sie das an?“

      Jetzt funkelte sie Jess so zornig an, wie Vincent, wenn sie ihm das Handy wegnahm, weil er zu viel zockte.

      „Ich werde die Oberärztin informieren, dass die Patientin wach ist. Sie wird Ihnen sagen, ob sie vernehmungsfähig ist, oder nicht.“

      „Sie kann sitzen, hey, dann wird sie doch wohl antworten können. Also,“ wandte sie sich wieder an die junge Frau, „wie ist Ihr Name?“

      Die Patientin antwortete noch immer nicht. Sie lehnte sich in ihre Kissen zurück und schloss die Augen.

      „Versteht Sie mich überhaupt?“, wandte Constable Pym sich wieder an Jess. Aber diese drehte ihr bereits den Rücken zu, um Dr. M zu holen. Sie grinste heimlich in sich hinein. Ganz offensichtlich wollte das Mädchen nicht mit der Polizei reden.

      Dr. M sah wieder aus wie frisch gebügelt, als sie aus ihrem Zimmer trat und Jess zu der Unbekannten begleitete. Constable Pym stand breitbeinig auf dem Flur und trommelte ungeduldig mit den Fingern gegen ihren breiten Gürtel. Dr. M flog an ihr vorbei in das Zimmer der unbekannten Patientin.

      „Guten Morgen. Wie geht es Ihnen?“

      „Was ist passiert?“

      Ihre Hände lagen noch immer dort, wo vormals ihre Brüste gewesen waren, als müsste sie sich vergewissern, dass ihrem Tastsinn auch zu trauen war.

      „Dasselbe wollte ich Sie auch gerade fragen“, schaltete sich Lucy Pym ein.

      Dr. M hob die Hand.

      „Ich muss sichergehen, dass es Ihnen den Umständen entsprechend gut geht. Also sagen Sie mir einfach: haben Sie Schmerzen?“

      Die Patientin nickte.

      „Wie soll ich Sie ansprechen, Frau..?“

      Die Patientin starrte sie nur an. Dabei hielt sie Blick nach innen gekehrt, als suche sie dort nach Etwas, das ihr abhandengekommen war. Es dauerte lange.

      „Ist Ihnen nicht gut?“

      Dr. M berührte sie leicht an der Schulter. Sie zuckte zusammen.

      „Ich weiß nicht.“

      „Ich werde Ihnen etwas gegen die Übelkeit verschreiben. Das ist normal nach einer Narkose.“

      „Ich meine, ich weiß meinen Namen nicht.“

      „Sie wissen Ihren Namen nicht?“, echote Detective Constable Pym und machte einen Schritt nach vorne.

      Die Patientin schüttelte den Kopf.

      „Erinnern Sie sich daran, was passiert ist?“

      Dr. M übernahm die Befragung so souverän, als sei sie selber Polizistin, dachte Jess. Aber die nächste Frage belehrte sie eines Besseren.

      „Wissen Sie, welchen Tag wir haben?“

      Wieder ein Kopfschütteln.

      „Welches Jahr?“

      Die Patientin zuckte die Schultern und schloss resigniert die Augen.

      „Die simuliert doch nur“, schimpfte DC Pym. „Das kann doch jeder sagen.“

      Dr. Mackintosh musterte sie mit einem ihrer Eisköniginnen-Blicke. Sie sah aus, als würde sie Mrs. Detective Constable liebend gern in einen Eiszapfen oder eine Statue oder in irgendetwas anderes verwandeln, das keine Widerworte gab.

      „Retrograde Amnesie. Das kann bei schweren körperlichen und seelischen Traumata durchaus vorkommen.“

      Die Polizistin schnaubte wieder. Jess fragte sich, ob sie wohl auf einem Bauernhof aufgewachsen war, unter großen Tieren wie Pferden oder Kühen.

      „Das glaub ich einfach nicht“, murmelte Pym vor sich hin, leise nur, als sie den strafenden Blick von Dr. M auffing.

      „Wir werden natürlich noch einen Psychologen hinzuziehen, aber soviel kann ich schon jetzt sagen: es überrascht mich nicht. Amnesie ist ein Schutzmechanismus des Gehirns vor Überforderung. Auch Sie“, Dr. M tippte der Detective Constable forsch aufs Brustbein, „auch Sie wären froh, wenn Sie einen blutigen Überfall, eine Vergewaltigung, Schläge und Würgen, Fesseln und Folter und das Abschlagen von Körperteilen bei vollem Bewusstsein würden vergessen können, sollte es Ihnen irgendwann einmal in ihrem sicheren, sauberen Polizistinnen-Leben passieren. Was ich Ihnen nicht wünsche, weil ich es niemandem wünsche. Und es scheint ein Segen für diese junge Frau zu sein, das Vergessen, denn anderenfalls würde sie womöglich verrückt werden oder sich etwas antun. Und das möchte ich verhindern. Damit sie mich richtig verstehen: das Einzige, was meine Patientin jetzt braucht ist Ruhe. Verlassen Sie also bitte das Zimmer.“

      DC Pym schaute verdutzt.

      Durfte ihr diese stramme Oberärztin Befehle erteilen?, schien sie zu denken.

      „Sofort!“