Kate Rapp

Keine Heilige


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dieser Tragödie, sagte sein blasiertes Gesicht. „Ich bin Pathologe.“

      „Das sagten Sie bereits.“

      Sie hatte bisher niemals mit der Gerichtsmedizin zu tun gehabt. Ihre Patientinnen hatten zu große oder zu kleine Brüste, viele von ihnen hatten Krebs. Aber keine war jemals mit Polizeieskorte gekommen und an keiner war ein Verbrechen dieser Art verübt worden. Sie sah diesen glatzköpfigen Kollegen zum ersten Mal. Dr. Nigel Harris. Sein Eaton-Akzent gab seinem gezierten Gehabe das i-Tüpfelchen an Arroganz, das so herausfordernd auf Dr. Mackintosh wirkte, dass sie sich zusammennehmen musste, um nicht polemisch zu werden. Man konnte den Tweed-Anzug in seiner Stimme hören, den er außerhalb seiner Dienstzeit gewiss zu tragen pflegte. Und sie fragte sich kurz, was dieser britische Aristokrat in Ruanda verloren hatte. Doch im Grunde war es ihr egal. Waren nicht alle Aristokraten durch Inzucht degeneriert, erschreckend verarmt und dennoch voller Allmachtfantasien? Warum dann nicht gleich einen Völkermord aufklären im ehemaligen Kolonialgebiet (wobei sie trotz ihres Ärgers zugeben musste, dass sie nicht ganz sicher war, ob Ruanda jemals englisches Kolonialgebiet gewesen war, oder ob sie es nicht mit Uganda verwechselte).

      Die OP-Tür schob sich wie von Zauberhand auf. Ein Krankenpfleger holte die Trage herein, auf der die arme Frau lag, noch immer von den blutgetränkten Tüchern umwickelt, wie ein Findelkind in rosafarbenen Windeln. Es steckte ihr ein Beatmungsschlauch in der Kehle und der Anästhesist lief neben ihr her, um sie manuell zu beatmen.

      „Ich muss los.“

      Dr. Mackintosh folgte ihrer Patientin in den OP und ließ Nigel Harris auf dem Flur stehen.

      „Hat mich auch gefreut“, sagte er zu der sich schließenden Tür und machte sich auf den Weg zurück in seinen forensischen Keller.

      Es war sechs Uhr morgens, als Jess die Patientin aus dem Aufwachraum abholen konnte. Sie hatte gerade erst wieder ihren Dienst angetreten. Dr. M, wie Jess die Oberärztin Mackintosh nannte, machte ihr eine kurze Übergabe, bevor sie sich in ihr Zimmer zurückzog. Sie war wegen des Notfalls in der Nacht extra von zu Hause gekommen, denn kein anderer Chirurg konnte Brüste so gut wiederherstellen wie sie. Die Operation hatte vier Stunden gedauert und Dr. M sah reichlich erschöpft aus.

      „Sie muss ins Wachzimmer, aber Intensivstation ist nicht nötig. Monitoring, Einfuhr/Ausfuhr, das Übliche eben. Antibiotika, Schmerzmittel und Infusionen habe ich angeordnet, vier Erythrozytenkonzentrate sind drin.“

      Sie riss sich die grüne OP-Haube vom Kopf und ihre glatten, rotbraunen Haare gerieten dabei in eine für sie unübliche Verwirrung.

      „Bis morgen.“

      „Bis dann, Dr. M“, sagte Jess und hoffte, die Ärztin würde noch einmal nach der Patientin sehen, bevor ihr Dienst vorüber war. Die junge Frau war eine Schwerverletzte, die Überlebende eines Mordanschlags (wie grausam das klang, aber nicht grausam genug, fand Jess, nachdem sie die Wunden gesehen hatte), und mit solch einer Patientin hatte sie keinerlei Erfahrung. Es irritierte sie außerdem, dass eine Polizistin auf ihrem Flur stand. Dunkle Uniform, Schlagstock am Gürtel. Sie sah Jess aufmerksam entgegen, die Hände forsch in die Hüften gestützt, als sie das Bett ins Wachzimmer schob. Die Patientin schlief noch immer ihre Narkose aus und sah in den dicken, weißgestärkten Kissen aus, wie Jess sich eine auf einer Eisscholle gestrandete Elfe vorstellte: Zart und verfroren und irgendwie nicht von dieser Welt. Denn Elfen lebten bekanntlich in Zwischenwelten, Märchenbüchern (die sie Vincent vorgelesen hatte, früher), Träumen oder in der Fantasie, niemals aber fand man sie verstümmelt in einer stinkenden Gasse. Jess hielt sich lieber an die Realitäten. Also überprüfte sie den Druckverband ihrer Patientin. Als sie sah, dass er trocken war und keine Anzeichen durchsickernden Blutes aufwies, fühlte sie noch kurz den Puls. Das Handgelenk sah zart aus, als könne sie es mit ihren großen Händen zerbrechen wie die Angelrute von Andy. Sie hatte das aus Frust getan, weil er die Wochenenden lieber allein am Fluss, statt mit ihr und Vincent verbrachte. Weil er sie ausschloss, ohne dass sie sich im Klaren darüber war, was sie ihm eigentlich getan hatte. Weil sie in der schleichenden Entfremdung einen Akzent setzen wollte, ein Ausrufezeichen, um zu zeigen: Ich merke, was da läuft. Ich sehe, was du tust. Aber ich werde es nicht zulassen!

      Andy hatte sie angebrüllt. Am nächsten Tag hatte er sich dann eine neue Angelrute gekauft und war übers Wochenende nach Cornwall gefahren. So einfach war das für ihn.

      Jess verließ das Zimmer und merkte, dass die Anwesenheit der Polizistin sie wider Erwarten beruhigte. Sie hatte sich vor der Tür auf einem ungemütlichen Stuhl im Gang postiert, ihr runder Hut ordentlich darunter abgelegt, und blätterte in einer Zeitschrift. Sie bewachte die Patientin. Die Verantwortung für diese junge Frau zu teilen fühlte sich an, als würde die Polizistin Jess auf die Schulter klopfen und sagen:

      „Wir schaffen das schon. Du kümmerst dich um die Verbände und ich mich um die Sicherheit!“

      Dabei hatte die Uniformierte zur Begrüßung keine Miene verzogen, sondern stumm und stoisch gewirkt, ganz Hüterin des Gesetzes. Jess drehte sich noch einmal zu ihr um. War die Patientin tatsächlich weiterhin bedroht? Woher nahm die Polizei die Gewissheit, dass es eine persönliche und keine zufällige Tat war? Woher sollte Jess diese Gewissheit nehmen und die alte Unbekümmertheit, wenn sie vor der nächsten Nachtschicht im Dunkeln auf dem Parkplatz aus ihrem Auto stieg, einem Parkplatz, auf dem bereits eingebrochen worden war. In ihren Wagen. Sie sollte sich wohl fürchten. Aber Jess seufzte nur. Es war ihr auf erschreckende Art gleichgültig. Konnte es sein, dass Eheprobleme einem den Realitätssinn raubten?

      Jess schnappte sich die Akte der unbekannten Patientin und blätterte zum Operationsprotokoll vor. Sie hatten die Haut ihres Oberbauches an beiden Seiten halbkreisförmig eingeschnitten, nach Oben geschwenkt und an die beiden Orte transplantiert, wo anstelle der Brüste nur noch klaffende Fleischwunden waren. Der linke Brustmuskel war angerissen und musste zuvor genäht werden. Verunreinigtes und überschüssiges Gewebe (hatte der Angreifer womöglich eine der Brüste nur zu Dreivierteln abgeschnitten?) musste abgetragen werden. Jess konnte es sich lebhaft vorstellen. Sie hatte damals die Ausbildung zur OP-Schwester begonnen und als sie mit Vincent schwanger wurde, stand sie kurz vor dem Abschluss. Sie wusste sehr gut, dass nun die Gefahr einer Infektion oder einer Nekrose bestand, dass die Patientin genauestens überwacht werden musste und haufenweise Antibiotika bekam, damit diese Wunden heilen konnten. Es würde ein langer Weg werden. Dr. M hatte ihr im wahrsten Sinne des Wortes die Haut gerettet. Aber die junge Frau würde flachbrüstig sein. Eine weitere Operation würde folgen, um einen kosmetischen Brustausbau vorzubereiten, der dann in einer dritten Operation durchgeführt werden konnte. Wenn alles gut ging. Wenn es keine Komplikationen gab.

      Jess blickte auf ihren eigenen Busen hinunter. Er tat ihr manchmal weh, bevor sie ihre Regel bekam. Sie hatte Vincent gestillt. Und sie liebte es, wenn Andy sie sanft streichelte (was er seit zwei Monaten nicht mehr getan hatte, verdammt). Sie konnte nachvollziehen, dass der Verlust einer Brust die Frauen nicht nur äußerlich beschädigte. Wie musste das erst bei zwei Brüsten sein?

      Zum Glück gab es Dr. M. Sie hatte das gewiss sehr gut hinbekommen. Denn zweifellos war Dr. M die Beste. Jess kannte sie noch aus ihrer Zeit als OP-Schwester. Damals hatte sie gerade als Assistenzärztin begonnen, das war jetzt fünfzehn Jahre her. Jess hatte drei Jahre pausiert, als sie später mit Vincent schwanger wurde und als sie wiederkam, war Dr. M schon Fachärztin. So schnell ging das. Sie war wirklich schlau. Und geschickt. Aber auch ein kleines bisschen unnahbar. Jess wäre gerne ein wenig mehr wie sie. Nicht nur äußerlich. Sie sah aus wie ein Model, immer noch, dabei war sie bereits sechsundvierzig. Ihre Giraffen-Beine waren muskulös, ihre Haltung gerade, ihre Taille schlank und sie trug immer diese engen Hosen, ohne dass auch nur das geringste Speckröllchen über dem Bund zu sehen war. Wenn sie im Sommer Tops anhatte, bewunderte Jess ihre gebräunten Oberarme, die ebenfalls ein zartes, geschwungenes Muskelrelief aufwiesen und nicht die geringste Schlaffheit zeigten. Jess wusste, dass Dr. M viel Sport machte. Sie erzählte vom Klettern in Arco, vom Mountainbiken in den Dolomiten. Sie kaufte ständig neue Joggingschuhe („Die alten sind sowas von durch!“) und einmal hatte sie Jess ein Paar dieser knallbunten Hanteln geschenkt, damit sie vor dem Fernseher ein wenig trainieren konnte. Denn nach der Geburt von Vincent war ihre Figur nie wieder so wie zuvor. Ihre