Kate Rapp

Keine Heilige


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wieder ins Waisenhaus?“

      Diese Frage wurde Xenia und ihrem Bruder immer dann gestellt, wenn einer von ihnen dem Onkel oder der Tante widersprach. Seit sie sich erinnern konnte, lebten sie bei ihnen unter dem Damoklesschwert der Drohung, wieder in eines dieser Heime abgeschoben zu werden, in dem die Kinder autistisch im Takt ihres Herzens den Kopf gegen die Gitterstäbe ihrer Bettchen schlugen. Bettchen, die sie sich mit zwei anderen Kindern teilen musste. Bettchen, die sie auf ihren verkrüppelten oder entkräfteten Beinchen nie wieder würden verlassen können. Niemand kam in diese Heime, um die Waisenkinder zu adoptieren. Sie waren lebendige Tote, die sich nur in das stille Reich ihrer Köpfe zurückziehen und dort ein wenig Ablenkung finden konnten, bis sie an Typhus oder Ruhr, an Salmonellen, Blutvergiftung oder einfach nur an Einsamkeit und gebrochenem Herzen starben. Ihr Bruder hatte für Xenia gekämpft. Hatte gearbeitet, seit sie bei dem Onkel wohnten. Doch er konnte sie nicht vor allem beschützen.

      Wenn ihr Onkel nachts in Roxanas Zimmer kam, tat Xenia immer so, als ob sie schliefe. Er rüttelte sie wach und machte die Nachtischlampe an. (Was für einen gesegneten Schlaf unsere kleine Roxana doch hat, wurde er nicht müde zu beteuern, wenn das Thema auf die Nachtruhe kam.) Dann zog er einen Lolli hinter seinem Rücken hervor. Er zeigte Xenia, auf wie viele unterschiedliche Arten man an einem Lolli lecken konnte und als sie danach greifen wollte, hielt er ihre kleine Hand fest und legte sie in seinen Schritt. Er lehrte sie, ihn wie einen Lolli zu behandeln. Und erst wenn sein Stöhnen verebbte, bekam sie endlich die Süßigkeit. Sie drehte sich zur Wand und steckte den Lutscher schnell in den Mund, um den ekligen Geschmack, den der Onkel auf ihrer Zunge hinterlassen hatte, zu vertreiben.

      Xenia stürzte den Rest ihres Champagners hinunter und fuhr sich mit der Zunge über die Schneidezähne. Kein Wunder, dass sie Karies gehabt hatte, als sie hier ankam. Der erste Gang mit Jan führte sie zum Zahnarzt.

      „An der Zahnhygiene zeigt sich, wie sauber der Mensch ist“, sagte Jan beinahe jeden Abend, wenn er die Zahnseide durch die Zwischenräume seiner Molare zog und dabei im Spiegel aussah, wie ein gefährliches Monster.

      „Das Getränk der Götter“, unterbrach er ihre Gedanken und stellte sein ebenfalls leeres Glas ruckartig neben ihrem ab. Er musterte sie eingehend.

      „Alles in Ordnung?“

      „Natürlich, Darling.“

      Sie warf noch einen schnellen Blick in die Karte und legte sie entschlossen zur Seite.

      „Ich nehme Austern, sautierten Lachs, Kalbsmedaillon auf Safrankartoffeln und anschließend Champagnersorbet an warmem Nougatfondant.“

      Jan nickte zufrieden und der Kellner entfernte sich mit einer angedeuteten Verbeugung.

      Jan hatte sie da rausgeholt.

      Zwölf Jahre lang war Xenia von Roxana gepiesackt worden („Sie ist wie eine Schwester zu ihr“, sagte die Tante, wann immer die Sprache auf die beiden Mädchen kam) und sie wusste ganz genau, wie Aschenputtel sich gefühlt haben musste.

      An dem Blick, den sie ihr jedes Mal am nächsten Morgen zuwarf erkannte sie, dass Roxana damals in den Onkel-Nächten wach gewesen war und sich nur schlafend gestellt hatte. Es überraschte sie, dass sich darin kein Ekel spiegelte, sondern Hass und Eifersucht. Sie erkannte darin den Schmerz darüber, dass ihr Onkel Xenia der eigenen Tochter vorzog. Und eine wilde Wut auf diese Cousine, die sich in Roxanas Leben und in ihr Zimmer gedrängt hatte, die ihr die Liebe ihres Vaters raubte und seine nächtliche Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie vergalt es Xenia mit tausend kleinen Gehässigkeiten. Und einigen großen Gemeinheiten.

      Zum Beispiel die Sache mit Krishna, ihrem Hamster. Xenia hatte sich so gefreut, als eine Freundin ihr das kleine Tier in einem Schuhkarton überreichte. Roxana liebte es, ihn ihr abzujagen und an einer seiner rudimentären Pfoten im Kreis zu schleudern. Sie drohte damit, ihn loszulassen, wenn Xenia ihr nicht jeden Wunsch erfüllte. Und als ihr an einem heißen Sonntagmorgen die Limo, die Xenia ihr brachte, zu warm war, ließ sie ihn fliegen. Krishna klatschte gegen die Hausmauer aus Beton und lag hechelnd am Boden. Bevor Xenia ihn aufheben konnte, trat Roxana einmal kräftig mit ihrem Absatz zu.

      „Gnadentod“, sagte sie kalt. „Du brauchst mir nicht zu danken.“

      Wäre ihr Bruder nicht gewesen, Xenia wäre vermutlich weggelaufen. Doch er machte ihr klar, dass ein Leben auf der Straße für Mädchen nichts Anderes als Gewalt, Drogen, Missbrauch bedeuteten. Sie hatte ihm nicht die Illusionen nehmen wollen, indem sie ihm vom Onkel erzählte.

      Dass Jan sich Zeit mit der Weinkarte ließ, erleichterte sie. Es lenkte ihn von ihr ab und sie beobachtete ihn, wie er mit Kennermiene das Angebot unter die Lupe nahm, sich mehrere Flaschen kommen und entkorken ließ, den Weinkelch schwenkte, seine lange Nase hineinhielt, schnupperte und dann einen kleinen Schluck nahm, den er behaglich von einer Wange in die andere schob. Ein Wunder, dass er nicht mit dem Wein gurgelte, dachte Xenia. Sie fand ihn lächerlich. Doch sie blieb auf der Hut.

      Dabei war sie Jan wirklich dankbar gewesen.

      Dieser Freund eines Freundes schien ein guter Mann zu sein. Er sprach ihre Sprache, zumindest in groben Brocken, und er war Niederländer. Er suchte für gut bezahlte Jobs im Ausland noch junge Mädchen. Roxana sollte gehen, entschied der Onkel, und Xenia sollte sie begleiten. (Was hatte man nicht schon für schlimme Dinge gehört, die den Mädchen dort drüben widerfuhren.) Xenia freute sich auf dieses Land, zu dem ihr nur die Farbe Orange und die Tatsache einfiel, dass es dort eine Königin gab, die gern große Hüte trug. Natürlich war es eine Überraschung gewesen, als sie stattdessen nach England kam. Das Land war ihr fremd vorgekommen und düster und die Königin dort trug meist nur kleine Hüte. Die Sprache erschien ihr härter, als die paar Brocken Niederländisch, die sie gelernt hatte, die Blicke der Menschen auf den Straßen auch. Nur Jan war anders. Anfangs.

      Er hatte Roxana und Xenia ein Glas Champagner nach dem anderen spendiert und irgendeinen amerikanischen Schriftsteller zitiert, der anzüglich aber bewundernd über Brüste schrieb. Er habe, so sagte Jan ganz begeistert, sogar ein ganzes Buch darüber verfasst, wie sich ein Mann eines Tages plötzlich in eine riesige, siebzig Kilo schwere weibliche Brust verwandelte.

      „Was für eine Vorstellung!“

      Dabei hatte er ununterbrochen auf ihr Dekolleté gestarrt, das zugegebenermaßen sehr weit ausgeschnitten war, auf Rat von Roxana. Und Xenia hatte sich geschmeichelt gefühlt und seine Hand zugelassen, die sich bald um ihre Taille herum wand und auf der anderen Seite wie zufällig den unteren Rand ihrer linken Brust streifte.

      „Was stocherst du so? Kein Appetit?“

      Jan sah sie über die Austern hinweg an. Xenia hatte gar nicht gemerkt, dass sie noch immer den Zitronensaft in der Schale verrührte. Dem armen Tier musste schon ganz schwindelig sein. Aber egal, sein Dasein war ohnehin beendet, dachte sie grimmig. Sie musste sich zusammenreißen.

      „Doch. Ich liebe Austern!“, sagte sie und schluckte kräftig.

      Anschließend verputzte sie die Hauptspeise bis auf den letzten Krümel.

      „Wenn du entschuldigst. Ich muss mich kurz frisch machen.“

      Sie schaffte es gerade noch in die Kabine, bevor sie sich übergab. Sie fühlte sich schwach, aber sie kämpfte dagegen an. Sie hatte es versprochen. Also würde sie es durchziehen.

      Schnell spülte sie den Mund aus, zog die Lippen nach und wischte einen Rest Lippenstift vom rechten Schneidezahn ab. Jetzt musste sie sich aber wirklich beeilen. Sie hatte sich schon seit Wochen vorgenommen, mit ihm zu sprechen. Sie hatte es nicht nur versprochen, es war auch ihre einzige Chance, von ihm fort zu kommen.

      Das erste Mal, als ihm bei einem Streit die Hand ausrutschte, hatte er sich noch entschuldigt. Sie schmeckte Blut, salzig und metallisch und sie war erschrocken, wie sehr sie der Geschmack an daheim erinnerte. An das hässliche Haus in Belgrad, an die Ohrfeigen ihrer Tante und an ihre aufgeschürften Knie, wenn sie wieder lange vor ihrem Onkel hatte knien müssen. Sie hatte dann mit der Zunge über die feinen Blutperlen geleckt, die aus der Schürfwunde auftauchten wie kleine Rubine im Netz des Edelsteinsuchers. Das Blut vermischte sich mit den Tränen, die sie tapfer hinunterschluckte.