Kate Rapp

Keine Heilige


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geht`s Mrs. Oliver?“, erkundigte sich Jess und zupfte ihren Kittel zurecht.

      „Stabiler Kreislauf, aber ihre Lunge läuft voll. Sie haben die Lasixdosis erhöht und ich hab sie regelmäßig absaugen müssen.“

      „Shit!“

      „Ich dachte du kannst es gar nicht erwarten, dass sie endlich stirbt?“

      Jess schnitt ihm eine Grimasse.

      „Sie quält sich doch nur. Und ihr Mann hat längst eine Neue. Hast du bemerkt, wie eilig er es immer hat? Er wird eine pompöse Einäscherung organisieren, und danach werden er und der Rest der Welt sie vergessen. Sie wird anstandslos in der Bedeutungslosigkeit ihres Urnengrabes verschwinden. Ich hoffe nur, sie hat ein paar Freundinnen, die ihrer weiterhin gedenken.“

      „Hat sie jemals Besuch bekommen?“

      „Nein“, gab Jess traurig zu.

      „Keine Liebe in dieser Welt“, jammerte Hank theatralisch und schlug sich kurz darauf an die Brust. „Aber dafür aufopferungsvolle Pfleger, die keine Anstrengung scheuen, ein Leben zu retten.“

      „So wie du?“

      „Genau“, gab Hank zurück. „Viel Spaß im Einsatz, Mrs. Marple“, sagte er und tippte sich zum Gruß an die Stirn, als verabschiede er sich von einem militärischen Vorgesetzten. Dann drehte er ihr seinen dreieckigen Rücken zu und marschierte davon. Dabei machte er erstaunlich kleine Schritte, und sein schmaler, fester Hintern in der engen weißen Hose (ihre Freundin Dolly würde von Knackarsch sprechen) bewegte sich kaum dabei.

      Als Jess an das Bett trat, röchelte Mrs. Oliver. Ihr Atem schlug den Schleim zu Schaum und ließ ihn aus ihrem Mund quellen. Als hätte sie einen Schluck Halo genommen oder Ariel oder wie sie alle hießen, diese Waschmittel, die gegen Flecken und Grauschleier eingesetzt wurden. Es sah aus, als versuchte die arme Frau, sich von innen selbst zu reinigen. Und nun erstickte sie beinahe bei dem Versuch, mit weißer Weste vor ihren Schöpfer zu treten. Jess steckte einen Katheter auf und saugte schnell den Schleim aus Mrs. Olivers Rachen ab. Ihre Patientin war Fünfundvierzig, keine zehn Jahre älter als sie selbst und deshalb fühlte sich Jess irgendwie schuldig. Gleichzeitig überlegte sie, was sie selbst wohl bereuen würde oder zu bereinigen hätte, wäre auch sie todkrank und müsste bereits gehen. Die Bilanz war niederschmetternd. Ihre Ehe war gescheitert, soviel war klar. Da gab es nicht wirklich etwas zu bereinigen. Wie sollte man all die kleinen und großen Streitereien, die Missverständnisse und ungeduldigen Vorwürfe nur aus der Welt schaffen? Sie hatten sich zu einem riesigen Müllberg aufgetürmt. Jess hatte das Gefühl, unter all dem emotionalen Sondermüll zu ersticken, wenn sie sich nicht hin und wieder mit einigen scharfen Keifereien den Weg freischnitt. Dann führte sie sich auf, wie früher ihre eigene Mutter. Ja, das hatte sie längst und verbittert erkannt. Aber sie war machtlos dagegen. Wann immer sie mit Andy sprach, klang ihre Stimme unwirsch und mindestens eine Terz zu hoch. Wie eine meckernde Himmelsziege (ein aussterbender Zugvogel, wie ihr Naturforschender Sohn Vincent ihr begeistert erklärt hatte). Kein Wunder, dass sie Andy kaum noch sah. Offensichtlich versuchte er, ihr aus dem Weg zu gehen. Er hatte Konflikte schon immer gern vermieden. Sie konnte ihn verstehen, sie würde sich auch nicht mit sich selber anlegen wollen. Und das, was sie beide früher verbunden hatte, existierte nicht mehr. Es war in den Jahren vertrocknet und zu Staub zerfallen, dieses Gefühl, nur gemeinsam etwas schaffen und sich dem Abenteuer des Lebens stellen zu können. Doch da gab es Vincent. Der wichtigste Posten auf ihrer Haben-Seite. Das Einzige, das ihr und Andy wirklich gelungen war. Der Hauptgrund dafür, dass keiner von ihnen sich eingestehen wollte, dass ihr Leben nur noch aus Routine bestand und sie in ihrer Ehe vollkommen alleine waren.

      Mrs. Oliver hustete blasig. Jess strich ihr mit der linken Hand beruhigend über das Schotterfarbene Haar. Während sie mit dem Katheter in ihren Hals hinein und wieder hinausfuhr, wurde jedes Mal die Sauerstoffzufuhr unterbrochen. Die Patientin, das wusste sie, bekam keine Luft, während sie das tat. Sie litt die Anfangsqualen einer Erstickung, vor der Jess sie doch eigentlich bewahren wollte. Mehrmals täglich krümmte sich ihr Körper unter dem hinterhältigen Sauger und im besten Wissen, ihr zu helfen, fühlte Jess sich dennoch als Folterknecht. Letztendlich würde die Lunge ihrer Patientin irgendwann wegen der Metastasen versagen, wegen eines Ergusses oder Sauerstoffmangels. Es war nur eine Frage der Zeit. Das Brodeln ging in ein Zischen über, als die Ziffer der Sauerstoffanzeige wieder über 90 stand und sie den Silikonkatheter endlich herauszog. Ein gemeines, seltsam hinterhältiges Geräusch. Jess ließ die Luft, die sie unwillkürlich angehalten hatte, aus den eigenen Lungen entweichen, holte tief Luft und warf den benutzten Saugkatheter in den Müll. Dann sank sie erschöpft auf einen Hocker.

      Was willst du, Jessica Marple, eigentlich wirklich vom Leben, fragte sie sich matt. Krankenschwester, Mutter, Ehefrau (wirklich jetzt? Wie lange noch?), das waren ihre Rollen. Nicht zuletzt Namensvetterin einer berühmten blaustrümpfigen Detektivin, die allerdings reine Fiktion war. Wie vielleicht alles andere auch. War sie eine gute Mutter oder bildete sie sich das womöglich nur ein? Ihre Vorstellungen von sich als der hingebungsvollen Ehefrau und von der alles überdauernden Liebe waren offenbar auch ziemlich unrealistisch gewesen. Angenommen. Erfunden. Vorgetäuscht? Wo zwischen all dem Schein und Sein befand sie sich, bitte schön, denn nun wirklich?

      Sie sah auf ihre grünen Gummiclogs und zählte die Löcher darin.

      Der ganze Tag lag hellgrau summend vor ihr, wie ein Laufband, von dem sie nicht wusste, wann es anhalten würde. Ob überhaupt. Sie konnte die Mäuse verstehen, die ununterbrochen in ihren Rädern liefen, immer weiter, weil sie sonst nichts Anderes konnten, weil sie den Käfig nicht spüren und nicht sehen wollten, weil sie den Stillstand nicht ertrugen. Genau darum machte sie ihren Job.

      Sie stand auf.

      Die Visite führte sie von Bett zu Bett. Danach Medikamente richten. Essen austeilen. Ein hektischer Verbandswechsel zwischendurch, dann weiter, mit quietschenden Sohlen.

      Am Nachmittag konnte eine junge Frau nach ihrer Krebsoperation wieder auf ihre Station verlegt werden. Jess holte sie aus dem Wachzimmer ab. Als sie die Papiere auf das Fußende des Bettes legte, das schon auf dem Flur zum Abholen bereitstand, und die Patientin, noch ganz benommen von der Narkose, wimmerte wie ein kleines Kätzchen, musste sie unwillkürlich lächeln. Sie legte ihre Hand auf den zerstochenen Handrücken der Patientin und flüsterte in ihr Ohr, um das sich einige verschwitzte Haarsträhnen kringelten: „Alles wird gut.“

      Einen Moment glaubte sie selber daran.

      Dann musste sie wieder zu Mrs. Oliver zurück.

      Es dämmerte schon, als sie aus dem Seiteneingang trat. Sie musste sich beeilen, sie hatte versprochen, Vincent so rechtzeitig bei seinem Freund abzuholen, dass er sich noch das Fußballspiel im Fernsehen ansehen konnte. Erst als sie am Steuer saß, merkte sie es: Das portable Navigationsgerät mitsamt Kabel und Saugnapfhalterung an der Windschutzscheibe war verschwunden. Sie hatte Bildschirmfreie Sicht auf ihre Scheibenwischer, die Kühlerhaube und die vor ihr parkenden Autos der Kollegen.

      „Shit“, fluchte sie zaghaft und versuchte, sich an die Adresse des Freundes zu erinnern. Einmal war sie bisher nur dort gewesen, die Familie wohnte irgendwo im East End. Die Kupplung beschwerte sich kreischend bei ihr über den unsanften Start, Jess trat das Gaspedal durch und schoss über das Kopfsteinpflaster. Ein Blick auf die Uhr verstärkte ihr schlechtes Gewissen: das Fußballspiel hatte bereits begonnen.

      Jess nahm das Handyklingeln erst nach einer Weile wahr. Sie hatte in Gedanken auf das Lenkrad getrommelt und sich ihren Weg durch das unübersichtliche Straßengewirr gesucht. Es war erschreckend schnell dunkel geworden und sie irrte in ihrem Kleinwagen durch die Nacht, wie ein ausgesetztes Kind im Märchen. Das abendliche London war der große, schwarze Wald und auch die riesigen Leuchtreklamen änderten nichts daran, dass sie sich verloren fühlte. Sie hatte gerade die Tower Bridge hinter sich gelassen. Hatte sie sich wirklich so restlos und vollkommen verfahren? In einer holperigen Sackgasse wendete sie und griff dann nach ihrem Handy, das empört tutete. Es zeigte Vincents freches Teenagergrinsen.

      „Ich bin gleich da.“

      „Mum,