Kate Rapp

Keine Heilige


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sie vom Stuhl gerissen, auf dem sie gesessen war, um am Tisch ihre Hausaufgaben zu machen. Obwohl seit Wochen die Schule ausfiel, hatte ihre Mutter darauf bestanden, dass sie weiterhin die Buchstaben übte. Jeden Tag einen neuen. Sie hatte das Alphabet schon zweimal durch und heute war sie wieder bei K angelangt. Viele Wörter mit K kannte sie noch nicht. Katze. Kaninchen. Kohl. Kaffee. Krieg.

      Krieg! Krieg! Krieg!

      Es hämmerte in ihrem Kopf, dieses Wort, dass sie gar nicht aufgeschrieben und trotzdem in den letzten Minuten unaufhörlich gedacht hatte, während sie darauf wartete, dass ihre Mutter zu schreien aufhörte, dort draußen.

      „Lauf weg, schnell! Versteck dich!“, hatte sie ihr zugerufen und sie aus der Hintertür geschubst, während sie selber die Vordertür nahm in dem Moment, als das Nachbarhaus explodierte. Kurz darauf war auch ein Geschoss in ihr Zuhause eingeschlagen.

      Geschoss, das schreibt man mit G, dachte Dana und überlegte, ob es von jedem Buchstaben gute und schlimme Worte gab, oder ob einer unter ihnen vielleicht ungefährlich war. Ein Buchstabe, mit dem es nur wenige Wörter gab. Der so unbedeutend war, dass man mit ihm einfach keine schlimmen Worte bilden konnte. Vielleicht das X?

      Xylophon. X-Beine.

      Es war plötzlich sehr still da draußen.

      Dana öffnete die Augen und spähte zwischen ihren Fingern hindurch. Sie sah die breiten Rücken der Männer, die leblose Körper hinter sich herzogen und unterdrückte ein Schluchzen. Sie stopfte ihre Faust in ihren Mund, als das Weinen nicht aufhören wollte, denn eines hatte sie verstanden, obwohl sie noch nicht lesen und noch kaum schreiben konnte: diese Männer würden sie töten. Genauso, wie sie ihre Mutter (sie musste in ihre Knöchel beißen, um nicht zu schreien) und alle aus ihrem Dorf getötet hatten.

      Dana dachte schnell an den letzten Sommer. Als die Luft weich und warm und sicher war. Bis abends um zehn Uhr blieb es hell und sie durfte mit ihren Freundinnen Verstecken spielen, bis die Dunkelheit leise heran kroch. Sie war immer die letzte gewesen, die gefunden wurde, die unbestrittene Prinzessin des Versteckspiels. Ihre Freundinnen waren dann nach und nach alle weggezogen, nur ihre Mutter blieb und wartete auf den Vater, der manchmal da war und häufig fort.

      Dana konnte die Männer nicht mehr sehen. Sie zog das rechte Bein zu sich heran. Sie hatte darauf gesessen und es war eingeschlafen und kribbelte ganz fürchterlich. Vielleicht könnte sie kurz aufstehen, es ausschütteln. Da hörte sie wieder Schüsse. Ein empörtes Gackern erstarb in der nächsten Salve und Dana wusste, nun waren auch die Hühner tot. Erschöpft sank sie zurück. Natürlich hätten die Hühner sie auch nicht retten können. Sie waren keine Super-Hennen, die plötzlich Zauberkräfte entwickeln und die Männer mit einem Bann belegen oder zu Stein erstarren lassen würden. Sie waren keine verwunschenen Krieger einer höheren, großzügigen Hühnermacht, einer Königshenne, die Mitleid mit den Menschen und mit ihr, Dana, im Besonderen hatte. Die sie adoptieren und in ihre Hühner-Magie einweihen würde. Nein, von den Hennen war nie mehr zu erwarten gewesen, als Gegacker und auch das konnten sie nun nicht mehr. Dana schniefte leise und erstarrte. Hatten Sie sie gehört? Sie biss sich auf die Lippen und zählte in Gedanken langsam bis zwanzig. Sie würde hierbleiben, sich nicht von der Stelle rühren und zwanzig Mal bis zwanzig zählen. Sie konnte sich einfach nicht mehr an die weiteren Zahlen erinnern. Aber das musste reichen. Es war alles, was sie tun konnte. Zählen. Warten.

      Das Zittern ließ allmählich nach. Die Männer waren in eines der unversehrten Häuser gegangen und bereiteten sich gewiss einen Festschmaus. Danas Magen war leer und fühlte sich flau an. Sie legte den Kopf auf die Knie und schloss wieder die Augen.

      Da fühlte sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter. Ein fester, zupackender Griff und sie spürte, wie vor Schreck ihr Schlüpfer feucht wurde.

      Sie war entdeckt worden.

      „Psst, Dana! Da bist du ja!“

      Die Freude, die sie in seiner Stimme hörte, ließ ihr eigenes kleines Herz fast bersten. Darius, ihr großer Bruder Darius, der mit dem Rad im Nachbarort gewesen war, hatte sie gefunden! Er lebte! Er war ihnen nicht vor die Flinten gelaufen!

      „Wir müssen hier weg!“, kommandierte er flüsternd.

      „Sie haben auch die Hühner erschossen“, sagte Dana.

      Sie merkte, dass sie wieder zu zittern begann. Ihre Wangen waren plötzlich nass und fühlten sich kalt an.

      „Ich weiß, ich weiß, aber jetzt müssen wir abhauen.“

      Darius nahm ihre Hand. Gebückt krochen sie unter den Holzscheiten hervor und rannten los. In den Wald hinein. Danas Hose war klamm und scheuerte zwischen ihren Beinen. Sie schämte sich dafür und schwor sich, dass so etwas nie wieder vorkommen würde. Sie war jetzt kein kleines Mädchen mehr. Immerhin, sie war schon sechs.

      1

      Hoffentlich ist Mrs. Oliver endlich tot, dachte Jess und bremste. Der alte Fiat ächzte ein wenig, als er an der roten Ampel zum Stehen kam, ein Seufzen, das klang, als käme es geradewegs aus Jess` Brust. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie nicht wirklich geseufzt hatte. Sah sich um, als säße jemand neben ihr. Aber sie war allein. Natürlich war sie allein. Die Straßen waren noch leer, sie schienen im Halbschlaf da zu liegen, hatten sich noch nicht gestreckt und die Nachtlichter ausgeknipst, sich nicht zurecht gemacht für die Menschen, die auf sie hinausströmen und mit ihrer Hektik das Pflaster beleben würden. Ein graues, winterdunkles Betonlabyrinth, dass sie ins heftig pulsierende Herzen Londons führte. Jess fuhr die Strecke mit einer schlafwandlerischen Sicherheit. Sie kannte jede Kurve, jede Ampel, jeden Fußgängerüberweg. Sie wusste, wann sie beschleunigen konnte und wann es sich nicht lohnte, da die Ampel ohnehin gleich umschalten würde. Sie erahnte die Straßenführung auch im Dunkeln und schnallte sich jedes Mal automatisch ab, wenn die Reifen auf das Kopfsteinpflaster trafen, einige Sekunden, bevor sie auf den Parkplatz einbog, die Schranke sich hob und hinter ihr wieder schloss, sodass sie sich manches Mal fühlte, als tappe sie in eine Falle. Seit Jahren fuhr sie diese Strecke täglich, auch am Wochenende, wenn sie Dienst hatte, oder spät abends zur Nachtschicht.

      Sie stieg aus und vergaß, die Autotür abzuschließen, bevor sie auf das altmodische Backsteingebäude des King`s College Hospitals zu ging und in einem Seiteneingang verschwand.

      „Wieder kein Exitus heute Nacht!“

      Hank strahlte sie an, wie Jesus höchstpersönlich. Als habe er einen ihrer Patienten gar auferstehen lassen. Nimm dein Bett und gehund so weiter.

      „Nicht der geringste Hinweis auf ungeklärte Todesfälle, Miss Marple.“ Er feixte. Mit seiner blondierten Strähne und einem Kinn, spitz wie ein Handspaten, sah er aus wie ein eifriges Streifenhörnchen.

      „Mrs. Marple, wenn überhaupt. Ich bin verheiratet, wie du wissen dürftest. Und für dich immer noch Schwester Jessica.

      Es war wirklich nicht mehr komisch. Es war nur eine Namensgleichheit und sie hätte daran gewöhnt sein müssen. Immerhin war es ihr Mädchenname, sie trug ihn seit sechsunddreißig Jahren. Und es gab unzählige Marples in England. Ob sie sich alle ihr Leben lang diesen Mist anhören mussten? Vielleicht lag es auch einfach nur an Hank. Daran, dass er es einfach nicht lassen konnte, sie damit aufzuziehen. Danke Agatha, dachte Jess nicht zum ersten Mal (die Queen of Crime war für sie mittlerweile so etwas, wie eine ermüdende alte Verwandte, die sie widerwillig beim Vornamen nannte) und ging sich umziehen.

      Hank war, abgesehen von seinen unpassenden Witzen, ein netter Kerl mit einer offensichtlichen Phobie vor Sterbenden. Er gehörte zu der Sorte Kollegen, die anscheinend riechen konnten, wenn eine der Patientinnen kurz davorstand, sich für immer zu verabschieden (wie diese Hunde, die sich Todkranken zu Füßen legten oder die Katzen, die zu Sterbenden ins Bett sprangen). Allerdings mied er im Gegensatz zu den Tieren die Todgeweihten und ging auf Distanz. Er tauschte seinen Dienst unter fadenscheinigen Ausreden und staunte am nächsten Morgen bei der Übergabe, wenn es wieder einen erwischt hatte. Seine gute Laune, weil er in dieser Nacht alle seine Patienten erfolgreich und noch sehr lebendig durchgebracht hatte, umgab ihn