Kate Rapp

Keine Heilige


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war sie eine zu früh abgebogen. Jess kurbelte mit einer Hand am Lenkrad und fädelte sich schnell hinter einem der roten Doppeldecker-Busse wieder in die Hauptstraße ein. Ein gedrungenes Taxi bremste hinter ihr und hupte.

      „Ich glaube ich bin noch auf der Whitechapel Road.“

      „Ist das weit von der Cambridge Heath?“

      „Muss ich die rechts oder links runterfahren?“

      „Mensch, Mum! Du hast ja überhaupt keine Peilung!“

      Nein, die hatte sie nicht. Hätte sie aber gerne. So ein Peilsender wäre sogar genau das, was sie schon immer haben wollte. Sie hätte ihn Vincent bereits als Säugling unter die Haut pflanzen sollen, damit sie immer wüsste, wo er sich aufhielt. Dann hätte sie niemals Angst haben müssen, wenn er allein zur Schule und spät nachmittags wieder nach Hause ging. Hätte niemals an Kindesentführung und große böse Männer denken, sondern einfach nur auf ein beruhigendes Blinken auf irgendeinem Monitor blicken müssen. Und sie hätte ihn jetzt, verdammt noch mal, schneller gefunden, in diesem Straßengewirr! Aber für ein Handy mit GPS-Funktion war einfach nicht genug Geld da. Vielleicht sollte sie etwas mehr Geld in die Sicherheit ihres einzigen Kindes investieren und sich selbst einfach ein paar Bücher weniger kaufen?

      „Mum, hörst du mich? Du musst die Whitechapel Road weiter runter und dann links in die Cambridge Heath. Nach circa einem Kilometer wieder links und gleich die nächste rechts.“

      Das hörte sich einfach an. Das würde sie schaffen.

      „Hast du mich verstanden, Mum?“

      „Ja, hab ich.“

      „Und wie lange brauchst du noch?“

      „Kann sich nur noch um Lichtjahre handeln“, versuchte Jess zu scherzen, als sie endlich richtig abbog.

      „Noch neun Komma fünf Billionen Kilometer?“

      Woher hatte der Junge das nur? Wer wusste schon, wie lang (oder weit?) ein Lichtjahr war? Wie um Himmels Willen konnte er sich nur so ein Zeug merken?

      „Nein, so weit bin ich wirklich nicht entfernt.“

      „Gedanklich schon“, maulte Vincent, „mindestens.“

      Dann legte er auf.

      2

      Das Licht war gedämpft und der dicke Teppichboden schluckte jeden ihrer Schritte. Trotzdem sah Jan hoch als sie eintrat, als habe er sie gewittert.

      „Du bist zu spät.“

      Er sagte das ganz ruhig. Doch unter seinem Blick stellten sich die Härchen auf ihren Unterarmen senkrecht. Natürlich war er schon da. Er war immer schon da, er hasste Unpünktlichkeit. Nervös warf Xenia einen Blick auf die Uhr. Sie war nur vier Minuten zu spät, aber nach seiner Miene zu urteilen waren das vier Minuten zuviel.

      „Tut mir leid, Darling.“

      Sie lächelte, während sie ihm einen Kuss auf die Wange hauchte und hoffte, er würde ihren schnellen Puls nicht auf ihren Lippen spüren.

      „Setz dich“, sagte er, als sie sich zu ihm hinab beugte.

      Xenia hatte die oberen Knöpfe ihrer Bluse gerade weit genug aufgelassen, so dass er das Aufblitzen ihres roten BHs würde erkennen können. Er schmiegte sich perfekt an die vollen Rundungen ihrer Brüste, ein Anblick, von dem sie wusste, dass Jan gar nicht genug davon bekommen konnte.

      In ihrer Klasse in Belgrad war sie das erste Mädchen gewesen, das Brüste bekam. Richtige Brüste, nicht solche kleinen Mirabellen. Sie wuchsen schnell und Xenia entwickelte sich noch vor ihrer Cousine Roxana zu etwas, das ihr Onkel als „eine richtige kleine Frau“ bezeichnet hatte (wieder ein Grund mehr zur Eifersucht). Mithilfe dieses Busens gelang es ihr, ihre schlechten Kenntnisse in Algebra auszugleichen. Denn wenn Herr Kristic Xenia aufrief und sie wie immer ziemlich ahnungslos an der Tafel stand, hatte sie sich stets vorgebeugt, um sich am Knie zu kratzen oder ihren Strumpf hoch zu ziehen und ihm einen langen Blick auf ihre weichen, runden Brüste gewährt, die sie wie zwei große samtige Pfirsiche vor sich hertrug. Er hatte dann irgendwie wehmütig gelächelt, geseufzt und sie wieder auf ihren Platz geschickt.

      „Sehen Sie sich die Formel doch bitte noch einmal an“, hatte er gesagt und es hatte geklungen, als habe er einen Frosch verschluckt.

      Xenia rang sich ein weiteres Lächeln ab und tätschelte Jans manikürte Hand. Sie musste gute Miene zum bösen Spiel machen. Das Essen, erstmal mussten sie essen, dachte sie und nahm geziert ihm gegenüber auf einem der rot gepolsterten Stühle Platz. Um sie herum viel vergoldeter Stuck, satte Teppiche und Stofftapeten die aussahen wie die Desserts, die hier serviert wurden: blumig, köstlich und wie von Puderzucker übersät. Dieses Restaurant hatte einen Stern oder eine Kochmütze, was wusste sie schon, es war jedenfalls sehr fein und man sollte besser nicht zu spät sein, wenn man sich dort mit Jan traf. Denn darüber konnte er sehr böse werden und das würde er ohnehin noch im Laufe des Abends.

      „Hast du schon gewählt?“

      Ihre Stimme klang in ihren Ohren zu hell und sie musste einem Impuls widerstehen, aufzuspringen und auf die Toilette zu laufen. Vielleicht war ihr Make-Up verwischt, der Lippenstift abgeblasst. Sein Rot erinnerte sie immer an Blut, schmeckte aber weniger metallisch. Eigentlich nach gar nichts. Xenia kannte den Geschmack des Blutes. Sie presste nervös die Lippen aufeinander und stülpte sie nach innen, um die Farbe gleichmäßig zu verteilen. Sie wusste, dass sie gut aussah. Manche sagten sogar, sie sei schön. Jan sagte das auch. Er sagte es ihr jeden Morgen und jeden Abend und Jan musste es ja wissen. Er war Geschäftsmann und hatte beruflich viel mit Frauen zu tun. Er besaß einen Club. Und manchmal dachte Xenia, dass er sie wirklich liebte. Dass er sie brauchte und ohne sie nicht leben konnte, so wie er es ihr immer zuflüsterte, wenn er nachts an einer ihrer großen weichen Brüste lag und ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Er schniefte dann und jammerte und sie wiegte ihn in ihren Armen wie ein Baby und freute sich, dass er sich nicht scheute, ihr seinen weichen Kern zu offenbaren. Ihr wurde ganz warm ums Herz, wenn sie daran dachte. Und ein wenig mulmig. Vielleicht, überlegte sie und nahm das Glas Champagner, das der Kellner ihr reichte, sollte sie sich die ganze Sache doch noch einmal durch den Kopf gehen lassen.

      „Sieh dir die Karte an“, sagte Jan und faltete sie vor ihren Augen auseinander.

      Xenia begann zu lesen, während der Kellner die Flasche Champagner knirschend in einen eisgefüllten Sektkühler stieß. Sie musste sich möglichst rasch eine solide Grundlage verschaffen, von der aus sie argumentieren könnte. Ein leerer Bauch diskutiert nicht gern. Oder anders: wenn er hungrig war, wurde Jan immer aggressiv. Und das galt es zu vermeiden.

      „Nicht so verbissen schauen, Honey! Die Karte ist doch nicht auf chinesisch geschrieben.“

      Er hob sein Glas.

      „Auf unseren gemeinsamen Abend!“, sagte Jan und bleckte die Zähne.

      „Auf uns!“, antwortete Xenia und strahlte.

      Sie war überrascht gewesen, als Roxana und sie ihm vor einem Jahr durch einen Freund ihres Onkels in Belgrad vorgestellt wurden. Sie wusste, dass er fünfundzwanzig Jahre älter war als sie selbst. Ein viertel Jahrhundert! Länger als sie überhaupt schon auf der Welt war. Und sie hatte sich diesen Ausländer wirklich, wirklich alt vorgestellt. Aber sein Haar war noch nicht grau, er wirkte sportlich und schlank. Damals fiel ihr seine gute Figur und vor allem der Porscheschlüssel auf, den er ungeduldig zwischen den Fingern drehte. Porsche gab es in ihrer Heimat nicht. Extravagante Sportwagen hatte sie bisher nur auf den Fotos gesehen, die ihr Bruder aus irgendwelchen Zeitschriften ausgeschnitten und über sein Bett gehängt hatte.

      Es war ein schmales Bett gewesen und hatte im Keller des schäbigen Häuschens ihres Onkels gestanden. Der Keller war dunkel und feucht und Xenia fröstelte jedes Mal, wenn sie das Zimmer ihres Bruders aufsuchte, das nicht mehr war als eine Abstellkammer, an deren Wänden der Schimmel klebte (unter den Sportwägen, versteht sich). Sie sahen sich selten,