Kate Rapp

Keine Heilige


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er gesagt.

      Er war schon lange nicht mehr bei ihr gewesen, denn er hasste diese langen Sonntage. Außerdem hatte er häufig Wochenenddienst. Natürlich war das nur eine Ausrede. Er bekam Beklemmungen dort. Heute war es wieder so gewesen. Kaum war er nachmittags durch die gläserne Schiebe-Tür getreten, wollte er schon wieder umkehren. Er war ein gestandener Mann, groß und schlank, breitschultrig, trug meist einen Dreitage-Bart. Manche Frau hatte ihn schon mal mit einem Trapper verglichen. Und doch wollte er sofort fliehen von dort, wo die größte Bedrohung von den ausgeklappten Fußstützen zahlreicher Rollstühle ausging, über die er stolpern könnte. Die bleichen Alten, die darinsaßen, würden sich nicht zu einer Armee knochiger Geister formieren und ihn mit klappernden Gebissen angreifen. Sie ignorierten ihn, verströmten jedoch ihren Alte-Leute-Geruch wie Giftgas. Wolfe konnte kaum atmen hier und spürte trotz der Indifferenz der Kaffeeklatsch-Teilnehmer eine ungewohnte Panik in sich aufsteigen. Er kämpfte das Gefühl mit Mühe nieder und war danach so erschöpft, dass er zwei Stücke Kuchen aß, wovon ihm obendrein auch noch schlecht wurde.

      „Wer sind Sie?“, hatte sie geantwortet.

      „Was wollen Sie von mir? Wollen wir spielen?“

      Ihre Stimme klang kindlich und eifrig, als wolle sie unbedingt mitmachen bei einem Spiel, dessen Sinn sich ihr entzog. Doch Dabeisein war alles für sie. Den Sinn hatte sie ohnehin längst vergessen. Die Frage danach auch.

      „Gerne“, sagte Wolfe, der jegliche Form von Gesellschaftsspielen hasste. Er verließ sich darauf, dass die hinterhältigen Plaques in ihrem Hirn sowieso verhindern würden, dass sie im nächsten Moment noch wusste, wovon sie eben gesprochen hatten. Die letzten drei Jahre hatte sie bereits in diesem Heim verbracht, nachdem sie in ihrer Wohnung gestrandet war, wie auf einer fremden Insel. Sie hatte vergessen, wo die Toilette war und dass man den Herd wieder ausschalten musste. Sie wurde mehrfach desorientiert aufgegriffen, nur zwei Querstraßen von ihrem Haus entfernt, jedoch unfähig, sich an Rückweg oder Adresse zu erinnern, mit kleinen Schritten sich vortastend, auf dem Gehsteig und in Gedanken. Sie kam nie wieder bei sich an.

      Wolfe führte seine Mutter am Ellenbogen in eine stille Ecke des Aufenthaltsraumes, an dessen fröhlicher Pinnwand Ausflüge in den Zoo und gemeinsames Bingo angekündigt wurden. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es dabei mehr als vier aktive Teilnehmer gab.

      „Du siehst traurig aus, alter Mann“, sagte das Mädchen hinter dem Tresen mit einem leicht ostischen Akzent und stellte ihm ungefragt das dritte Pint hin.

      Er fühlte sich wirklich alt und war ihr deshalb kein bisschen böse. Vielleicht nicht ganz so alt wie die Heimbewohner von heute Nachmittag, aber irgendwie doch zu alt, um ein verlorener Sohn zu sein. Er lächelte schief, woraufhin sie strahlte, als habe sie gerade das schönste Kompliment ihres Lebens erhalten. Sie sah aus, als könnte sie seine Tochter sein, höchstens achtzehn, wenn man ihn fragte.

      „Nicht viel los heute, was?“, sagte er, um Konversation zu machen.

      „Nein. Ich meine, ja.“

      Sie wischte mit einem sauberen Lappen den Tresen trocken.

      „Seit es das Jasmin gibt, trinken die Leute ihr Bier lieber dort. Ist zwar teurer, aber dafür können sie auch noch Mädchen sehen. Halb nackt oder nackt, wissen Sie“, fügte sie irgendwie verschwörerisch hinzu.

      Wolfe nickte. Die „Leute“ waren Männer, immer nur Männer. Und Männer wollten Mädchen. Es war das alte Lied. Wahrscheinlich hatte auch sein Vater seine Mutter wegen einer jüngeren Frau verlassen. Seine Mutter war dreißig gewesen.

      Eine Frau im besten Alter, dachte er. So war sie mit ihrem Sohn in der kleinen Wohnung zurückgeblieben, und auch nachdem Wolfe ausgezogen war, hatte sie die Räume nicht verlassen. Bis sie sich darin irgendwann nicht mehr zurechtfand. Wolfe hatte durchaus registriert, dass ihr Gedächtnis Lücken bekam, dunkle Löcher mit gezackten Rändern, Mottenfraß im Gehirn. Zuerst konnte sie einfach komplexere Sachverhalte nicht mehr behalten. Die Maschen ihrer Gedanken fielen wie von einer Stricknadel herab und ribbelten ganze Gedankengebäude auf, sodass sie ins Stottern geriet und wütend verstummte. Natürlich hatte er, wie immer, die Schuld daran. Wenn er sie korrigierte, wies sie ihn herrisch zurecht.

      „Was weißt du denn davon? Du hast noch nie etwas Anständiges zu Wege gebracht.“

      Sie hatte Recht. Er war ein enttäuschend schlechter Schüler gewesen. Hatte die Schule abgebrochen („Versager!“) und sich mit Gelegenheitsjobs im Fitnesscenter und bei einer Sicherheitsfirma über Wasser gehalten, bis ihn eines Tages der Ehrgeiz packte. Er hatte das Abitur an der Abendschule nachgeholt („Abendschule?“ hatte sie mit einem Ekel in der Stimme gesagt, als spreche sie über Aids oder Lepra oder eine andere ansteckende Krankheit) und sich anschließend bei der Metropolitan Police beworben.

      „Du scheinst einsam zu sein.“

      Das Mädchen stand wieder vor ihm und beugte sich über den Tresen. Wenigstens hatte sie nicht mehr „alter Mann“ zu ihm gesagt. Er lächelte, hob sein Pint auf ihr Wohl und starrte sie durch das gebogene Glas und den schlierigen Bierschaum darin an.

      „Soll ich dir ein wenig Gesellschaft leisten?“

      Wolfe stellte sein Glas abrupt wieder ab.

      Sie war zu jung dafür. Viel zu jung, um solche Fragen zu stellen. War sie eine Professionelle? Verdiente sie sich ein Trinkgeld in dieser Bar und arbeitete nur unter dem Vorwand hier, um ihre Freier abzuschleppen?

      „Nein“, nuschelte er, „Nein, besser nicht.“

      „Komm, sei kein Frosch.“

      (Welches junge Mädchen drückte sich heute noch so aus?)

      „Laubfrosch oder Wetterfrosch?“

      Sie lachte tatsächlich über seinen schwachen Witz und zog die flache Holzkiste eines Backgammon-Spiels unter dem Tresen hervor.

      „Lass uns was spielen.“

      Er grinste erleichtert darüber, dass ihr Angebot nicht zweideutig gemeint gewesen war. Wahrscheinlich war sie doch nur eine ausländische Studentin, die sich ihre Seminare in englischer Literatur und Kulturanthropologie durch nächtliche Arbeit verdienen musste. Aber warum, verdammt noch mal, wollten heute alle mit ihm spielen? Sie würde er nicht vertrösten können. Sie sah nicht so aus, als würde sie schnell vergessen. Sie hatte einen cleveren Zug im Gesicht.

      „Dann brauche ich eindeutig noch was zu trinken“, sagte er und nickte zufrieden, als sie eine Flasche Scotch aus dem Regal zog und zusammen mit zwei Gläsern vor sich hinstellte. Das erste Glas kippte er in einem Zug hinunter. Vielleicht konnte er auf diese Weise den Nachmittag bei seiner Mutter vergessen, so wie sie sich ganz allmählich selbst vergessen hatte.

      Ganze Episoden aus ihrem Leben waren ihr plötzlich fremd geworden, als hätten sie nichts mit ihr zu tun. Sie vermied es, mit alten Bekannten zusammenzutreffen, die sie gut genug kannten, um in alten Zeiten zu schwelgen, doch nicht gut genug, um ihre Vertrauten zu sein. Anvertraut hatte sie sich zunächst niemandem. Hatte versucht, ihre Lücken zu verbergen, darüber hinweg zu reden, abzuwinken. Direkte Fragen brachten sie in Verlegenheit. („Hör auf damit, wir sind hier doch nicht bei einem deiner peinlichen Verhöre!“) Das war die Zeit der Frustration. Und sie hatte die Wut immer an ihm ausgelassen.

      Dann kam die Angst.

      Die Pin-Nummer ihres Bankkontos konnte sie sich noch aufschreiben, seine Telefonnummer auch. Doch sie dachte, sie sei ausgeraubt worden, als sie ihren Schmuck nicht mehr fand. Und als sie mehrfach in eine unverschlossene Wohnung mit weit offener Wohnungstür zurückkam, meinte, sie, Opfer einer Verschwörung geworden zu sein. Ihre Anrufe bei ihm waren vorwurfsvoll wie immer („Unternimm etwas! Irgendetwas wirst du für deine Mutter doch tun können, oder nicht?“) Aber dass sie ihn überhaupt um Hilfe bat, ihn, den sie immer nur schlechtgemacht und der ihre Erwartungen nicht erfüllt hatte, genügte ihm als Hinweis auf ihre Angst. Er baute neue Schlösser an ihre Tür („Wie viele Kilo Metall kann ich deiner Meinung nach an einem Schlüsselring mit mir herumschleppen?“), installierte einen Panikknopf („Stehen dann etwa plötzlich