Kate Rapp

Keine Heilige


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denn Sie?“, wusste er, dass er den Kampf verlieren würde. Es schwang eine neue Unsicherheit in ihrer Stimme mit, wie ein Alarm.

      Er wollte ihr zu Hilfe eilen, indem er sagte, „Ich bin es. Edward, dein Sohn.“

      Doch der verächtliche Blick, der ihn daraufhin traf, machte alles nur noch schlimmer. Er fragte sich, ob sie ihn auf diese Weise ansah, weil sie nicht wusste, wer er war oder weil sie es sogar sehr genau wusste.

      Er war niemals gut genug gewesen. Niemals so gut wie sein Vater.

      „Welcher Vater?“, fragte sie manchmal arglos, als wäre sie wie die Jungfrau zum Kind gekommen. Als wäre sie nicht im Boden versunken, wenn jemand andeutete, dass sie eine alleinerziehende Mutter war. Sogar nachdem er im Alter von siebzehn Jahren ausgezogen war, schämte sie sich noch immer dafür.

      Sie hatte ihm erzählt, sein Vater sei nach Amerika gegangen, um sein Glück zu machen. Ende der Siebziger nach Las Vegas. Ob er dort als Zauberer auftrat, hatte sich Wolfe gefragt, oder Tiger zähmte? Ein Casino leitete oder dort Croupier war? Jemand, der mit Zahlen und Karten jonglieren konnte, der das Vertrauen seines Chefs genoss und hin und wieder schwere Geldsäcke in einen unterirdischen Tresor trug? (Er hatte eindeutig zu viele Hollywood-Filme gesehen, James Bond und Danny Ocean ließen grüßen.) Vielleicht war sein Vater auch Elvis-Imitator geworden. Es kräuselten sich ihm die Fußzehen bei dieser Vorstellung, aber solange er damit Geld verdiente... Er hatte auf sehr verschiedene Art an diesen fiktiven Vater gedacht, der unerreichbar war und ihn offensichtlich vergessen hatte. Bis heute. Bis seine Mutter in einer kurzen Anwandlung von Klarheit herausplatzte: „Dieser Mistkerl. Sitzt in Carlisle und schaukelt Enkelkinder auf den Knien.“

      „Wieso in Carlisle?“, hatte er gefragt, völlig perplex. Ging es wirklich um seinen Vater?

      „Wieso, Wieso, Affen-Po!“, hatte sie singend geantwortet und war wieder in die unergründlichen Weiten ihres allmählich zerfallenden Geistes abgedriftet.

      Um halb sechs gab es Abendessen. Weich gekochte Hausmannskost, Roastbeef mit Kartoffelbrei und Erbsen in pappiger Mehlsoße. Alles sah gleich aus, auch Yorkshire Pudding (den sie hasste) oder Meat Pies. Es schmeckte auch alles gleich, aber sie aß es, Hauptsache es war püriert.

      Früher lag in ihrem Kühlschrank fast immer eine Blutwurst. In jeglicher Form. Haggis mochte sie am liebsten. Zungenwurst, harte Blutwurst, Blutwurst mit Speck. Blutwürste und Leberwürste mit Erbspüree und Kartoffelstampf waren ihr Leibgericht gewesen. Er hatte schon im Alter von drei Jahren von ihr den schwierigen Umgang mit den Wurstpellen gelernt. Und sie hatte noch lange an dieser Vorliebe festgehalten, da wusste sie schon ihren Namen nicht mehr. Doch als er erlebte, wie sie verwundert und hilflos vor ihren Würsten saß und nicht wusste, was sie mit ihnen anfangen sollte, war ihm klar, dass sie wirklich nicht mehr sie selber war. Sie war zurückgekehrt zum Geschmack ihrer frühen Kindheit und bevorzugte wieder Kartoffelbrei und Bananen-Mus.

      Die Flasche Scotch hatten sie halb geleert.

      Sie bauten nur noch Türmchen aus den Steinen, das Back-Gammon hatten sie aufgegeben. Das Mädchen hatte immer gewonnen (er hatte doch gewusst, dass sie clever war!) und bog sich immer noch vor Lachen. Sie war albern und sie war süß und hätte er eine Tochter gehabt, sie hätte so sein dürfen wie sie. Sie hieß Nadja. Nicht wirklich sein Fall, aber Namen waren nichts als Schall und Rauch. Namen konnte man ändern. Namen konnte man vergessen. So, wie seine Mutter sich nicht mehr an den Namen ihres Sohnes erinnerte. Wie sie vergaß, dass sie überhaupt einen Sohn hatte. Oder einen Mann. In diesen Momenten vermisste sie ihn zumindest nicht mehr und hatte ihre Enttäuschung und ihre Wut vergessen.

      Vielleicht war es ja auch eine Gnade, dass Stücke ihrer Biografie sich vor ihren Augen auflösten. Irgendwann würde auch noch der letzte Rest ihrer Geschichte verschwinden und sie völlig unschuldig zurücklassen, nackt und bloß wie ein Säugling zunächst, dann wie ein Embryo, eine einzelne Zelle im Universum. Ein Nichts.

      Wolfe war mit der Vorstellung aufgewachsen, dass die Seele den Leib überlebte. Das hatte er so im Religionsunterricht gelernt, in den sie ihn schickte, weil die Religion das Einzige war, woran sie noch glaubte. Jesus würde sie niemals verlassen. Doch nun war ein Großteil ihrer Seele bereits vor ihrem Leib gestorben. Wie gut, dass sie davon nichts mehr mitbekam (vielleicht war er doch gnädig, ihr Gott?). Sie saß in einem viel zu großen Polyestersessel vor ihm, kaute an ihren Fingernägeln und wartete in Unwissenheit und aller Unschuld auf ihren zweiten Tod.

      Er dagegen würde zurückbleiben und sich an alles erinnern.

      Daran, dass er es ihr schon als kleiner Bub nicht hatte Recht machen können: „Wenn du nicht lesen lernen willst, bitte sehr, dann kommst du eben auf die Sonderschule, zusammen mit all den zukünftigen Verbrechern.“

      Daran, dass er nie gut genug war: „Wieso schreibst du nur eine drei? Wenn du nicht klug genug bist, dir die einfachsten Dinge zu merken, dann geh Leichen waschen. Da verdienst du wenigstens ordentlich und brauchst nicht zu denken.“

      Daran, dass sie ihn offensichtlich nicht so liebte, wie eine Mutter ihren Sohn lieben konnte, oder sollte: „Geh mir aus den Augen. Du machst mich wahnsinnig.“

      Er griff nach der Scotchflasche und trank sie alleine aus.

      Es war kurz nach Mitternacht, als er die Kneipe verließ.

      „Taxi!“, brüllte er.

      Natürlich war weit und breit kein Taxi zu sehen. Verdammt noch mal, trieben sich alle nur noch in den Yuppie-Gegenden herum? Was war aus den guten alten Bahnhofsvierteln geworden?

      Er schleppte sich an dem grell blinkenden Schaufenster einer Peep-Show vorbei und fragte sich, warum das Straßenpflaster sich immer wieder auf ihn zu bewegte. Er streckte die Arme vor sich aus, um die Steine abzuhalten, sollten sie auf ihn hereinbrechen. Doch als er den Kopf hob merkte er, dass er selbst es war, der so stark torkelte, dass er wieder und wieder dem Pflaster bedenklich nahekam. Auf den nächsten hundert Metern würde er stürzen, keine Frage. Er hielt an und lehnte sich gegen eine Mauer. Weiter vorne leuchteten diskret die Eingangslampen des „Jasmin“. Vielleicht sollte er dort mal auf den Busch klopfen?

      Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und nahm seinen einsamen Marsch wieder auf. In diesem Moment raste ein dunkler Geländewagen dicht an ihm vorbei. Beinahe hätte er ihn überfahren. Wolfe presste sich an die Wand und schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, war der Wagen schon wieder fort und er sah nur noch den Schatten eines Mannes in den Eingang des Clubs huschen.

      „Scheißkerle!“, rief er wütend und hob die Hand.

      Da brauste das nächste Auto heran. Wolfe warf sich instinktiv zur Seite, die Hand noch erhoben. Der Wagen hielt direkt neben ihm.

      „Taxi?“, fragte ein freundliches Gesicht hinter heruntergelassener Scheibe.

      „Geht doch“, murmelte Wolfe, kletterte hinten auf die Sitzbank und nannte dem dunkelblauen Turban seine Adresse.

      Als er sich auszog, nestelte er mit unsicheren Fingern an seinem Halfter. Legte es ab und zog die Pistole heraus. Er bettete sie unter sein Kopfkissen und klopfte zärtlich dreimal oben drauf. Das hier war es, worauf es ankam. Seine Walther P99. Und sie war nicht mit Platzpatronen gefüllt.

      4

      Wenn Les etwas an dieser Stadt nicht leiden konnte, dann, dass sie niemals aufhörte zu leuchten. Neonreklamen flackerten anzüglich, Laternen tauchten ihre Umgebung in ein Fantasyfarbenes Leuchten. Geschmackloses, allgegenwärtiges Licht! Es verzerrte die Tatsache, dass die Erde ein dunkler Ort war. Kalt und unwirtlich. Außerdem störte es ihn beim Denken. Ließ man sich erst einmal auf die Dunkelheit ein, dachte er, dann war es erstaunlich, wieviel der Mensch sehen konnte. Auch nachts. Besonders nachts. Die Sterne zum Beispiel. Die Sterne konnte man nur an Orten sehen, die nicht durch künstliches Licht verschmutzt waren. Und fotografieren konnte man sie auch nur dort. Mit einem Stativ und viel Geduld, einer warmen Jacke und einem kleinen Thermobecher heißen Tees. Tee, dachte Les, als er in eine schmale Gasse einbog, war in jedem Fall unverzichtbar. Er hatte