Kate Rapp

Keine Heilige


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als ein Damaszener Schwert.

      „Ich kann auch nicht Stricken, wenn sie das interessiert“, sagte sie patzig.

      „Nicht wirklich. Aber die Zimmernummer. Daran wäre ich sogar außerordentlich interessiert.“

      „Zimmer hundertachtundzwanzig. Aber ich muss Sie warnen. Die Oberärztin hat ihr strenge Ruhe verordnet. Ihre Kollegin hat sie auch schon rausgeschickt.“

      „Constable Pym?“

      „Detective Constable Lucy Pym, genau die.“

      Hörte er da einen Funken Ironie?

      „Sie holt sich gerade einen Kaffee.“

      „Dann muss ich mit Ihrer Oberärztin sprechen. Dringend.“

      „Sie macht gerade Visite.“

      „Dann muss sie das eben kurz unterbrechen. Ich muss wissen, ob die Frau vernehmungsfähig ist, oder nicht.“ Er breitete die Hände aus und zog die Schultern hoch, als wäre nicht er es, der diese Forderung stellte. Als sei er nur Vertreter einer höheren Macht (was er, genau genommen ja auch war, der Staatsmacht).

      „Geduld scheint nicht gerade eine Ihrer Stärken zu sein“, stellte Schwester Jess fest und lächelte zum ersten Mal.

      „Dann müssen eben Sie mir ein wenig Rede und Antwort stehen, um die Wartezeit zu überbrücken“, sagte Wolfe. „Haben Sie eine Minute?“

      Schwester Jessica sah ihn von der Seite an.

      „Was wollen Sie wissen?“

      Ihr Ton war plötzlich ganz geschäftsmäßig, vernünftig irgendwie, und hatte nicht mehr diesen ironischen und leicht aufmüpfigen Oberton, mit dem sie ihn empfangen hatte. Er spürte einen leisen Stich der Enttäuschung.

      „Waren Sie hier, als die Patientin ankam?“

      „Nein, ich übernahm sie nach der Operation von Frau Dr. Mackintosh und brachte sie in ihr Zimmer. Da schlief sie noch.“

      „Gab es irgendwelche Besonderheiten?“

      „Eigentlich nicht. Puls und Blutdruck waren normal, die Bluttransfusionen hatte sie gut vertragen, ihre Verbände waren trocken. Das habe ich zweimal kontrolliert. Und als sie wach wurde, konnte sie sich an nichts mehr erinnern.“

      Wolfe, der bei ihrem medizinischen Bericht nur mit halbem Ohr zugehört hatte, war plötzlich hellwach.

      „Sie erinnert sich nicht mehr? Sie meinen, sie hat Amnesie?“

      „Die Diagnose stellt Dr. Mackintosh. Ich gebe nur weiter, was die Patientin sagte.“

      „Sie wusste nicht, was passiert war?“

      „Nein.“

      „Ihren Namen?“

      „Nein.“

      „Sonst irgendwas?“

      „Zeitlich und räumlich nicht orientiert, würde ich sagen.“

      „Scheiße.“

      „Naja. Sie hat überlebt, immerhin.“

      Wolfe wendete sich brummig ab. Ja, überlebt hatte sie, aber in was für einem Zustand! Eine Zeugin mit Amnesie, na prima! Was hatte er wieder für ein Glück.

      „Aber hören Sie mal“, wandte er sich wieder an die jüngere und größere Version von Miss Marple. Sie strahlte Sicherheit und Weichheit aus, wie eine große, reinrassige, blonde Maine-Coon. Etwas samtpfotig Vertrauenswürdiges. Gepaart mit ihrem unvergleichlich waffenfähigen Blick. Dem würde gewiss nicht das Geringste entgehen.

      „Ich könnte Ihre Hilfe gebrauchen. Ich meine, ich verstehe, dass Sie dieses ganze Gerede über die alte Madam Spürnase nicht mehr hören können. Aber womöglich verbirgt sich doch so etwas wie eine angeborene Neugier in Ihnen? In Analogie zu ihrer literarischen Namensschwester?“

      „Nein.“

      „Sie lehnen es ab, der Polizei zu helfen? Sie wollen doch nicht, dass ich sie wegen Behinderung einer Polizeiermittlung belange?“

      „Ich meine, ich besitze keine angeborene Neugier. Nicht über das übliche Maß hinaus. Es gibt in meiner Familie keine Miss-Marple-Mentalität. Es ist nur ein Name. Der Name einer erfundenen Person.“

      „Schön, schön. Aber Sie, also Sie stehen leibhaftig vor mir. Sie könnten sich also nützlich machen und ihre Patientin im Auge behalten.“

      „Das tue ich doch sowieso.“

      „Umso besser, nichts für ungut.“ Er versuchte sich an einem versöhnlichen Grinsen und wandte sich dem Ausgang zu.

      „Pures Glück, wenn sie mich fragen, dass der Fotograf sie gefunden hat“, rief sie seinem Rücken hinterher. Wolfe drehte sich abrupt wieder um und packte Schwester Marple an ihrem ehrenhaften Oberarm.

      „Welcher Fotograf?“

      Sie sah ihn ganz erschrocken an, fuhr aber die Krallen nicht aus. Da kam Lucy Pym um die Ecke. Sie nahm gerade einen Schluck ihres Kaffees, als Wolfe Mrs. Marple stehenließ und auf sie losstürmte.

      „Verdammt, Pym! Was ist denn das für eine Dödelei mit diesem Zeugen? Bringen Sie mir diesen Fotografen, verflucht noch mal!“

      DC Lucy Pym verschluckte sich vor Schreck und verbrannte sich die Zunge.

      7

      Das Licht ging aus und er stand im Finstern. Diese vollkommene Dunkelheit, die ihn umgab, war fein wie Nebel und undurchdringbar. Eine Dunkelheit, die an seiner Netzhaut abprallte, ihn verschluckte. Die Augen weit aufgerissen streckte er die Hand aus nach dem Schalter, der hier irgendwo von der Decke baumelte, ein dürres Stück Schnur mit einer Plastikkugel am Ende. Seine Hand fuchtelte wirr umher und malte unsichtbare Zeichen in die zähe Luft, bis sie die Schnur streifte. Er griff nochmals danach (da war sie ja!), zog mit einem Ruck und die Birne leuchtete auf. Rot, hinter die Gitter einer Kellerlampe gesperrt.

      Es konnte losgehen.

      Vorsichtig öffnete Les die Entwicklertrommel. Diese Black-Box, in der aus einem Entwicklungskeim schwarzes Silber entstand, das virtuelle Bilder in sichtbare überführte. Für die meisten eine unhinterfragte chemische Reaktion, war es das Wesen des Silberhalogenids, dass sich daraus durch Licht Elektronen abspalten ließen. Es machte Klick, die Blende öffnete sich für den Bruchteil einer Sekunde und die Lichtstrahlen lösten die Elektronen, die auf dem Film Silber-Ionen zu Silberatomen reduzierten. Die Magie der Fotografie, wie er sie täglich vollzog. Früher. Jetzt, im Zeitalter der Digitalfotografie, nahm auch er sich kaum die Zeit dafür.

      Zwar hingen keine Gedärme vom Galgen des Krankenhausbettes, trotzdem sah seine schöne Tote so bleich aus, als sei all ihr Blut verspritzt, nachdem sie operiert worden war, mit schmerzhaft scharfen Skalpellen und Scheren. Konnten sie sie denn nicht einfach in Ruhe lassen? Sie war vollkommen, so, wie sie war. Sogar wenn sie gestorben wäre. Oder besonders dann? (Er wagte es nicht, diesem Gedanken zu viel Raum zuzugestehen, aber er war da und schwebte wie ein leiser, modriger Hauch unablässig durch sein Bewusstsein).

      Er hatte die Schweißperlen auf ihrer Stirn gesehen. Und das Muttermal über ihrer Lippe. Er hatte es fotografieren müssen, einmal, zweimal. Die Tote hatte Graces Mund.

      Irgendwie war es eine seltsame Ironie, dass ausgerechnet er keine Fotos von Grace besaß. Sie hatten sich nur drei Monate gekannt, bevor sie beschlossen zu heiraten. Nach ein paar gemeinsamen Ausflügen hielt er in einer Hähnchenbude um ihre Hand an. Sie hatte eigentlich nur Hunger, doch sie sagte auch „Ja“ zu ihm (nicht nur zum Hühnerbein).

      Die Fotos von diesen Ausflügen sind wackelige Schnappschüsse. Portraits wollte sie nie von sich machen lassen, war zappelig, hielt nie still. Manchmal schnitt sie Grimassen und es gelang ihm nicht, ihr mit der Kamera nahe zu kommen. Sie zog sich im selben Moment zurück, in dem er den Fokus auf sie richtete.