wollten schon gehen, als die alte Frau aufstand und uns zu verstehen gab, sie habe noch etwas für uns. Sie brachte einen alten, verstaubten und verschlissenen Wehrmachtstornister. Dies sei das Vermächtnis des toten Soldaten, sagte sie.
Ich bedankte mich überschwänglich, ließ von meiner Barschaft da, was ich entbehren konnte und nahm mir vor, regelmäßig Pakete zu schicken. Dann reisten wir ab. Schon nach wenigen Kilometern hielten wir an und untersuchten den Tornister. Er enthielt ein paar alte, vertrocknete Zigaretten, Unterwäsche, Bilder von meiner Großmutter, meiner Mutter im Alter von zwanzig Jahren zusammen mit mir als Säugling und ein Tagebuch. Ganz unten lag ein großes, sehr dickes Buch. Der Umschlag musste einmal blau gewesen sein, doch war von der Farbe nicht mehr viel zu erkennen. Stattdessen war er übersät mit eingetrockneten Blutspritzern und Brandflecken. Sein Inhalt bestand aus handgeschriebenen Seiten in einer Schrift und Sprache, die wir noch niemals gesehen hatten. Das Material der Seiten kann ich bis heute nicht definieren, doch unstrittig ist ihr hohes Alter.
Nach Deutschland zurückgekehrt suchten wir nach Leuten, die uns den Text übersetzen sollten. Aber wir fanden nicht einmal jemanden, der den Ursprung beziehungsweise den Namen von Schrift und Sprache hätte sagen können. Auch das Tagebuch brachte uns nicht weiter. Zwar war es von großer Aussagekraft, was die Erlebnisse meines Vaters betraf, und ich habe mir vorgenommen, es bei Gelegenheit an anderer Stelle zu veröffentlichen. Aber über das geheimnisvolle Buch erfuhren wir lediglich, dass mein Vater es aus einer uralten, orthodoxen Dorfkirche gerettet hatte, die in Flammen gestanden war. Die Ursachen des Brands und warum er sich in Lebensgefahr begeben hatte, wurden hingegen ausführlich beschrieben.
Wir gaben schließlich auf und kümmerten uns nicht weiter um den russischen Fund, bis mir der Herr der Ringe von John Ronald Reuel Tolkien in die Hände fiel. Dort entdeckte ich ähnliche Schriftzeichen wie in meinem Buch. Tolkiens Werk wurde für mich zum ‘Stein von Rosette’. Mit seiner Hilfe gelang es mir, den geheimnisvollen Text zu entschlüsseln.
Die Übersetzung des Textes war nicht einfach, und dies nicht nur, weil die alte Sprache erst einmal rekonstruiert und Übersetzungshilfen angefertigt werden mussten. Ich bin kein Fachmann, aber ich kenne in der Übersetzerzunft zwei Richtungen. Die eine will den fremden Text so originalgetreu wie möglich übertragen, auch auf die Gefahr hin, dass man ihn nur schwer versteht. Geprägt ist dieses Bemühen von der Ehrfurcht vor dem Geist und der Sprache des Originals. Die andere Richtung hat nur den eigenen Leser im Auge. Seinem Denken und seinem Sprachgebrauch unterwerfen diese Übersetzer das Originalwerk, auch wenn dadurch die Quelle radikal angepasst und verändert wird. Ich habe mich entschlossen, der zweiten Übersetzungsschule zu folgen.
Es ging für mich darum, den Text für heutige Menschen zu erschließen. Lange habe ich überlegt, ob ich die moderne Sprache benutzen solle. Die Verhältnisse des Buches entsprechen mehr unserem Mittelalter als der Gegenwart. Dennoch habe ich neben sprachlichen Anleihen aus der Vergangenheit durchaus die Gegenwartssprache und moderne Begrifflichkeiten benutzt. Dies scheint mir auch gerechtfertigt, denn, wenn wir die großen Zeiträume bedenken, die uns von dem Zeitalter des Berichtes trennen, so ist uns das Mittelalter noch sehr nah. Ich hoffe, ich habe mein Ziel erreicht, altes Denken und antiquierten Sprachgebrauch für die Gegenwart zugänglich zu machen. Sicher ist mir dies nicht immer gelungen, und manchmal bin ich wahrscheinlich auch über mein Ziel hinausgeschossen. Deshalb bitte ich für meine Übersetzung, die vielleicht sogar zu sehr dem sprachlichen Zeitgeist verhaftet ist, um Nachsicht.
Für Organisationen, die im Blauen Buch genannt werden, habe ich vergleichbare Einrichtungen aus unserem Kulturkreis eingesetzt. Ich habe bei unseren Genealogien und bei unseren Königshäusern und unseren gesellschaftlichen Strukturen Anleihen gemacht. Dadurch wird die fremde Kultur sicher nicht genau wiedergegeben, aber verständlicher. Auch die Klöster, die in dem Blauen Buch eine große Rolle spielen, sind natürlich nicht mit den uns bekannten Einrichtungen vergleichbar. Aber in Ermangelung analoger Begriffe habe ich mir hier einige Ungenauigkeiten gestattet. Bemerkenswert erscheint mir übrigens die Ähnlichkeit dieser „Klöster“ mit denen aus dem asiatischen Kulturbereich. An anderer Stelle meiner Quelle, die ich, um den Text zu straffen, weggelassen habe, wird sogar, ähnlich wie im Zen, die Kunst des Bogenschießens erwähnt. Auch der Kampf als meditative Übung musste damals schon gepflegt worden sein. Vergleiche zum Kung-Fu drängen sich auf.
Von der Wissenschaft meiner Zeit habe ich wenig Hilfestellung erfahren. Keiner der Lehrstühle, die ich mit der Bitte um Unterstützung angeschrieben habe, zeigte sich zuständig. Die Archäologen verwiesen mich an die Philologen und umgekehrt. Ich bekam nicht einmal einen Termin bei einem Ordinarius, dem ich mein Manuskript hätte vorlegen können. Derartige Funde passen scheinbar nicht in das Paradigma heutiger Wissenschaft.
So war ich genötigt, mich autodidaktisch in verschiedene Disziplinen einzuarbeiten und Laboruntersuchungen aus eigener Tasche zu zahlen. Natürlich habe ich versucht, mit den modernsten Methoden das Material datieren zu lassen und habe Substanzanalysen in Auftrag gegeben. Dennoch weiß ich bis heute nicht, woraus die Seiten gemacht sind, und weshalb sie so viele Jahrtausende unbeschadet überstanden haben. Alt sind sie auf jeden Fall, wenngleich die wissenschaftliche Altersbestimmung die nicht gerade glaubhafte Angabe von 170.000 Jahren ergeben hat. Da mir jedoch die finanziellen Mittel fehlen, konnte ich bisher keine Kontrollanalysen durchführen lassen.
Über Leben und Zeit der Autoren war auch nichts Objektives in Erfahrung zu bringen, so dass man sich auf die Quelle selbst verlassen muss. Offensichtlich wurde das Blaue Buch von mehreren Autoren verfasst. Nur so sind Stilbrüche innerhalb des Textes zu erklären und die genaue Kenntnis von Geschehnissen, die sich gleichzeitig an verschiedenen Orten zugetragen haben. Meine Vermutung geht dahin, dass der Text von den alten Zauberern aus Quantam stammt. Dafür spricht zum Beispiel der auktoriale Duktus der Erzählung. Aber auch in der Geschichte selbst werden meiner Ansicht nach verschiedene Hinweise auf diese Urheberschaft des Blauen Buches gegeben.
Bis heute weiß ich nicht, ob die beschriebenen Geschehnisse auf wahren Begebenheiten beruhen oder der Fiktion zuzurechnen sind, die vielleicht aus religiösen Gründen oder im Rahmen eines Totenkults zu Papier gebracht wurden. Welche Absicht verfolgten die Autoren? Ging es ihnen um Geschichtsschreibung, geistige Auseinandersetzungen oder nur um Unterhaltung? Wollten sie ihr Publikum ermutigen, oder verfolgten sie das Ziel nationale Identitäten zu schaffen? Ich will hier nicht weiter spekulieren. Einer späteren Forschung muss es vorbehalten bleiben, die Intentionen der Chronisten herauszufinden. Aber es liegt an uns, welche Bedeutung wir diesen Texten heute geben, was sie uns sagen.
Manche der Themen und Aussagen mögen dem heutigen Leser bekannt vorkommen. Wie ein Spruch des Predigers besagt, gibt es eben nichts Neues unter der Sonne, und das, was gewesen ist, wird wieder sein.
Vielleicht gibt es eine kontinuierliche Überlieferung aus den alten Zeiten bis in die Gegenwart? Vor dem, was wir Menschengedenken nennen, existierten schon Menschen, und wir wissen wahrscheinlich mehr von ihnen, als uns bewusst ist. Die Wissenschaft ist gegenüber einer Kontinuität der Überlieferung skeptisch. Auf jeden Fall aber leugnet sie die Existenz von Menschen mit einem uns vergleichbaren Bewusstsein in einer so fernen Zeit, wie der in diesem Bericht beschriebenen. Folgt man den Dogmen unserer Wissenschaft, so beginnt die Menschheitsgeschichte etwa zehntausend Jahre vor Christus. Zuvor soll es nur primitive Wesen gegeben haben, die allenfalls mit Keulen aufeinander einschlugen. Als Begründung für diese fragwürdige These wird der Mangel an archäologisch fassbaren Quellen angeführt, und etwas wofür es keinen handfesten, greifbaren Nachweis gebe, existiere ganz einfach nicht. Was aber als Beweis anerkannt wird, das bestimmt wiederum diese Wissenschaft. So schließt sich der Kreis, und neue Erkenntnisse haben keine Chance in den Kanon dessen, was wir Wahrheit nennen, aufgenommen zu werden. Wie viele später als richtig erkannte Tatsachen hat die so genannte Wissenschaft in den vergangenen Zeitläufen schon geleugnet und jeden, der sie verkündete, geächtet und sein Leben bedroht!
Es ist ein seltsames Geheimnis um die Wahrheit. Ausgerechnet die, die sich ihr verpflichtet fühlen, bekämpfen sie am stärksten.
So hat auch mein Manuskript wenig Aussicht, Gnade vor wissenschaftlichen Augen zu finden. Behauptet es doch, dass bereits 170.000 oder noch mehr Jahre vor der Zeitenwende Wesen gelebt haben, die uns sehr ähnlich waren. Ihr Denken und Fühlen entspricht