Horst Neisser

Centratur I


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trug, den Schädel ein und dem anderen mit einem Schlag seiner Handkante den Kopf vom Hals. Ohne die beiden Toten, deren Fackeln am Boden verglommen, noch weiter zu beachten, reckte sich der Alte und streckte seine Arme in die Höhe.

      „Wachet auf!" rief er und seine Stimme war wie Donnergrollen. „Wir haben zu lange geschlafen!"

      Das mächtige Heer begann sich in der Finsternis zu regen.

      Dann erhob der Mann seine Stimme erneut und rief: „Öffne dich!"

      Bei diesen Worten brach der Berg auf. Donnernd stürzten riesige Felsbrocken zu Tal. Bäume wurden entwurzelt, knickten wie dünne Stäbe und rutschten die Hänge hinab. Die Erde bebte und das Gestein teilte sich. Strahlendes Licht flutete in das tausendjährige Dunkel des Berges. Die Sonne drängte in die Halle der Nacht. Das Heer, aus seinem Schlaf erwacht, ordnete sich und nahm Aufstellung. Zuerst kamen die Reiter und dann die Fußtruppen. Ormor bestieg sein Pferd und setzte sich an die Spitze.

      Niemand sprach, als der Zug die Höhle verließ. Nur der Huftritt vieler Pferde und das Trampeln schwerer Stiefel durchbrachen die Stille. Am Fuß des Berges kamen die Krieger an einer Lichtung vorbei. Dort standen Pferde und Mützen mit langen Federn hingen an Ästen; aber keiner der Vorüberziehenden achtete darauf.

      Der Tod des Königs

      Der Tag war zwar noch kalt, aber die klare Luft und die Sonne ließen den langen Winter vergessen. Meliodas, der Hochkönig von Centratur und Herrscher über Whyten, war auf dem Weg von Cantrel, seinem Regierungssitz, nach Hispoltai in Equan. Obwohl er aus dem Geschlecht der Großen Könige stammte und seine Lebensspanne weit über von normalen Menschen hinausreichte, war sein Haar mit den Jahren grau geworden und seine Schultern gebeugt.

      Er ritt auf seiner Lieblingsstute, Weichfell, und an seiner Seite hing das Schwert seiner Väter, das er Aràntila genannte hatte, was bedeutet ‘Unerbittliche Siegerin’. Der König war in Begleitung seiner Frau, Lunete, seiner zwölfköpfigen Leibwache und der beiden Edlen Misselbeck und Rankohr. Obgleich Meliodas den Weg gut kannte, hatte ihm Equan drei Führer entgegengeschickt, die nun an der Spitze des Zuges ritten. Zu dem Gefolge gehörten noch zwei Abgesandte aus dem Norden des Reiches. Sie hatten sich mit dem König auf die Reise begeben, um dem Herrscher in einem günstigen Moment ihr Anliegen vorzutragen. Nicht vergessen werden sollte bei dieser Aufzählung die Dienerschaft, die mit den Packpferden hinter den Nobilitäten ritt.

      Der König war schon seit dem Vortag, als sie Cantrel verlassen hatten, guter Dinge und sang ein Lied nach dem anderen. In seinen Gesang fiel die ganze Reisegesellschaft respektvoll ein. Man war am frühen Morgen bei Dunkelheit vom Nachtlager aufgebrochen und machte am späten Vormittag die erste Rast. Die Diener stellten rasch Zelte auf und deckten die Tische reichlich. Wenn ihr Herr auf Reisen war, so sollte es ihm an nichts fehlen, dies verlangte ihre Ehre. Es gab süße Kuchen und köstlichen Tee. Die Laune des Herrschers wurde bei diesem zweiten Frühstück noch besser. Reyknang, der Gesandte aus Luran, sah dies mit Freuden und beschloss, sein Anliegen schon jetzt vorzubringen. Er hatte nicht damit gerechnet, den König so früh in leutseliger Stimmung vorzufinden und wollte die Gunst der Stunde nutzen. Wenn seine Mission frühzeitig zu einem erfolgreichen Ende käme, bräuchte er den beschwerlichen Weg nach Equan nicht mitzumachen. Er könnte umkehren und in Cantrel das Hofleben genießen.

      Respektvoll wartete er, bis Meliodas gespeist hatte. Dann näherte er sich ihm demütig, die Mütze in der Hand.

      Ob er die allergnädigste Majestät wohl kurz sprechen dürfe, fragte er bescheiden.

      Meliodas lachte, wenn es denn unbedingt sein müsse, und winkte dem Vasallen zu, auf einem Sitz neben ihm Platz zu nehmen. Reyknang gab sich unsicher und schwieg.

      Der König ermunterte ihn mit einer Frage nach seinem Begehr.

      Der Mann aus dem Norden tat, als wolle er sich ein Herz fassen, und sprach, sein Volk, seine Fürsten und auch er selbst seien stets der Meinung gewesen, es gebe keinen fürsorglicheren und gnädigeren König als Meliodas, den Sohn des Trisa. Hier unterbrach ihn der Herrscher mit einer gelangweilten und etwas unwilligen Handbewegung, aber er war noch immer gut gelaunt.

      Reyknang beeilte sich fortzufahren. Weil man sich in der Huld des Königs wisse, habe man beschlossen, sich mit drückenden Sorgen an ihn zu wenden.

      Das erwarte er auch, warf der Herrscher ein. Aber der Gesandte möge nun endlich zur Sache kommen, man wolle weiter reiten.

      Dieser sah, dass der König ungeduldig und unwillig wurde und beeilte sich mit seiner Rede. Man habe sich in seinem Land große Bauvorhaben vorgenommen, die nicht nur für Luran wichtig wären, sondern auch zur Ehre des ganzen Reiches beitrügen und damit den Ruhm des Königs mehren würden. Er habe Pläne und Aufrisse dabei und könne Seine Majestät deshalb über alle Einzelheiten genauestens unterrichten.

      Wieder zuckte er unter einer ungeduldigen Handbewegung von Meliodas zusammen.

      Kurz und gut, diese Bauten würden sehr viel Geld kosten. Man habe sich deshalb entschlossen, den König zu bitten, die Steuern des Landes Luran für zehn Jahre auszusetzen. Danach sei man gerne bereit, wieder den schuldigen Tribut zu zahlen.

      Der Herrscher sah den Gesandten einen Moment verwundert an. Dann antwortete er mit einem barschen „Nein" und erhob sich.

      Er klatschte in die Hände und rief zum Aufbruch. Als er aufs Pferd stieg, schien es, als habe seine gute Laune keinen Abbruch erlitten. Lunete, die Königin aus achajischem Geschlecht, lenkte ihr Pferd neben das ihres Gemahls. Sie war noch immer wunderschön, obgleich sich schon die ersten Falten um ihre Augen und Mundwinkel zeigten. Sie stammte von einem fernen Kontinent und hatte lange auf den geliebten Mann, der um seinen Thron kämpfte, warten müssen. Sie hatte ihre Entscheidung nie bereut, so war zumindest die Meinung ihrer Umwelt. Aber die wenigsten sahen, dass das Leben an der Seite des Königs nicht immer einfach war.

      Meliodas hatte erst in späten Jahren die Bürde der Regentschaft übernommen. An das Hofleben, die vielen Menschen um ihn, das bunte Treiben und das Wohlleben, konnte er sich nur schwer gewöhnen. Er war die meiste Zeit seines Lebens ein Hagestolz gewesen, der, vertrieben vom königlichen Hof, mit sich allein in der Wildnis gehaust hatte. Dabei hatte er gelernt, Einsamkeit zu ertragen. Deshalb kosteten ihn die höfischen Sitten und das Zusammenleben mit einer Frau auf Dauer Kraft und Überwindung. Er gab sich redlich Mühe, aber seine Eigenarten und sein Wunsch nach Einsamkeit brachen immer wieder durch. Seine Frau hatte darunter natürlich zu leiden. Dazu kam noch, dass die Ehe bisher kinderlos geblieben war.

      Lunete ertrug die Launen ihres Mannes mit Gelassenheit. Nie sah man ihr irgendeinen Kummer an. Stets lächelte sie und begegnete ihrem Mann in der Öffentlichkeit mit ausgeglichener Freundlichkeit. Zwischen ihnen aber gab es so manche Szenen, von denen der Hof besser nichts erfuhr. Dann ging sich das Paar einige Tage aus dem Weg und versöhnte sich schließlich auf spröde, aber herzliche Weise, wie es dem Wesen von Meliodas entsprach.

      Sie habe eine Bitte, so begann Lunete das Gespräch, und er möge ihr nicht zürnen, wenn sie ihm diese Bitte vortrüge.

      Nur frisch heraus, antwortete ihr Gemahl. Wenn immer es möglich wäre, würde er ihr Anliegen erfüllen.

      Die Augen der Frau leuchteten bei diesen Worten, und sie lächelte ihren Mann zärtlich an. Er wisse, sagte sie, dass sie die letzte ihres Volkes sei, die sich noch in Centratur aufhalte. Ihre Familie sei schon vor langer Zeit in die angestammte Heimat nach der Insel Aureas aufgebrochen. So lebe sie schon seit vielen Jahren ganz allein. Nun aber, da sie das nahe Alter spüre, habe sie das Bedürfnis, ihre Familie, Vater, Mutter und Geschwister, noch einmal zu sehen. Es sei ihr Wunsch, mit ihnen für einige Zeit zusammen zu sein, um dann für immer Abschied zu nehmen. Sie erbitte also von ihrem Gemahl Urlaub für eine kurze Reise nach Aureas.

      Der Herrscher blickte sie aus seinen hellen Augen prüfend an, während sein Mund zu einem schmalen Spalt verkniffen war. Dann sagte er: „Nein", und gab seinem Pferd die Sporen.

      Mittagsrast wurde am Fuß des Grauen Waldes gemacht. Ein Teil der Dienerschaft war nach der ersten Rast zurückgeblieben und hatte zusammengepackt. Der andere Teil war im Galopp vorausgeeilt und hatte das Mittagslager vorbereitet. Als