Horst Neisser

Centratur I


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war mit einem kunstvoll geschnitzten Stück Holz verschlossen. Leider war sie nicht mehr ganz dicht. Mit den Jahren war der Ton porös geworden, und die Glasur hatte Sprünge bekommen. Ramram stand deshalb jeden Tag vor der Entscheidung, entweder schon im Lauf des Vormittags seinen Wasservorrat zu verbrauchen oder die Flüssigkeit sparsam über den Tag zu verteilen. Wählte er die erste Möglichkeit, hatte er schon am frühen Nachmittag nichts mehr zu trinken. War er aber sparsam, dann versickerte ein Teil des kostbaren Nass in der Erde neben dem Acker. Was er auch tat, es war falsch.

      Morgens, wenn er sich mit seinen beiden Ochsen und dem schweren Pflug auf den Weg machte, überlegte er manchmal, wie er es heute halten sollte. Aber er vergaß dann doch seine Vorsätze und überließ die Entscheidung der Hitze, seinem Durst oder der spontanen Laune.

      Natürlich hatte sich Ramram schon oft vorgenommen, eine neue Flasche zu besorgen. Dazu hätte er seine Arbeit liegen lassen und viele Stunden in das weit entfernte Dorf laufen müssen. Letztlich scheute er jedes Mal den Weg. Vielleicht war es aber gar nicht der Gedanke an den langen Fußmarsch, sondern vielmehr die Menschen, die er in der Siedlung treffen würde?

      Heute hatte er sich nicht zurückgehalten, und nun war die Flasche leer. Die Sonne brannte heiß und erbarmungslos vom Himmel. Ramram schwitzte während er sich schwer auf den Pflug stützte und versuchte ihn in der Spur zu halten. Die Ochsen legten sich ergeben in die ledernen Riemen und wischten nur hin und wieder mit den Schwänzen einen Schwarm Fliegen von ihren schweißnassen Rücken. Der Bauer hätte etwas darum gegeben, jetzt eine Pause machen und einen Schluck trinken zu können. Aber es war nichts mehr da und der Brunnen war eine Wegstunde entfernt.

      Mittag war schon eine Stunde vorüber und er hatte seine beiden Brote im Schatten der Bäume in aller Ruhe gegessen. Er hatte sie sich selbst gestrichen, denn zu Hause war nun niemand mehr, der ihm zur Hand ging. Seit seine Frau gestorben war, besorgte er den Haushalt allein. Kinder hatten sie keine, und für eine Magd oder gar einen Knecht reichte die Wirtschaft nicht aus. Seine Frau hatte ihm noch auf dem Sterbebett ans Herz gelegt, die Einöde zu verlassen und zu den Leuten zurückzukehren. Er hatte es ihr auch versprochen. Doch es ging nun schon ins dritte Jahr, dass sie unter der Erde lag, und er machte noch immer keine Anstalten, ihren Wunsch zu erfüllen.

      Was sollte er auch im Dorf? Ihm gehörte dort kein Land. Er könnte sich nur als Knecht verdingen. Nach der Freiheit hier würde ihn das schwer ankommen. Irgendwann würde er schon zurückkehren, sagte er sich immer, wenn er schuldbewusst an sein Versprechen dachte. Aber bis dahin war noch Zeit. Hier draußen war er zufrieden. Hier musste er sich nicht mit törichten Leuten herumstreiten. Hier war er ein freier Mann. Hier passte niemand auf, wie er seine Wirtschaft führte, wann er aufs Feld ging und wann er zurückkehrte. Hier war es gleichgültig, welche Kleidung er trug und wie lang er seinen Bart wachsen ließ.

      Weil er frei sein wollte, war er damals mit seiner jungen Frau in die Wildnis gezogen. Er war der jüngere Sohn gewesen, den Hof hatte sein Bruder geerbt. Ein Leben als Knecht wäre sein Los gewesen. Aber er hatte dem rauen Leben in der Einöde den Vorzug gegeben, hatte begonnen, das Land zu bestellen, das weit ablag, und das niemand haben wollte. Die Leute im Dorf hatten ihn und seine Frau ganz seltsam angesehen, wenn sie hin und wieder zum Einkaufen zurückgekehrt waren, so als ob sie etwas Unrechtes getan hätten.

      Der Anfang war nicht einfach gewesen. Sie hatten schwer gearbeitet, und die Frau war ihm tüchtig zur Hand gegangen. Sie hatte sich nicht geschont. Er erinnerte sich noch an das Gefühl von Glück, als sie zum ersten Mal in der neu erbauten Hütte vor dem Feuer gesessen waren.

      „Sieh nur", hatte sie immer wieder gesagt, „wie schön es brennt und wie gut der Kamin zieht."

      Er hatte sie zärtlich in den Arm genommen und hätte gerne die Zeit angehalten.

      Der Acker war nun zur Hälfte gepflügt. Er lag auf einer Lichtung mitten im Wald. Ramram hatte viele Bäume gefällt, um Platz für ihn zu schaffen. Nun wischte er sich den Schweiß von der Stirn, streckte sich und sah sich um. Irgendetwas hatte sich in der letzten halben Stunde verändert. Doch er wusste nicht, was es war. Trotz des grellen Tageslichts war der heiße, friedliche Nachmittag unheimlich geworden. Ramram schauderte es.

      Plötzlich erkannte er, was anders war. Eine erdrückende Stille hatte sich über das Land gelegt. Kein Vogel war mehr zu hören, kein Lüftchen bewegte ein Blatt. Kein Hase hoppelte über den Acker. Nichts mehr war zu hören. Nur sein Herz konnte Ramram vernehmen. Es schlug schnell und laut. Er meinte, das Pochen müsste die ganze Lichtung erschüttern.

      „Dummes Herz, sei ruhig!" sagte er, „du wirst mir doch jetzt keine Schwierigkeiten machen!"

      Aber sein Herz hörte nicht auf ihn, sondern schlug noch schneller und noch lauter, während die Sonne unbeeindruckt vom Himmel brannte. Ramram wusste plötzlich, dass er fliehen musste und ihm dazu nicht mehr viel Zeit blieb. Er ließ Pflug und Ochsen stehen und rannte los. Er lief quer über die frisch aufgeworfene Erde und war schon nach wenigen Schritten schweißnass und außer Atem. Immer wieder rutschte er auf dem staubigen, trockenen Boden aus, taumelte, fing sich wieder und rannte weiter. Seine Angst legte sich bleiern auf seine Glieder und hemmte seinen Lauf.

      Ramram war noch nicht weit gekommen, als er plötzlich zusammenbrach. Fünf schwarze Pfeile hatten seine Brust und seinen Rücken durchbohrt. Das letzte, was er sah, war ein Berg, der sich vor ihm auftürmte. Er lag in einer Furche, die er selbst geschaffen hatte.

      Die schwarzen Gestalten, die ihn getötet hatten, kümmerten sich nicht um den Bauern. Sie ließen ihn dort liegen, wo er zusammengebrochen war, und würdigten ihn keines weiteren Blickes. Irgendein Bauer war gestorben, jemand, nach dem kein Hahn krähen würde. Die Welt würde dadurch nicht verändert werden. Wer würde an so einen unbedeutenden Vorfall einen Gedanken verschwenden! Sie zogen vorüber, schweigend und grausam. Man hatte sie geschickt. Sie waren Teil eines großen Planes. Sie wussten, dass sie die Welt verändern würden, und sie waren stolz darauf.

      Eine kleine Gestalt, tief verborgen im Dickicht des Waldes, hatte das grausame Geschehen aufmerksam verfolgt. Als die wilde Horde weitergezogen war, trat sie aus ihrem Versteck hervor und ging zu dem zusammengebrochenen Bauern. Zart schloss sie ihm die Augen. Ramram bekam ein Grab unter einer großen Buche.

      Nachdenklich sah der Beobachter schließlich auf die tönerne Flasche. Die schwarzen Gestalten hatten sie mit ihren schweren Stiefeln zerbrochen. Dann hatte er einen Entschluss gefasst. Centratur brauchte dringend Hilfe, und er wollte sie holen.

      Im Heimland

      Ein wunderschöner Sommer, dem sich ein kurzer Herbst angeschlossen hatte, war vergangen, und nun stand der Winter vor der Tür. Die Bauern hatten eine reiche Ernte eingefahren. Die schweren Ähren des goldgelben Getreides lagen in den Scheuern und warteten darauf gedroschen zu werden. Abgeerntet waren auch die Äste der Apfel- und Birnbäume, die sich unter der Last der Früchte bis zum Boden gebeugt hatten und gestützt werden mussten. Die Beeren in Wald und Feld waren gezupft und eingemacht, der weiße Kohl in großen Fässern gestampft. Kammern, Keller und Scheuern waren bis zum Bersten gefüllt. Sogar das Bier schmeckte ausgezeichnet.

      Die Zeit des Großen Krieges war seit einem halben Jahrhundert vorbei und die Leute im Heimland mit der Entwicklung zufrieden. Sie nannten sich Erits und waren Menschen von geringer Körpergröße. Die wenigsten der großen Leute hatten je einen Erit getroffen, und man interessierte sich auch nicht für sie. In der Welt galten sie als scheu und feige. Konnte man von kleinen Leuten überhaupt Mut verlangen? Aber wenn vom Großen Krieg erzählt wurde, gab es einige Alte, die behaupteten, den endgültigen Sieg habe man der Beherztheit und dem Einsatz von Erits zu verdanken. Dies konnte natürlich nicht stimmen, und man schmunzelte immer wieder über diese seltsamen Legenden.

      Überhaupt war dieser Große Krieg schon so lange her, dass sich nur noch wenige an ihn erinnerten. Er war inzwischen Geschichte geworden und diente als Quelle für Geschichten. Auch Ormor, den dämonischen Führer, der diese Kriege angezettelt hatten, sah man eher als legendäre Sagengestalt denn als eine reale Figur.

      Die Tage wurden nun im Heimland merklich kürzer,