Horst Neisser

Centratur I


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war des Markgrafen Sohn. Er hieß Horsa und streifte oft allein in den Wäldern umher. Auch las er Bücher, die von den alten Zeiten handelten. Seine Eltern sahen diese Lektüre nicht gern. Der Sohn war ihnen zu verträumt. Er sollte schließlich einmal die Herrschaft übernehmen und hatte sich beizeiten darauf vorzubereiten.

      Horsa traf regelmäßig die Kinder von Mog und tollte mit ihnen durch die Auen und über die Felder. Sie wanderten gemeinsam durch die Nacht und erkundeten das Land vom großen Strom im Süden bis zu den Bergen im Norden. Dass sich ein Markgrafensohn für seinen Besitz interessierte und das Heimland genau kennen lernen wollte, war in Ordnung. Die Kinder von Mog jedoch, da herrschte Einigkeit bei seinen Eltern, waren kein Umgang für einen angehenden Herrscher. Auch die übrigen Leute schüttelten den Kopf über diese seltsamen Freundschaften. Klar war auf jeden Fall, dass Horsa eines Tages Akandra von Waldmar heiraten würde. Sie war für ihn die einzige akzeptable Partie im ganzen Heimland. Noch hatten die beiden Herrscherkinder nicht für einander Feuer gefangen, aber dies, da waren sich alle sicher, würde schon noch kommen.

      Mog erinnerte sich an eine seltsame Episode, die seine Söhne ihm einmal erzählt hatten. Gemeinsam mit Horsa hatten sie im Mühlenbach mit Haselnussruten und Regenwürmern, die auf gebogene Nadeln gespießt waren, geangelt. Schon dieser barbarische Akt des Aufspießens hatte Horsa mit Widerwillen erfüllt. Als er dann tatsächlich einen Fisch gefangen hatte, brach der Junge in Tränen aus. Er bestand darauf, dass der Fisch sogleich wieder zurück ins Wasser geworfen wurde.

      Die Kinder von Mog mochten Horsa. Aber sie wunderten sich über ihren Freund. Nicht nur sie fragten sich, ob Horsa wohl der rechte Herrscher für das Heimland wäre. Dabei hatte er eine eindrucksvolle Statur. Er war sehr groß gewachsen und glich darin seinem Vater, der ebenso wie Marrham seine Landsleute um Haupteslänge überragte. Aber Kraft und Aussehen allein machten eben noch keinen Markgrafen. Dazu gehörte eine bestimmte Art des Denkens und Handelns, und die ließ der Junge vermissen.

      Mog war, obwohl er nur einen Krug Bier getrunken hatte, an diesem Abend etwas unsicher auf den Beinen und brauchte länger als gewöhnlich von der Gastwirtschaft nach Gutruh. Ev war noch auf, sie hatte auf ihn gewartet. Marc und Pet waren bereits schlafen gegangen. In dieser Nacht sprachen die beiden Eheleute noch lange miteinander, bevor sie zu Bett gingen. Mog machte sich große Sorgen um die Zukunft und schüttete Ev sein ganzes Herz aus. Er erzählte ihr auch, was er sich im ‘Hirsch’ hatte gefallen lassen müssen.

      „Undank ist der Welt Lohn", sagte seine Frau. „Man hat ganz und gar vergessen, was das Heimland, ja die Welt, dir zu verdanken hat! Wenn der Herr Aramar und all die anderen hier wären, dann würde es keiner wagen, so zu reden. Ganz besonders Herrn Aramar bräuchten wir in diesen schweren Zeiten."

      Aber da war keine Hoffnung, dass Aramar jemals wieder nach Centratur zurückkehren würde und schon gar nicht nach Heckendorf.

      Ein unerwarteter Besuch

      Der Winter verging und auch der Frühling, ohne dass etwas Berichtenswertes vorgekommen wäre. Nur das Wetter beschäftigte wie immer die Gemüter. Dies änderte sich im Juli. Am vierzehnten kurz nach drei Uhr nachmittags schob sich plötzlich ein Schatten vor die Sonne. Es wurde etwa eine Viertelstunde lang so dunkel wie in der Nacht. Alle schauten entgeistert zum Himmel. Manche Erits fielen sogar auf die Knie. Von den Flüchtlingen auf der Oststraße hörte man später, dass sie in Verzweiflungsrufe ausgebrochen und verwirrt und hilflos hin und her gelaufen sein sollen.

      In der darauffolgenden Nacht ereignete sich ein weiteres Mirakel. Am wolkenlosen, sternenübersäten Nachthimmel erschien ein großer, heller Stern, der einen Schweif hinter sich herzog. Wie ein Lauffeuer sprach sich diese seltsame Naturerscheinung herum und jedermann lief ins Freie, um das Schauspiel zu bewundern. Während alle in die Nacht starrten, stürzte ein runder, feurig lodernder Ball aus der Unendlichkeit des Universums zur Erde und verschwand am Horizont.

      Die Erits waren zu Tode erschrocken. Viele liefen zurück in ihre Häuser, andere warfen sich zu Boden und bedeckten den Kopf mit den Händen. Manche rannten in den Wald und wollten nicht mehr zurück ins Dorf. Noch am nächsten Tag, als alles wie ein böser Traum der vergangenen Nacht erschien, wurde heiß debattiert und die Naturerscheinungen kommentiert. Die Jungen äußerten in diesen Gesprächen viele Vermutungen, wussten aber nichts Genaues. Die Alten hingegen waren in ihrem Element. Aus den reichen Erfahrungen ihres Lebens gaben sie den Grünschnäbeln Hinweise, was sie von den Ereignissen zu halten hatten. Die einen sagten, dass sich durch diese Himmelszeichen ein schlimmes Schicksal ankündige, und dass man sehr auf der Hut sein müsse. Sie sprachen von Pestilenz und Krieg, von Erdbeben und sogar vom Weltuntergang. Andere mit grauen Haaren lachten über den Aberglauben. Derartige Zeichen der Natur hätten sie in ihrem Leben schon häufig gesehen, und nie sei etwas Schlimmes danach passiert. Sie schalten die Mahner und Unheilkünder als Narren und Angstmacher.

      Die Leute im Heimland spalteten sich in zwei Lager. Jedes Gespräch, ob im Wirtshaus oder am Gartenzaun, endete in unversöhnlichem Streit. Über die Sonne, den Nachthimmel und die Hitze vergaßen die Erits alles andere, was in der Welt vor sich ging.

      Dabei gab es gewiss wichtigere Themen, die zu besprechen gewesen wären. Die Nachrichten aus dem Ausland wurden nämlich immer besorgniserregender. Täglich liefen Zwerge und andere fremdartige Gestalten hastig über die Straßen zu unbekannten Zielen. Bei ihrer kurzen Rast in Gasthöfen oder am Straßenrand berichteten sie über so manche seltsame Begebenheit und verbreiteten mit ihren Erzählungen Angst und Schrecken.

      Dazu wuchs der Strom der Flüchtlinge mit jeder Woche an. Lange Trecks durchquerten das Heimland. Den Leuten war nur die armselige Habe geblieben, die sie mit sich schleppen konnten. Auf ihren Gesichtern stand noch immer die Furcht, und ihre Körper waren gezeichnet von den durchgemachten Leiden. Diese Fremden, die nun überall anzutreffen waren, erschreckten die Erits und machten sie gleichzeitig wütend. Was wollten diese Menschen in ihrem schönen Heimland? Brachten sie das Unheil nicht gleichsam mit? Gab es bei den Erits nicht schon Sorgen genug? Kriege sind sicherlich schlimm, doch wen kümmern Kriege jenseits der Grenzen, wenn im eigenen Garten die Pflanzen verdorren?

      Das größte Unglück aber war, dass die beiden Grafen, Pet von Hagen und Marrham, von ihrer Fahrt ins ferne Whyten noch immer nicht zurückgekehrt waren. Der Tod des Königs war für alle überraschend gekommen. Nie hätte jemand damit gerechnet, dass Meliodas aus dem Geschlecht der großen Hochkönige sterben könnte. Nun, nachdem das Ungeheuerliche doch eingetreten war, ging der Kontinent einer ungewissen Zukunft entgegen. In den Herbergen und an den Lagerfeuern, von den Küsten bis zum Thaurgebirge wurde gefragt und gerätselt, warum der Friede nach so kurzer Zeit ein so jähes Ende gefunden hatte. Frech und keck krochen die Kreaturen der Dunkelheit aus ihren Schlupflöchern, in denen sie sich versteckt gehalten hatten. Orokòr tauchten auf und überfielen Reisende. Dörfer und Höfe wurden von marodierenden Soldaten geplündert und in Brand gesteckt. Die Straßen waren nicht mehr sicher.

      Wer würde nun die Regentschaft übernehmen? Wer die Guten schützen und die Bösen strafen? Die Ehe von Meliodas mit Lunete, der Achajertochter, war kinderlos geblieben. Es gab keinen Erben. Schon meldeten sich Noble, die bereit waren, die Last der Krone zu tragen. Streit entbrannte unter ihnen um die Königswürde. Ein andermal hieß es, Meliodas habe ein Testament hinterlassen. Der Inhalt sei aber nicht bekannt und seine Gültigkeit umstritten. In Wirklichkeit wusste niemand etwas Genaues von den Vorgängen im fernen Whyten.

      Es war ein trüber Abend im Herbst. Mog, seine Frau und die Kinder hatten es sich um den großen Kamin in Gutruh bequem gemacht, als es leise an die Tür klopfte. Verwundert blickten alle auf. Man erwartete so spät keine Gäste mehr. Als Pet die Tür öffnete drang dröhnendes Gelächter in die Stube. Es war ein Gelächter, das Mog über all die Jahre nicht vergessen hatte.

      „Aramar“, rief er und sprang auf.

      Da trat ihm an der Zimmertür schon der Zauberer entgegen. Er hatte Pet einfach beiseitegeschoben. Der große und der kleine Mann lagen sich in den Armen. Kurze Zeit später, der Gast hatte seine nassen Kleider abgelegt und die Stiefel ausgezogen, saßen sie alle behaglich um das warme Kaminfeuer. Während Ev ein spätes Abendessen zubereitete, trank der Alte gemütlich aus einem Krug Bier und fragte Mog, was sich in all den Jahren in Heckendorf getan