Horst Neisser

Centratur I


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Heimland, Aramar?“

      Dieser schaute durch Mog hindurch in weite Fernen. Sein Gesicht war plötzlich sehr ernst und sehr alt geworden. Ein eisiger Schrecken legte sich bei diesem Anblick auf Mogs Herz. So hatte er Aramar nur in größter Not gesehen.

      Er wies seine beiden Jungen an, ins Bett zu gehen. Als sie gegangen waren, breitete sich tiefes Schweigen im Raum aus.

      „Eure Welt“, sagte der Zauberer endlich, „so die Nachrichten, die mir zugekommen sind, steht vor dem Abgrund. Ich musste zurückkommen, obgleich ich mir vorgenommen hatte, dieses Land nie wieder zu betreten. Ihr hattet endlich einen guten und mächtigen König. Ormor war besiegt, und ihr, so meinte ich, solltet ab jetzt eure Probleme ohne uns Zauberer lösen.

      Aber ich glaube, für das, was jetzt auf euch zukommt, wird meine Hilfe noch einmal gebraucht. Schlimme Dinge, so hat man mir hinterbracht, sind in der Zwischenzeit geschehen. Aber noch weiß ich zu wenig und bin auf Vermutungen angewiesen. Im Übrigen eignet sich die Nacht nicht für solch düstere Geschichten.“

      „Um Himmels willen“, sagte Mog, „du machst mir Angst. Ist die Not denn schon wieder so groß? Wir haben den Feind doch besiegt und all seiner Macht beraubt?“

      „Ich weiß selbst noch nichts Genaues, aber das Wenige erschreckt mich sehr. Doch wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren. Vielleicht kommt noch Hilfe, obgleich ich keine Vorstellung habe, wer sie bringen sollte. Auf jeden Fall werden wir kämpfen. Aber nun genug für heute. Bei Tageslicht ist das, was ich zu sagen haben, leichter zu ertragen.“

      Trotz der Wiedersehensfreude gingen alle bedrückt zu Bett, und Mog und Ev konnten lange nicht einschlafen.

      Am nächsten Tag war die Luft klar und rein. Es versprach, ein schöner Tag zu werden. Mog freute sich herzlich über Aramars Besuch und führte ihn durch seinen Garten und das Haus. Als die beiden Männer auf der schmalen Bank vor der Haustür saßen, begann Mog vorsichtig: „Aramar du hast gestern Abend Andeutungen über die Lage in der Welt gemacht. Darf ich dich nun bei Tageslicht bitten, mir reinen Wein einzuschenken?“

      Der Zauberer antwortete nicht sogleich. Nach einer Weile brummte er: „Das ist schon richtig. Du hast ein Recht, alles zu erfahren. Das Dumme ist nur, dass ich selbst bisher recht wenig Konkretes weiß. Also rufen wir uns noch einmal die Geschehnisse der Vergangenheit ins Gedächtnis zurück. Vielleicht sehen wir dann etwas klarer. Mog, erzähl noch einmal die ganze Geschichte, damit wir uns genau erinnern.“

      Der Erit nickte. Er erinnerte noch einmal an den Großen Krieg, und wie es dazu gekommen war. Noch einmal kehrten die lange vergangenen Ereignisse in ihre Erinnerung zurück. Wie Ormor, allen Friedensbeteuerungen zum Trotz, eines Tages seine Heere in Darken zusammengezogen hatte und gegen die Länder im Süden ins Feld gezogen war. Wie seine Schergen rücksichtslos alle umgebracht hatten, die sich ihnen in den Weg stellten. Am schlimmsten von allen wüteten die Orokòr. Schwarze, wilde Gestalten mit Raubtierzähnen. Sie mordeten mit Lust. Fleisch aßen sie roh, und manchmal verspeisten sie sogar gefallene Gegner. Sie waren brutal und ohne Erbarmen.

      Die Leute von Whyten und Equan leisteten Widerstand. Ormor ließ daraufhin ganze Landstriche verwüsten und alle Siedlungen niederbrennen. Er wollte Unterwerfung und die Anerkennung seiner Herrschaft erzwingen. Längst drohte der Krieg ganz Centratur zu verbrennen. Aber von überall her strömten Leuten nach Whyten, um zu helfen. Es waren keine Soldaten, die ihr Leben dem Kampf gewidmet hatten, sondern Menschen, Zwerge und auch Achajer, die sich bewusst waren, in dem fremden Land auch für die eigene Freiheit zu kämpfen. Die Schlachten waren furchtbar, die Toten unzählig. Die Freiwilligen, im Kämpfen unerfahren, wurden von den geübten Horden aus Darken niedergemäht. Doch sie gingen singend und guten Mutes in den Tod, mit der Gewissheit, ihr Leben für etwas Sinnvolles zu geben.

      In dieser Zeit war Aramar in Heckendorf aufgetaucht. Er kam in Begleitung von Meliodas, der aufgebrochen war, die Königswürde zurückzufordern. Seine Familie war vor langer Zeit von einem Usurpator vom Thron vertrieben worden. Der Junge war deshalb in der Wildnis aufgewachsen und hatte das Leben eines Jägers und Fallenstellers geführt. Erst sehr später hatte er von seiner hohen Geburt und seinem königlichen Anspruch erfahren. Damals war die Zeit noch nicht reif gewesen, um den Thron zurück zu erobern. So hielt sich Meliodas in Bereitschaft.

      Den Zauberer, in dessen Begleitung Meliodas war, kannten die Heckendorfer. Er war schon in früheren Zeiten durchs Heimland gewandert und im Gasthaus ‘Hirsch’ eingekehrt. Dort saß er nun wieder einmal an einem schönen Tag im Frühsommer zusammen mit seinem Begleiter. Die große Buche spendete erfrischenden Schatten, vor ihnen auf dem blanken Tisch standen große Krüge mit dunklem Bier. Am Nebentisch tafelten drei junge Burschen und ein älterer Mann. Sie tranken und aßen mit Lust und in Mengen, dabei lachten sie und neckten die Fremden, deren düstere Gesichter sich mit der Zeit ein wenig aufheiterten. Dieser Ort, an dem sie rasteten, war so friedlich und das Morden so weit entfernt, dass sie ihre Sorgen für eine Weile vergaßen.

      Die jungen Zecher waren Mog, Marc und Pet. Der vierte hieß Til, war viel älter als seine Freunde und feierte an diesem Tag Geburtstag. Aus diesem Anlass hatte er die jungen Leute eingeladen. Man saß also zusammen, und ein Wort gab das andere.

      Endlich, der Schatten der Buche wurde bereits länger und die Luft kühler, erinnerten sich die beiden Wanderer wieder an ihre Mission und den Schrecken, der über der Welt lag. Die Heiterkeit gefror auf ihren Gesichtern, und sie machten sich zum Aufbruch bereit. Die Erits waren verwundert über die Wandlung ihrer Zechgenossen und erkundigten sich nach dem Grund. Aramar und Meliodas, die schon aufgestanden waren, blickten unwillig in die Runde und fragten dann ernst, ob man im Heimland nicht wisse, was in der Welt vor sich gehe.

      Natürlich habe man von allem Kunde, erwiderte Til stolz.

      Er sei Krieg, erklärte der Zauberer, und sie beide seien auf dem Weg in den Kampf. Im Süden würden viele Menschen sterben, damit man im Heimland friedlich vor dem Gasthaus sitzen und dunkles Bier trinken könne.

      Aramar hatte diese Provokation bitter hervorgestoßen. Er wollte diese unschuldigen Erits nicht beleidigen, aber die Sorgen, die ihn seit langem begleiteten, machten sich einfach Luft. Die vier Heimländer widersprachen. Bald war ein heftiger Streit unter den bisher friedlichen Zechern ausgebrochen.

      Nach weiteren Vorhaltungen stand Mog auf. Er reckte sich zu seiner vollen Größe und sagte, er lasse sich nicht länger der Feigheit bezichtigen. Die Erits seien trotz ihrer geringen Körpergröße ein tapferes Volk. Das wolle er beweisen, indem er mit in den Süden zöge. Auch seine Freunde sprangen bei diesen Worten auf und versprachen mitzukommen.

      Meliodas und der Zauberer waren von der Entwicklung überrascht und verwirrt. Sie beschwichtigten, erklärten, sie hätten durch diese lange Rast schon zu viel Zeit verloren und könnten nicht warten, bis die Erits zur Abreise bereit wären. Doch da hatten sie die Rechnung ohne die jungen Burschen gemacht. Die erklärten, dass weitere Vorbereitungen nicht nötig seien. Einem Aufbruch stünde nichts im Wege. In spätestens einer halben Stunde könne der Weg in den Süden beginnen.

      Pet und Marc beauftragten den Wirt, ihre Familien zu benachrichtigen, und Mog rannte zu seiner Verlobten Ev und teilte dem entsetzten Mädchen seinen Entschluss mit, in den Krieg zu ziehen. Und wirklich, die halbe Stunde war noch nicht völlig vergangen, da standen vier Erits mit Gesichtern rot vor Aufregung bereit zum Marsch in das größte Abenteuer ihres Lebens.

      Auf der langen Reise in den Süden erlebten sie viele Gefahren und gerieten schließlich in den Großen Krieg.

      Hier unterbrach Aramar seinen Freund. Er lächelte bei der Erinnerung an die Szene vor dem Wirtshaus und den spontanen Entschluss der Erits.

      „Ja“, sagte er, „heute sind wir euch dankbar, dass ihr in diesen Krieg gezogen seid, obgleich ich es damals für eine törichte Bierlaune gehalten habe. Aber ohne euch wäre alles anders gekommen. Am meisten haben wir jedoch dir, Mog, und natürlich auch Til zu verdanken. Ohne euch hätten wir den Krieg nicht gewonnen. Ormor war zu stark und unsere Kräfte zu schwach.“

      Mog nickte bedächtig und erinnerte an die Szene, als sie in das Zelt von Meliodas bestellt worden waren.

      Noch