Horst Neisser

Centratur I


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wir wissen mehr! Mir ist zum Beispiel klar, weshalb zurzeit im Heimland alles drunter und drüber geht."

      Da sie im Schloss nicht verköstigt worden waren, beschlossen sie, unter den Bäumen am Waldrand Rast zu machen. Sie hatten sich gerade gemütlich niedergelassen, als Schreie über das Plateau gellten. Hufschlag trommelte durch die Stille. Ein Reiter auf einem weißen Pferd galoppierte in höchster Eile auf das Schloss zu. Hinter ihm jagte eine Meute, die zwölf Köpfe zählte. Das weiße Pferd hinkte. Die Jäger holten mehr und mehr auf und schwärmten schließlich aus. Nun hörte man auch die Stimme des Reiters. Immer wieder rief er in höchster Not, man solle ihm das Tor des Schlosses öffnen. Doch nichts geschah.

      „Warum kommen ihm die Leute des Markgrafen nicht zur Hilfe?" rief Mog. „Gleich haben ihn die Verfolger eingeholt!"

      Nun zischten Pfeile durch die Luft, aber sie trafen den Reiter nicht, der sich tief über den Hals seines Pferdes geduckt hatte. Er hatte inzwischen das Tor erreicht und trommelte dagegen.

      „Der vornehme Diener wird sich sagen, dass man Leute, die so unanständig Einlass begehren, am besten ignoriert", sagte Aramar und dann entschlossen. „Wir müssen eingreifen!"

      Eilends bestiegen sie ihre Pferde und ritten so schnell sie konnten in Richtung Schloss.

      „Wie wollen wir ohne Waffen helfen?" rief Mog keuchend. „Hast du einen Plan, Aramar?"

      „Für diese Schurken braucht man keinen Plan. Kommt Zeit, kommt Rat."

      In diesem Augenblick wurden sie von dem Reiter gesehen. Er riss sein Pferd herum und galoppierte auf sie zu. Auch die Meute änderte die Richtung und versuchte ihm den Weg abzuschneiden. Mog stand in den Steigbügeln und trieb sein Pony an. Doch Aramars Pferd übertraf das Pony um ein Vielfaches an Schnelligkeit. Aramar lenkte sein Pferd direkt auf die Jäger zu. Helfer, Jäger und Gejagter verschmolzen zu einem dichten Knäuel. Mog sah aus der Ferne, wie eine Lanze auf den Zauberer gerichtete wurde. Der parierte mit seinem langen Stock und schlug zu. Der Hieb traf den Angreifer seitlich am Kopf, er stürzte zu Boden. Nun kreisten die anderen den alten Mann ein. Pfeile und Speere richteten sich gleichzeitig auf ihn. Ein paar Sekunden später würde er tot sein. In diesem Augenblick flammte ein Blitz auf. Eine Wand aus Feuer trennte Aramar von den Soldaten. Deren Pferde scheuten. Einige warfen ihre Reiter ab, die anderen wandten sich zu wilder Flucht und stoben in alle Richtungen davon. Der Zauberer fasste die Zügel des weißen Pferdes und preschte, so schnell das hinkende Tier es vermochte, zum östlichen Waldrand. Mog folgte ihnen. Gemeinsam suchten sie Schutz unter den Bäumen. Dort hielten sie kurz an, und der alte Erit erkannte den Geretteten. Es war Horsa, der Sohn des Markgrafen.

      „Wir dürfen keine Zeit verlieren", rief Aramar hastig. „Sie können uns jeden Moment einholen."

      Sie drangen tiefer ins Dickicht, bis sie auf einen Pfad stießen. Den ritten sie in großer Eile entlang und achteten nicht auf die Zweige, die ihnen ins Gesicht schlugen. Dornen zerrissen ihre Kleider und die Haut. Sie bluteten. Endlich gab der Zauberer das Zeichen zum Halten. Erschöpft glitten die Erits von ihren Pferden und ließen sich in das Gras einer Waldlichtung fallen.

      „Das war wirklich Rettung in letzter Sekunde", stöhnte Horsa. „Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätten mich eingeholt und umgebracht."

      „Was ist denn geschehen?" fragte Mog. „Wenn ich richtig beobachtet habe, so waren deine Verfolger Soldaten des Markgrafen. Wie kam es, dass sie ausgerechnet dich, den Sohn ihres Herrn, umbringen wollten?"

      „Das tut nichts zur Sache“, wehrte der Gefragte ab.

      „Da bin ich anderer Meinung“, schaltete sich Aramar ein.

      „Nun gut, ich habe da so eine Vermutung. Aber darüber können wir jetzt nicht sprechen."

      „Wie kam es denn zu dem Überfall?"

      „Ich hatte einen Ausflug zum Tribbelkogel gemacht, ein Berg, an dessen Fuß noch wilde Orchideen wachsen. Zurück musste ich durch den Niederwald, und dort schwirrten mir plötzlich Pfeile um die Ohren. Zum Glück traf keiner. Dann war die Meute hinter mir her. Denen war es ernst, das merkte ich sofort. Die wollten mich töten."

      „Weshalb hat man dir das Tor zum Schloss nicht geöffnet?"

      „Das weiß ich nicht!" Horsas Stimme klang trotzig.

      „Vielleicht hat man dich nicht bemerkt?"

      „Nein, das kann es nicht sein. Ich sah einige unserer Diener über die Mauer spähen. Sie haben mich bewusst nicht hereingelassen."

      „Hast du in den letzten Tag irgendwelche Veränderungen bei euren Dienern bemerkt?"

      „Nein!" dann wütend, „so lasst mich doch in Ruhe“, und schließlich erstaunt, „doch, wer bist du? Dir habe ich meine Rettung zu verdanken!"

      „Das ist Aramar, der Zauberer", beeilte sich Mog zu sagen.

      „Aramar, der Zauberer?" wiederholte Horsa verwundert und schüttelte den Kopf. „Was für ein seltsamer Tag heute ist. Ich habe schon viel von dir gehört, aber ich zweifelte bisher, dass es dich wirklich gibt. Wenn ich ehrlich sein soll, ich hielt dich für eine Legende."

      „Nun, wenn du nachprüfen willst, ob ich aus Fleisch und Blut bin, hier ist meine Hand."

      Nun lachte auch Horsa und reichte eine schmale Hand dem Zauberer, der sie mit seinen beiden Händen umschloss und den Markgrafensohn von oben bis unten musterte. Der junge Mann war schlank und hochgewachsen. Er trug einen flotten, grünen Jagdanzug, dessen Kragen mit feinem Pelz besetzt war. Über seine Schuhe hatte er rote Gamaschen gezogen und sein Gürtel war mit kleinen Edelsteinen und Perlen geschmückt.

      Mog drängte zum Aufbruch: „Wir müssen weiter! Wenn die Bande ihre Pferde wieder im Zaum hat, wird sie zurückkommen. Aber wohin sollen wir uns wenden?"

      Sie kamen zu dem Schluss, dass sie keine Wahl hatten als einen Übergang über die Berge zu suchen. Horsa, der hier aufgewachsen war, kannte eine Passage über den Windspitzpass. Der Pfad schraubte sich in Serpentinen zum Kogelpass hinauf und war bald nicht mehr sichtbar.

      Die Pferde kamen nur noch mühsam vorwärts. Immer wieder glitten sie aus, und die Männer, die längst abgestiegen waren, mussten sie mit aller Kraft ziehen und schieben. Irgendwann war es so dunkel, dass das Weiterklettern zu gefährlich wurde. Ständig liefen sie in Gefahr abzustürzen. Schließlich machten sie Halt und bereiteten sich ein Nachtlager. Die Männer waren auf eine Übernachtung im Freien nicht vorbereitet und hatten deshalb weder Decken noch Schlafsäcke dabei. Es war aber um diese Jahreszeit schon ziemlich kalt, ganz besonders in dieser Höhe. Hier gab es so gut wie keinen Schutz vor den beißenden Wind und sie froren erbärmlich.

      Horsa war den ganzen Tag schweigsam und bedrückt gewesen. Mog hatte ihn sogar manchmal verstohlen eine Träne aus den Augen wischen sehen. Diese Phasen tiefer Traurigkeit wechselten mit Heiterkeitsausbrüchen, die so überraschend und heftig waren, dass sich seine Begleiter erstaunt anblickten. Mog fragte sich, ob es der Verrat seiner Soldaten war, der dem Markgrafensohn so sehr zu Herzen ging.

      „Nun erzähle“, forderte Aramar den jungen Mann auf. „Was ist in den letzten Tagen geschehen? Hast du inzwischen eine Idee, warum man dich umbringen will, und weshalb dir deine Leute im Schloss nicht geholfen haben?"

      „Darüber habe ich natürlich die ganze Zeit nachgedacht, und ich glaube, ich habe eine Erklärung. Doch ich möchte nicht darüber reden."

      „Was heißt das?"

      „Das geht nur mich und meine Familie etwas an."

      „Da irrst du dich. Ihr seid nicht irgendein Clan, sondern die Herrscherdynastie. Bei euch gibt es nichts Privates. Alles, was euch betrifft, ist für das gesamte Heimland von Bedeutung. Und nun erzähle. Die Gefahr ist groß, und es gibt keine Entschuldigung für falsche Scham! Ich klettere doch nicht zum Vergnügen durch die Gegend."

      Die letzten Worte hatte er barsch gesprochen. Horsa verstummte, und die Dunkelheit verbarg die Tränen, die ihm über die Wangen rannen. Als er sich wieder etwas gefangen hatte, begann er stockend: „Es war vor einer