Horst Neisser

Centratur I


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tritt das Übel auf. Also kehrte ich frühzeitig nach Hause zurück. Das Tor stand offen, und ich gelangte ins Schloss, ohne dass ein Diener aufmerksam geworden wäre. Ich war erhitzt und erregt und wollte Mutter meine Rückkehr mitteilen. So stürmte ich in ihr Zimmer. Wahrscheinlich habe ich das Anklopfen vergessen. Da sah ich etwas Furchtbares. Sie stand in inniger Umarmung mit dem Hauptmann der Garde. Natürlich zog ich mich sofort zurück. Doch die beiden hatten mich gehört und waren auseinandergefahren. Ihr könnt euch meine Verwirrung und mein Entsetzen vorstellen. Mit meiner Mutter habe ich über diesen Vorfall nie gesprochen. Sie ging mir von da an aus dem Weg, und ich hielt mich so wenig wie möglich im Schloss auf."

      Aramar war sehr nachdenklich.

      „Das erklärt vieles. Man wollte dich also als unliebsamen Zeugen aus dem Weg schaffen. Vielleicht hat man Angst, du könntest deinem Vater, wenn er zurückkommt, etwas berichten? Vielleicht weiß deine Mutter aber auch gar nichts von dem Komplott? Vielleicht wird sie von diesem Hauptmann, der wahrscheinlich die Herrschaft über das Heimland an sich reißen will, nur benutzt. Wenn er diese Absichten hat, so stehst nur du ihm noch im Weg. Wie auch immer, du bist in größter Gefahr. Doch was ist mit deinen Schwestern?"

      „Meine Mutter will mir nichts Böses. Da bin ich mir sicher. Dieser Schurke nutzt sie nur aus. Glaubt mir, sie weiß nichts von dem geplanten Verbrechen an mir. Wäre ihr die Wahrheit bekannt, sie würde die Soldaten sofort zur Ordnung rufen. Doch im Moment ist sie den Lügen des Hauptmanns ausgeliefert. Sie glaubt ihm, und ich kann nicht zu ihr, um sie aufzuklären. Meine Schwestern sind nicht in Gefahr, da bin ich mir sicher. Sie sind für die Aufrührer nicht von Interesse. Warum auch, außer für Kleider haben sie sich bisher nur für Tändeleien mit Soldaten interessiert."

      „Zumindest brauchen wir uns um deine Familie keine Gedanken zu machen“, sagte Mog. „Ich war schon voller Sorge und wollte vorschlagen, dass wir zurückkehren, um ihr zu helfen."

      „Nein, mein guter Mog. Horsas Familie wird zumindest in der nächsten Zeit nichts geschehen. Aber ihn müssen wir retten. Wenn er dieser Soldateska in die Hände fällt, ist er verloren und mit ihm das Heimland. Die Aufrührer wissen, so lange der Sohn des Herrschers am Leben ist, wird es Widerstand geben."

      „Aramar“, Horsas Stimme war zaghaft, „erlaube mir bitte eine Frage? Ich kann nicht begreifen, weshalb wir vor diesen Banditen davonlaufen. Du bist ein großer Zauberer. Es müsste dir ein Leichtes sein, diese Soldaten das Fürchten zu lehren. Stattdessen verkriechen wir uns und hoffen nicht entdeckt zu werden."

      „Diese Frage habe ich schon lange erwartet. Aber ich muss dich enttäuschen. Zaubern ist keine Beschäftigung im Alltag, der man sich nach Belieben bedienen kann. Jeder Zauber ist ein kleines und manchmal ein großes Wunder. Kein Sterblicher kann aus eigener Kraft zaubern. Ihm wird diese Fähigkeit aus einer anderen Welt gegeben."

      „Doch wie kommt man in den Genuss dieser Kraft?"

      „Es gibt zwei Möglichkeiten dieser Gnade teilhaftig zu werden. Man kann seine Seele an das Böse verkaufen. Also einen Handel machen. Das Böse ist dem Handelspartner dann hier auf Erden mit all seinen Zauberkräften dienstbar. Irgendwann kommt aber die Zeit, und es fordert den Lohn für seine Dienste ein."

      „Das hast du doch nicht etwa getan?" fragte Mog erschrocken.

      „Nein, mein guter Mog. Obgleich für viele diese Vorstellung verführerisch ist, habe ich niemals daran gedacht, mit dem Bösen einen Pakt einzugehen. Ich bin den anderen Weg gegangen. Ich habe versucht, mir die Kraft zu verdienen. Wenn ich zaubere, so wird mir ein wirkliches Geschenk zuteil. Es wird ein Wunsch von mir erfüllt. Im Gegensatz zum ersten Weg, bei dem man seine Seele verkauft, muss mir die andere Welt aber nicht zu Diensten sein. Sie tut es freiwillig. Zwar gelang mir bisher jeder Zauber. Das bedeutet, ich wurde nie abgewiesen. Aber Zaubern ist dennoch eine Gnade, die ich nicht zu oft fordern darf.

      Bedenke, Horsa, wenn dir jemand seine Hilfe anbietet, so wirst du versuchen, die Gunst des anderen nicht allzu sehr zu strapazieren. So ist es auch hier. Ich bin dankbar für die Macht, die mir verliehen wurde. Aber ich bin auch demütig genug, um zu wissen, dass sie nicht mein Verdienst ist. Deshalb nutze ich sie so selten wie möglich.

      Dies bedeutet für uns, wir müssen uns mit eigener Kraft durchschlagen und können keine höheren Mächte zu Hilfe rufen. Meine Zauberei kann uns höchstens aus größter Not erretten. Was wir brauchen, ist deshalb Wachsamkeit, Schlauheit, Mut, und, wenn es sein muss, Entschlossenheit und Kraft. Das sind unsere Waffen und nicht irgendwelche Zaubersprüche."

      „Wer verleiht die Kraft, von der du gesprochen hast?" fragte Horsa. „Oder noch einfacher, wer zaubert denn nun?"

      Da lächelte Aramar und sagte nach einer langen Pause: „Darüber kann ich nicht so sprechen, dass ihr es verstehen würdet."

      Nach einer Weile des Schweigens redeten sie über ihre Lage. Zuerst galt es, Horsa in Sicherheit zu bringen. Die Soldaten würden im ganzen Heimland nach ihm suchten. Sie kamen nach langer Beratung zu dem Schluss, dass das beste Versteck für den Grafensohn wohl Gutruh sei. Doch dorthin mussten sie aber erst einmal gelangen. Ein gefährlicher Weg lag vor ihnen. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Sicher wurden alle Straßen bewacht und mussten deshalb gemieden werden.

      Sie machten es sich dann auf dem harten Boden so bequem wie möglich und dösten bis zum Morgen.

      Endlich nach einer langen Nacht schickte die Sonne ihre ersten Strahlen durch die Wolken und enthüllte strahlendes Weiß, das die Berge überzogen hatte. Die kleine Gesellschaft brach sogleich auf. Von den Verfolgern war nichts zu sehen und zu hören. Doch Aramar warnte. Wahrscheinlich waren inzwischen schon berittene Boten im ganzen Land unterwegs, die zur Hatz auf den Grafensohn aufriefen. Irgendeine gemeine Lüge würde man sich schon zur Rechtfertigung ausgedacht haben.

      Irgendwann erreichten die Drei die Ebene und verließen das kleine Wäldchen, das sie zuletzt durchquert hatten. Vor ihnen breitete sich eine weite Aue aus, in deren Mitte der Fluss Rentnitz floss. Brache Felder und abgemähte Wiesen wechselten sich ab, soweit das Auge reichte. Es war im Sommer ein blühendes Land, das reichen Bauern gehörte. Ihre Höfe lagen als Weiler verstreut. Vor sich sahen sie ein Gehöft mit roten Dächern, auf das sie zu ritten.

      Der Bauernhof

      Es war inzwischen Nachmittag, als sie endlich vor dem Tor eines großen Bauernhofs standen. Es roch nach Mist und Tieren. Ein Hund schlug an. Horsa war auf seinen Streifzügen durch die Grafschaft hin und wieder hier vorbeigekommen, hatte die Bauersleute bisher aber nicht kennen gelernt. Er erklärte seinen Begleitern, dass sie vor dem Gerstenhof standen.

      Ohne zu zögern traten sie durch das breite Tor, überquerten den großen Hof und gingen zielstrebig auf eine offenstehende Tür an der Längsseite des Gebäudes zu. Da schallte die hohe Stimme einer Frau über den Hof: „Was wollt ihr hier?“

      Sie trat aus dem Stall. Ihre fleckige Kittelschürze war so ausgewaschen, dass man das große Blumenmuster kaum noch erkennen konnte. Aufgeregt ruderte sie mit den Armen, um die Fremden vom Hof zu weisen.

      „Wir haben Hunger“, rief Aramar. „Bitte gebt uns eine Brotzeit. Wir werden auch bezahlen.“

      „Wir verkaufen nichts!“

      „Dann macht doch einmal eine Ausnahme.“

      „Ach, lasst mich in Ruhe und verschwindet.“ Die Stimme der Bäuerin klang ärgerlich.

      „Brot, Butter und ein Glas Milch werden wir übrighaben, Bäuerin“, sagte plötzlich eine ruhige Stimme.

      Der Bauer war aufgetaucht und beruhigte seine Frau. Mit einer Handbewegung wies er den Fremden den Weg in die Küche und hieß sie, sich an dem grob gezimmerten Tisch setzen. Dann holte er wortlos Brot, kaltes Fleisch und einen großen Krug mit kühler Milch aus der Speisekammer. Als seine Gäste versorgt waren, setzte er sich zu ihnen und fragte neugierig: „Was führt euch in unsere einsame Gegend?“

      „Wir kommen aus den Bergen. Dort haben wir uns verirrt“, antwortete Horsa.

      „Und was wolltet ihr in den Bergen?“ fragte der Bauer misstrauisch. „Ihr macht mir nicht den Eindruck,