H. DERHANK

Der Zwilling


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er wird angerufen haben, dass er nun losfährt, dann wären das noch zehn Minuten, noch zehn Minuten!, soll ich mich jetzt ausziehen oder nicht? Und nun ist sie ganz hin und hergerissen, ob sie sich ausziehen soll oder nicht, Leon müsste ja gleich da sein, und Lust, Lust hätte sie ja, und wie!

      Stattdessen zieht sie sich an, fasst sich noch einmal an den Schlüpfer und drückt ihre Finger ein wenig hinein, ins Feuchte, dann schließt sie hastig die Knöpfe ihrer Jeans, ich muss ihn zurückrufen, er hasst das, wenn nicht, sie geht also hinaus, schaut sich im Flur wieder um, als wäre sie nicht allein, kichert sich selbst zu, ein bisschen nervös, und greift zum Telefon. Auf dem Display steht: Leon. Er war es, wie erwartet, ich ziehe mich also ganz schnell aus und die Schürze an, die hinten offen ist, das wird ihn ablenken vom Wütendsein, es wird ihn wild statt wütend machen, oder - nein - ich rufe ihn doch eben an. Besser ist das.

      Sie drückt die Rückruftaste und hält sich das Telefon ans Ohr, es tutet, einmal, zweimal, und dann geht Leon ran.

      »Ja!«, sagt er. Nicht 'Ja?', sondern 'Ja!'

      Sylvies Herz klopft, und sie ist nicht schnell genug, etwas zu sagen.

      »Sugar?«, sagte er, Sugar. Dabei ist seine Stimme noch immer gereizt, aber er bekämpft das. Man hört leise Fahrgeräusche.

      »Kommst du?«, fragt Sylvie. Auch sie hat etwas Geladenes in ihrer Stimme. Aber das andere Geladene. Unwillkürlich.

      »Sugar«, nochmals er, »ich dachte, wir könnten heute ins Kino, wo Hendrik doch bei seinem Freund übernachtet, vorher was essen gehen und ... weil ich doch morgen ...“

      »Mein Löwe ...«, gurrt Sylvie und findet das ein bisschen sehr devot, am Telefon zu gurren. Sie hört das 'Kalack-Kalack-' des Blinkers.

      »Ja ...?«, sagt er.

      »Komm erst mal nach Hause, ja?«

      »Ja, sure, Baby, ...«

      Sylvie atmet tief, so tief, dass sie sich selbst im Hörer hören kann. Sogar in seinem Auto müsste man das hören.

      »Kommst du?«, im Ausatmen.

      »Ja Sugar, ich komme... was ... was hast du denn?«

      »Nichts ...« Sex.

      »Du bist ja wie auf ...« Jetzt hört sie ihn atmen. Und dass er Gas gibt, als würde er innerlich und äußerlich beschleunigen. Synchron. Und dann macht er: »Mhhh ...«

      Sex.

      Sylvie kichert: »Komm schnell ...«, sagt sie, mehr ein Seufzen, laut geflüstert und fast ohne Stimme.

      »Holla ...«, auch seine Stimme plötzlich erregt, »Sugar, du kleines ... und ob ich komme, I'm coming, ich rase, ich werde dich glei... hhhh... Shit! SHIT!!!«

      Entsetzen und undefinierbare Geräusche; es braucht nicht viel Vorstellungsvermögen, um sie als Bremsenquietschen und Aufprall zu interpretieren, ein lauter Knall und etwas wie Splittern oder Aneinanderstoßen, vielleicht sogar noch ein Schrei, aber undeutlich, und alles so schnell und die anschließende Stille so absolut, dass Sylvie nicht mehr weiß, was sie gehört hat.

      Leon?

      Die Verwandlung

      Als Thomas Vanderra eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, links und rechts einige Apparaturen, von denen Schläuche, Katheder und Kabel ausgingen und an unsichtbarer Stelle mit ihm verbunden schienen. Insbesondere aber sein Gesicht fühlte sich an wie verformt; von einer ungeordneten Ansammlung aus ihm herauskragender Mundwerkzeuge und Antennen, die ihm hilflos vor den Augen flimmerten.

      »Was ist mit mir geschehen?«, dachte er. Es war kein Traum.

      Eine fremde Welt betreten

      Eine fremde Welt betreten. Sich einen Moment erzwingen, ein Beisichsein, wo nichts ist, als Sichverlieren. Eine fremde Welt, die mich träumen lässt, sie wäre ich.

      Eine fremde Welt scheißen. Eine fremde Welt ausscheißen. Sie in Besitz nehmen, indem man sie oder sich in ihr vollscheißt. Darin schwimmen, wie ein Baby, in der eigenen feuchten, wunden Hitze.

      Stelle sich mal einen Wurm vor, einen, zum Beispiel, Regenwurm, dem man das eine Ende zertreten hat, versehentlich, und dem man diese zertretene Hälfte abgetrennt hat, abgeschnitten mit einem Skalpell, und der innere Tunnel der gesunden Seite plötzlich wie an einem offenen Ende angekommen ist. Es ist der Moment, sich im Nichts zu verlieren, oder aber als Tunnel gerettet zu werden, indem man einen anderen aufgeschnittenen Wurm nimmt und an ihn andockt, sodass der offene Tunnel des ersten Wurms in den Tunnel des zweiten übergeht, und der erste Wurm sozusagen in dem zweiten weiterkriechen kann. Der Tunnel, das Hohle, ist ein Kriechen in der Zeit, der Tunnel, der sich selbst fortführt in vermeintlicher Kontinuität, der sich selbst in das neue Hohle hineinkriechend macht, das neue Leere gewissermaßen, er selbst ist das Nichts. Das, das fortgesetzt träumt.

      Bin ich schon fertig? Bin ich fertiggeschlafen? Habe ich? Ein Film, am Ende, Schlussszene, zwei Männer und eine Frau, nackt, auf einem großen Bett, ach Franka, die Frau war schwanger und der Film ist von Tom Tykwer.

      Warum aber erwache ich nicht, wenn ich doch fertig bin? Fertiggescannt. Warum entgleite ich mir immer wieder, ist es so schwer, aus der Tiefenhypnose wieder herauszukommen? Halbe Stunde, nicht länger, hat sie gesagt, die Assistentin, oder war es ein er?, oder wer? Keine zwei Stunden mit Film, du aber hast das Gefühl, schon ewig hier zu liegen. Nicht einmal das Atmen ist spürbar, nur dass immens viel Zeit vergangen ist oder vergeht.

      Und plötzlich beschleicht dich ein ganz anderes Gefühl. Eine Ahnung, warum das hier alles so schleppend geschieht. Warum du nicht atmest. Warum du nicht einfach erwachst und aufstehst und nach Hause fährst. Warum du das Gefühl hast, nicht mehr im Schlaflabor zu sein.

      Schlaflabor? Welches Schlaflabor.

      Verblassen von etwas, Ahnen von etwas anderem.

      Bin ich tot?

      Habe ich mich umgebracht? Die Frage steht im Raum, der Raum ist ein Traum ist ein Kinderreim, den ich nie gesungen habe, nicht mal kenne. Fremdes Kind? In mir? Oder ich in ihm? Nein, ich weiß doch, dass ich schlafe, ich träume, aber die Selbstmordfrage hat mich aufgeschreckt, aufgeweckt, sie hat dieses Plötzliche, dieses Siedendheiße, dieses Entsetzen, wenn dir auf einmal klar wird, dass nichts mehr so sein wird wie vorher! Dass ... zum Beispiel, dass da ein Kind fehlt. Und nicht mal wissen, welches? Ich habe gar keine Kinder! Oder man den Stick mit der Präsentation vergessen hat, wenn man bereits neben dem Beamer steht und einen alle ansehen, besonders, weil man es sowieso hasst, einen Entwurf zu präsentieren ... - habe ich mich umgebracht? Ich atme nicht! Ich atme nicht - ich atme! Ich atme nicht und doch zugleich, etwas atmet, etwas atmet mich, eine Maschine atmet mich, plötzliche, überwältigend große Angst, schiere Panik, symptomlose Panik, kein niemand, nichts, das zu Symptomen fähig wäre, ich entgleite mir, ich falle, Fall und

      Aus ...

      Später: Du erinnerst dich an diese Angst. An diesen Moment der Erkenntnis, von einer Maschine geatmet zu werden, bevor du dich wieder verloren hast, und es liegt schon wieder ZEIT dazwischen, du bist wieder eingeschlafen gewesen, das Gefühl JETZT ist ein anderes als während dieses panischen Erschreckens, das Gefühl jetzt ist ein nicht mehr so atemloses, körperloses, eher ein 'ich spüre, fühle, ich bin'. Nichts Erschreckendes also nun. Und obwohl Thomas die Augen geschlossen hat, ahnt er, dass es hell ist, und er stellt sich ziemlich realistisch vor, gleich in einem Krankenzimmer zu erwachen, möglicherweise angeschlossen an Geräte und eben eine Beatmungsmaschine, aber nichts, das wehtut, vielleicht noch nicht.

      Ich atme.

      Augen?

      Geschlossene Augenlider schmecken bei Lichtverhältnissen süß, himbeersüß, und dann riecht er auch ein Geräusch, es ist das schon erwartete, das dazugehört, das gleichmäßig