H. DERHANK

Der Zwilling


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allem gut zu gehen (aber trotz allem was?)! Man kann auch die Vögel riechen, von draußen, Frühlingszitronenschwaden, ich habe geschlafen wie ein Toter, und er fragt sich, woher er diesen Humor hat, angesichts dessen, was zu erwarten ist: Ein Erwachen zwischen Leben und Tod, mein Körper schwer angeschlagen, mit womöglich schrecklichen Ausfällen, fehlenden Gliedmaßen oder Lähmungen, die Aussicht, ein Krüppel zu bleiben! Aber ich habe mich nicht umgebracht. Das wäre unlogisch, und dann erinnert er sich auch (und endlich!), dass er sich hat scannen lassen, dass er ein Backup seiner Seele hat anfertigen lassen. Was nicht mehr Seele heißt, sondern Hirnscan. Ein kleines Vermögen, das er dafür bezahlt hat, unsterblich zu sein! Und das jetzt jeden Monat?

      Atmen, das plötzlich schmerzt. Und wieder eine unerwartete Panikattacke: Ich bin gestorben, muss gestorben sein, ich erwache ganz offensichtlich nicht in dem Institut, ich bin nicht gerade eben gescannt worden, sondern weiß der Henker wann? Der Henker oder wer auch immer mich umgebracht hat. Nein, nicht ich habe mich, habe ich doch? Und dass ich hier liege und zu mir komme, langsam oder jetzt gerade viel zu schnell, das heißt doch - das heißt doch - das heißt doch - dass ...

      ES FUNKTIONIERT!!!

      Die Angst verwandelt sich in eine irre Freude, die genauso in dir explodiert wie die Angst, aufspringen wollen und brüllen vor Freude, was Thomas natürlich nicht tut, aber der Impuls, sich zu extrovertieren, der ist überwältigend. Es funktioniert!!! Es funktioniert bedeutet, dass - Trommelwirbel, Tusch - Thomas Vanderra von nun an ein Unsterblicher ist, meine Damen und Herren, sehen Sie hier den unsterblichen Thomas Vanderra, den Mann, der nie - nie nie nie mehr - sterben wird. Hyperventilierendes Freudenkonzert, atmen, Atmen tut weh! Obwohl mein Körper reglos bleibt, ist da ein Sturm aus Lachen und Jubeln in mir, ich könnte wen auch immer umarmen, die ganze Welt meinetwegen, oder auch: Franka.

      Ernüchterung, plötzlich ist die Freude weg, so schnell, wie gekommen, Franka.

      Ich weine.

      Das Weinen geschieht genauso reglos und mit genauso wenig Kontakt zur Oberfläche, wie vorher Angst oder Freude. Ich weine nicht etwa in mich hinein, das hieße ja, das Weinen hätte einen Anfang und eine Richtung, aber so ist es nicht. Es geschieht einfach. Vielleicht geschieht es nicht einmal, sondern ist einfach da. Wie schon immer gewesen, ganz tief in mir drin. So tief, dass man es nicht räumlich lokalisieren kann. In diesem meinem Körper. So tief, dass ich mich stumm in den nächsten Schlaf weine. Franka. So ein Scheiß.

      Ich erwache erneut und erinnere mich an die Erkenntnis, Thomas zu sein. Thomas Unsterblich, er war nur wieder eingeschlafen, nichts Besorgniserregendes, der Thomas oder der neue Thomas, noch immer weiß ich nicht, was geschehen ist, wie ich gestorben bin, ich spüre aber immer mehr meinen Körper zurück. Der sich noch fremd anfühlt, oder ungewohnt, aber das mag mit den Verletzungen zusammenhängen, die ich unweigerlich haben muss.

      Ich gehöre zu denen, die es geschafft haben. Die der Unausweichlichkeit des Todes eine lange Nase machen. Meilenstein in der Geschichte der Menschheit, und was für einer, seit ein paar Jahren dürfen wir unsterblich sein, die letzte Bastion der Religion ist genommen, die Seele gehört nicht mehr diesem ominösen Gott, den wir uns im Angesicht des Todes ohnehin nur ausgedacht haben, sondern endlich uns! Die Seele, die Seele, ich ich ich, ich lebe! Gehört die Seele denn jetzt uns? Mir? Thomas erinnert sich, bevor er selbst den Vertrag unterschrieben hat, ein Kritiker der Reinkarnationsmedizin gewesen zu sein, und der Gesellschaft, die sie betreibt. Gehört die Seele statt Gott jetzt mir? Oder der Gesellschaft? Ach Thomas, was für unsinnige Fragen angesichts der freudentaumelnden Tatsache des buchstäblich nackten Überlebens, angesichts dieses meines Erwachens, dieser Erkenntnis, ich bin unsterblich, quod erat demonstrandum!

      Thomas konzentriert sich in sich hinein, bergab sozusagen, aber nein, er vermutet, dass er liegt, also nicht bergab, sondern sozusagen rumpfabwärts. Und dass bei diesem inneren, mit geschlossenen Augen durchgeführten Forschen die Hände das Erste sind, was er hört. Nein, ich höre nicht, ich fühle! Höre? Greifenklang, ein Werkzeug spielen, die Finger sind der angeschwollene Gesang der Tuba, sie klingen zum Platzen prall, auf beider Hände Seiten, eine vorsichtige Bewegungsprobe - kaum mehr als ein Zucken - bringt Aufschluss: Ich habe laute Hände. Oder glaube, laute - ich meine: große Hände zu hören, nein, anders, großer Hände gewahr zu werden. Sie klingen, nein, liegen - eindeutig - auf Stoff. Die Bettdecke, die wie ein Kontrabass dröhnt, ist getrennt von meinem restlichen Resonanzkörper, durch ihre Schwere ertönt ein Körper, der sich anders anhört, als ich seine Lieder erinnere. Ich höre ihn - mich? - von außen, mit den Händen? Oder von innen, mit meinem Bewusstsein?

      Ich bin ein Konzertsaal, offenbar, ich bin ein Riese. Geworden.

      Wieder eine Panik, wieder Entsetzen, wieder wieder wieder, ich bin ein Riese ich bin ein Riese ich bin ein Riese ich bin ein Riese! Das ist nicht meine Musik, willst du schreien, will ich, ICH schreien, aber das wäre zu theatralisch, die Panik verfliegt, das ist lächerlich, albern, du bist albern, Thomas, sei froh, dass alles dran ist, dass da ein Rumpf brummt, der dir gehört, und Beine wie Posaunen, sogar die Trompetenfüße erschallen eindeutig lebendig! Du beruhigst dich, lässt die Augen zu und lauschst der sanften Melodie der Bettdecke auf den gekrümmten Zehen. Du spielst sie, diese Zehen, was geht, was sich anhört, nein, anfühlt wie tausend Jahre eingerostet, es knarzt und kratzt, aber es klingt. Du bewegst die Zehentonleiter rauf gegen die Decke, und wieder runter, wie ein Xylofon, erst alle fünf zugleich, dann getrennt, du schlägst den großen Zeh einzeln an, die kleinen im Quartett nach unten und umgekehrt und an beiden Füßen dasselbe Spiel. Warum höre ich meine Hände nicht mehr? Aber - als hätte nur wer auf diese Frage gewartet - da spielt ja eine Hand auf deiner!

      Ein plötzlicher Geruch von kräftigem Tee, Pfefferminze? Und gleich wieder vorbei. Dann erneut, ich rieche ein Wort, jemand duftet ein Wort, ich rieche meinen Namen, nein, nicht meinen, aber immer wieder diese kurzen Duftwolken von rechts. Thomas fragt sich ins Lichtdunkelsüße hinein, wer das sein könne, und ob Franka zu ihm zurückgekehrt sei, oder - ein furchtbarer Gedanke - er wegen Franka hier liegt!? Wegen ihr sich umgebracht haben?, manchmal war ich kurz davor (aber nie wirklich!). Muss ich wieder weinen?, was sich in einem Kopf, der so anders ist - so anders, dass, egal, WAS passiert ist, es schrecklich gewesen sein muss -, ganz seltsam anfühlt. Aber er hört die Tränen ganz nah bei sich oder zumindest diese Vorstufe von Tränen, ein plötzliches, Schluckreize verursachendes Zum-Heulen-zumute-Sein, was das ganze Gesicht aufbläst und wie gegen ein Kissen drückt, mit dem man dich ersticken will, es ist, als wäre das Gesicht angeschwollen, furchtbar angeschwollen, und erst jetzt hörst du das falsche Gebiss in dir, die Stellung der Zähne, kleiner Tentakel namens Zunge spielt Klavier, tastet alles ab, hinten eine stille Lücke, zwei Lücken, die Abstände zwischen den Klängen sind zu groß, oder die Klänge zu leise oder der Mund zu groß oder die Zunge zu klein, überhaupt wessen Speichel höre ich gerade, höre ich?, schlucke ich?, ich schmecke ihn nicht und doch zugleich, wen schmecke ich da? Dir kommt ein ekelhafter Würgereiz, die falsche Kehle zieht sich zusammen, als wollte sie die kleine fremde Zunge verschlucken, von jetzt auf gleich spielt dein soeben noch tränennah gewesenes Gesicht eine Schweißperlensonate, voller Hitze, mein Kopf, denkt Thomas, ist unter eine Straßendampfwalze geraten, gewesen, aber ich erwache, reg dich nicht auf, ich ERWACHE! Und das ist das Wichtigste.

      Denkt Thomas.

      »Leon?!«, riechst du die Stimme erneut.

      Für eine gefühlte Sekunde stockt Thomas' Gehirn. Wer? Wer bin ich? Oder war das nur eine sinnliche Ungenauigkeit?, ein falscher Geruch? Ton? Stimme? Doch der Geruch wiederholt sich: »Leon!«, Pfefferminze, aber du riechst gar nicht den Namen, sondern die Stimme.

      »Hörst du ... mich?« Hören? Kann man denn Stimmen hören?

      »Leon, bist du wach ...?«

      Jetzt hörst du sie tatsächlich, natürlich hört man Stimmen, wie konntest du was anderes denken? Sie klirrt oder kratzt, die Stimme, sie riecht nach Glas - nein, sie KLINGT nach Glas, und hat zugleich etwas Ersticktes, Angstvolles, und dann eine andere Stimme, männlich (was überhaupt dazu führt, die erste Stimme als weiblich zu identifizieren), die duftet beruhigend auf sie ein, auf die Person, die dich Leon nennt.

      Ich will nicht wach werden.

      Du weißt, dass Nicht-wach-werden-Wollen nur ein