H. DERHANK

Der Zwilling


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du hast auf einmal Angst, Thomas preiszugeben, ihn zu verraten, als müsse (oder könne) sich Thomas in Leon Petrović verstecken.

      »Petrović!«, sagst du noch einmal, und richtiger, mit einer Stimme aus tiefster Seele, wie sie einem fremder nicht klingen kann, aber das, DAS ist deine Stimme, neu, und hab keine Angst: Die Ärztin scheint damit einigermaßen klarzukommen, sie sagt nur: »Ja?«

      »Leon ...«, wiederholst du. Warum auch immer das jetzt besser ist.

      Ich bin Leon Petrović. Was ist das? Oder wer?

      Die schöne Frau sieht dich an und ist glücklich. Dann verschwindet sie wieder. Aber sie bleibt im Raum. Und der Junge? Ist der auch da? Ist das ihr Sohn, ist das der Sohn - von ... Leon? Und sie ist Leons - Frau? Nein, das wäre zu absurd, wie auch immer diese Verwechslung zustande kommt, den eigenen Mann dürfte sie wohl noch erkennen, oder?

      ODER?!!!

      Die Ärztin mit der Tonscherbenstimme beginnt zu reden. Künstliches Koma, aus dem du erwacht seist, und dass eine Reha folgen würde, und dass du nicht der Erste wärst, im Gegenteil, die Sache hätte längst Routine. Und immer, wenn dir die Augen zufallen wollen, sagt sie, du sollst sie anschauen. Sie begreift so wenig wie die andere, dass es zu einer Verwechslung gekommen ist, dass du nicht der bist, für den sie dich halten. Oder bist du es, der nicht begreift, dass du nicht der bist, für den DU dich hältst? Begreifst du etwa selbst nicht, dass du gar nicht hier sein dürftest? Dass du gar nicht sein dürftest, gar nicht existieren?

      Bin ich ich? Absurd! Nur dass dieser Körper mein ... nicht mein zu sein scheint. Beruhige dich Thomas, wie oft erlebt man das? Dass der Körper einem fremd wird? Bei jeder Grippe ist das so, und mit deinen 53 Jahren hast du schon einiges an Körperentfremdungen erlebt, erst vor zwei Jahren, als dich eine Infektion tagelang von rechts auf links gedreht hat, da ist das hier nichts dagegen, was also bitte, was also soll jetzt signifikant anders sein? Geschwollene Hände, Schmerzen in Brust und Kehle, der Kopf schwer und der Mund wie nach einem Zahnarztbesuch. Die Augen haben neue Sehschärfen, die Stimmen sind gläsern und das Licht? Selbst das Licht ist anders, anders, bloß wie anders? Unbeschreiblich anders.

      Symptome, Thomas, Symptome, das hat man schon mal, immerhin bin ich gestorben.

      Oder sollte es tatsächlich sein, dass?

      Nein.

      »Herr Petrović, wir ...«

      Nein!

      Du willst diese Ahnung nicht in einen Gedanken gießen, nicht in etwas Formuliertes, lass Ahnung Ahnung sein, denk dir das nicht aus, Thomas, mal dir das nicht aus, du bist Thomas, sie werden dir doch keinen neuen Körper verpasst haben, soweit ist die Technik doch noch gar nicht, deswegen hast du doch den Chip im Nacken, damit sie dich holen, holen, immer online, damit die deinen toten Körper holen, und wenn aber doch? Oder doch nicht? Doch nicht mehr zu gebrauchen gewesen, dieser tote Thomas? Was hat er denn gemacht, der Thomas, woran ist er denn gestorben?

      Und was redet die eigentlich? Die Mausgesichtärztin? Sie will dir doch was erklären, aber du kannst sie nicht verstehen, in deinen Ohren nur das schrille Klirren, das sich kaum mehr nach Stimme anhört, und das immer lauter wird, oder du dir immer lauter einbildest, kann es denn tatsächlich sein, ist es tatsächlich möglich dass sie ... dass du ... falsch bist? Dass sie den Falschen von den Untoten erweckt haben? Nein, dass sie dich im falschen Körper erweckt haben? Im falschen Körper?!

      Die Maus mit der Brille kommt dir nahe, viel zu nahe, deine Augen wehren sich gegen diese Nähe, erst verschwimmt sie, und dann plötzlich ist sie überscharf, ganz nah und scharf und perspektivisch so verzerrt, als sähe man sie durch ein Fisheye-Objektiv.

      Was ist bloß mit mir geschehen? Was ist mit Thomas geschehen? Hatte ich wirklich einen Unfall? Ich, Thomas? Oder dieser Leon? Wurde Thomas als Leon wiederbelebt? Oder - in Leon? Was ist das für eine absurde Geschichte? Kaum aber hast du dir diesen Gedanken ausformuliert, diesen Gedanken zu Ende gedacht, da zerreißt sie dich wieder, die Angst, die panische, unbegreifliche, unfassbare Angst. Nicht das erste Mal seit deinem Erwachen, aber diesmal bleibt der Fall in die Ohnmacht aus, die Implosion der Sinne, du bleibst mitten im Absturz hängen, wie eine Fliege in einem Spinnennetz, aus Angst, du bleibst wach und in voller Wahrnehmung eines unerträglichen Entsetzens, das dieser Körper an deiner statt SPÜRT. Beklemmung, Atemnot und sich aufrichtende Härchen.

      »Herr Petrović?« und: »Leon?«

      Klirren. Scherbenstimmen. Was immer auch geschehen ist, du hast Angst davor, aber wovor? Angst, vor dem Zurück? Du willst nicht dahin ... wohin ... was ist das - zurück? Die Sprache lässt kein passendes Wort zu, es gibt kein Zurück, wohin denn auch?, zurück in den großen holografischen Ballon über dirselbst, mit dirselbst? Deine verzerrte Körperwahrnehmung, deine falschen Wahrnehmungen dieses fremden Körpers durch die Sinne dieses fremden Körpers helfen dir wie zwielichte Komplizen, trotz Panikattacke unauffällig zu bleiben, helfen dir, die körperlichen Reflexe der Angst nach innen zu kehren, sie zu unterdrücken, Herzrasen, Blutrauschen und Übelkeit, Reflexe, deren Ausbruch an die Oberfläche du unbedingt verhindern musst, doch mittendrin, während die Ärztin mit ihrer Scherbenstimme Löcher in dein Gehirn schneidet (meins?), fragst du laut: »Wo bin ich?«

      Laut, du hast das furchtbar laut gesagt, hast diesen völlig fremden Körper dazu benutzt, es geradezu hinauszuschreien, sodass Mauskopf zurückgezuckt ist.

      Wo bin ich?

      Du hast nach dem Wo gefragt, nicht nach dem Wer.

      Mauskopf lächelt, für sie ist das Wo ein Fortschritt gewesen, sie hat deine Erkenntnis, selbst falsch oder an falscher Stelle erwacht zu sein, nicht bemerkt, auch nicht, als sie dich beinahe aufgefressen hätte, hat nicht gemerkt, dass deine Frage nur das Geräusch eines Meteoriteneinschlags war, des Einschlags dieser Erkenntnis, existenziell falsch zu sein. Falsch!

      Und - mein Gott - unwiderruflich!

      Unwiderruflich? Unumkehrbar? Unheilbar krank? Unheilbar - Leon?

      Sie tupft mit etwas deinen Mund ab, offenbar ist Speichel ausgetreten.

      »Herr Petrović, Sie hatten einen Unfall ...« (ja, ich weiß, aber nicht ich, nicht ICH hatte einen ...!), »Sie sind hier im St. Barbara Krankenhaus, in der Unfallchirurgie, in der Intensivstation, es ist alles gut, Sie haben das überlebt, wir haben Sie wieder hingekriegt!« (Oder doch ich? Hatte ICH einen Unfall?)

      Ein plötzliches Bedürfnis, mich aufzurichten, das sie abfängt: »Langsam, Herr Petrović, langsam ...«, schon der Versuch war schmerzhaft, aber auf eine eigenartig taube Art schmerzhaft, als wüsste der Brustkorb nicht so recht, wie er es dir mitteilen soll, dass da was gebrochen oder gerissen ist, und die Lunge, die pfeift!

      »Ein Autounfall«, sagt sie, »Sie haben ... telefoniert, mit Ihrer Frau, beim Fahren, da ist es passiert.«

      Meine Frau?

      »Sie hatten mehrere Rippenbrüche und einen sehr tiefen Lungenriss, der hat einen Pneumothorax ausgelöst. Und der hat zu einem Mediastinal- und Hautemphysem geführt, das sich sehr schnell ausgebreitet hat, sodass ihr Herz versagte und Sie ... noch am Unfallort ... verst...«

      »Was?«

      »Herr Petrović, nichts ... alles wird gut, die Gesellschaft hat das verhindert, dass Sie wirklich gestorben sind. Sie haben Glück. Sie wurden reinkarniert. Sie sind nicht tot!«

      Meine - Frau?! Du fühlst nach deinen falschen Fingern. Dieser Ring. Da ist ein Ring, ein einfacher, runder ... Ring! Ein Ehering.

      Und dann sprichst du den zweiten vollständigen Satz deines neuen Lebens: »War ich denn ... tot?«

      Diesmal sehr bewusst, gezielt, gewählt. Noch während du diese vier Worte sagst, spürst du, wie wenig du es bist, der die Worte sagt, wie wenig du es bist, der spricht, wie viel mehr du IHN sprechen lässt, diesen Körper, und dass das nicht nur Probleme mit den Stimmbändern sind, wegen der Narben oder Wunden, die die Intubation hinterlassen hat, wegen der über Tage oder Wochen andauernden Beatmung, oder der Operation an der Lunge. Nicht die gestörte Intensität der Schmerzen in Brust und Rachen machen dir bewusst, wie wenig das hier deins ist, nein, es ist der