H. DERHANK

Der Zwilling


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Anstrengung und mit jedem Atemzug, der Körper, wer ist das? Dieser große Mann dort, dieser Mann mit seiner hohen und zugleich breiten, von seinem Helm halb verdeckten Stirn, darunter ein Haaransatz viel zu weit hinten, und unter der randlosen Brille Augen wie von einem Vogel, nie so fremde Augen geschaut, und die Nase ist ein fleischiger Schnabel, dominant über einem kleinen, in dieses flächige Gesicht wie mit einem Haarpinsel hineingezeichneten beinahe malerisch gekräuselten Mund. Dieser Mann in seinem weißen erbärmlichen Nachtkittel, dessen lange Arme auf den Schultern zweier Frauen ruhen, und dessen Füße wuchernde Karikaturen von horngelb bekrallten Riesenfüßen sind, dieser Mann im Spiegel sagt unkontrolliert: »Das - bin - ich - nicht!«

      Das ruft, stöhnt dieser Riesenvogel im Spiegel da und zugleich rufe ich und stöhne ich selbst, und die Vogelaugen treten hervor und die Schnabelnase bebt und die schmalen Lippen zittern und öffnen sich und ich sehe die für dieses große Gesicht viel zu kleinen Vogelzähne und ich wähne mich wieder hinter sie zurück, zurück in die Mundhöhle, die ich von innen schließen will, ich will mich hinein- und hinabstürzen und mich von innen verdauen lassen, auflösen, will weg sein, weg! Und dann schaue ich doch wieder hin, in den Spiegel, ins Gesicht des Vogels, das von Schnitt- und Schürfwunden an Wangen und Nase übersät ist, und die gesamte linke Gesichtshälfte umspannt ein Bluterguss, der ihm zusätzlich etwas Archaisches gibt, aber mein Entsetzen ist nicht deswegen, nicht wegen der Wunden, und auch nicht wegen der Krone, die der Mann trägt, ein Helm, unter dem Hunderte von miteinander verdrahteten elektrischen Sonden in seinem geschorenen Schädel stecken, und an dessen Rändern sich nie gehabtes blondes Haar herauswindet, eine Helmkrone, deren unzählige feine Kabel in einem auf seiner Schulter liegenden, faustdicken Gerät gebündelt werden und von dort in einem Schlauchrohr mit einer neben dem Bett stehenden Maschine verbunden sind, die aussieht wie eine auf einem komplizierten Geflecht stehende, fast wie schwebende goldene Kugel, und die deinem Denken den Takt gibt. Das ist nur der Hirnschrittmacher, weißt du, auch auf den bist du vorbereitet, ja, den kenne ich, ich kenne das! Ich weiß, dass es nicht so einfach ist, ein reformatiertes Gehirn wieder in die Ausgangslage Tag X zurückzuprogrammieren, und ich weiß auch, dass man nach einem Unfall anders aussieht, Geschichten von sich nicht wiedererkennen usw. usf. und oft genug gehört, das weiß ich alles, aber der da, der da im Spiegel, der »DAS BIN NICHT ICH!!!« brüllt, der brüllt es an dir vorbei, durch dich hindurch, vergeblich stemmst du dich dagegen, dich so preiszugeben, dich zu offenbaren, Selbstmord ist das!, willst du zurückrufen in den Schlund, aus dem die Worte kamen und die doch meine sind, meine eigenen, ich selbst habe sie gerufen, ein Leon wäre froh gewesen, sich dort im Spiegel wiederzufinden, ich aber finde dort nichts, niemanden, der froh ist, ich schaue in einen Monitor oder was, das ist doch kein Spiegel, dieser komische Vogel ist doch Wahnsinn, das kann nicht wahr sein, dass der da alles nachmacht, was ich mache, jede Bewegung seiner Bewegungen ist ich, das ist doch Wahnsinn, dass der da ich bin!

      Ich falle unter den Armen der Frauen in mich zusammen, mein Blick trifft im Spiegel auf den Blick des Sohnes, weißes Gesicht und aufgerissene Augen, dann verschwimmt der Kontakt und etwas lässt mich die Arme heben und dem Mann im Spiegel seine Schwingen hochreißen, das Nachthemd flattert wie ein Federkleid und er will sich die Krone vom Kopf reißen, aber etwas in mir kämpft dagegen an, die Arme kreisen wie Flügel unkontrolliert in der Luft, ich falle, ich falle und weiß nicht, ob ich mich dabei drehe oder die Welt sich um mich herum, und ob das wirklich ein Fallen ist oder ein Schweben, was ja auch nur freier Fall heißt, nein, ich falle!, schreie ich, nein, du schreist nicht, da sind nur die unartikulierten Laute eines zu Tode Stürzenden, eines im Fallen hilflos Strampelnden und Zappelnden, der flatternde Riesenvogel im Spiegel fällt mit seinem aufgebauschten Nachthemd zu einem Knäuel aus Kopfkabeln und Gliedmaßen in sich zusammen, seinen eigenen Gliedmaßen und anderen, die ihn zu entwirren suchen, und mittendrin, plötzlich und aus tiefster Seele erfasst dich eine nie gekannte Wut.

      Sie explodiert in dir, die Wut über diese hirnverbrannte Verwechslung, die dir den da aufzwingt, diese Zwangsehe, aber das ist auch schon der letzte halbwegs rationale Gedanke, der Rest ist Irrewerden, Durchdrehen, Ausbrechen, den zerstören, den, der dich daran hindert, auszubrechen, diesen hassenswerten Fremden, diesen fremden Körper, du selbst, du, der im Spiegel, du springst ihm, dem Mann im Spiegel, aus einer halb verdrehten, auf dem Boden kauernden Hocke heraus entgegen, schleuderst die beiden Frauen von dir wie ein Superheld im Comic, oder vielmehr wie der entfesselte Schurke, der, der nichts als Böses will, zerstören will, kaputtmachen will, du schmeißt dich mich gegen den Spiegel, schmetterst Faustschlag um Faustschlag in die Vogelfresse, schlägst mit der Stirn vor die Stirn, die Krone reißt aus deinem Schädel und du hämmerst trotzdem weiter davor, bis das Glas bricht und etliche der Sonden in dem diesen Kopf ebenfalls zerbrechen, und alle an dir reißen, Nadeln, Personal und Ehefrau, du selbst reißt an dir und willst doch nur raus, raus, RAUS! Aus dem Mund herausfahren wie ein exorzierter Geist, du spuckst und schlägst und speist dicken, sabbernden, gelben Speichel vor die Fratze von Angesicht zu Angesicht, durch die Mundhöhle willst du hinausfahren, oder durch die Augenhöhlen, die Augen mit den Füßen von innen heraustreten, herauspressen, rausquetschen, Äderchen platzen und du meinst sie schon als glitschige weiße Bälle an den Nervenenden baumeln zu sehen, du donnerst weiter vor das geborstene Spiegelglas, bis du dich oder den da nicht mehr sehen kannst, raus hier, raus, durch die blutende Stirn aus dem Kopf hinausfahren, mit dem Blut hinausspritzen, durch den Schmerz hinausfahren aus dem Leib, um dich schlagen, Fäuste prügeln, Schwitzkasten, drehen, treten, in einen Bauch treten, Eier treten, Gesicht treten, kaputt treten, rasend sein, rasende Furie sein, sich in Raserei vergehen, Vergehen, Vergehen, Vergehen ohnegleichen, aufhören zu sein und wie ein Stern als Supernova im All verpuffen, verbrennen, verglühen und mich auflösen in einer vollkommen gleichförmigen, reglosen, sinnlosen, von allen guten Geistern verlassenen endlos finsteren Schwärze und Kälte und Stille und Ewigkeit und Nichts und niemand wird niemals nie nirgendwo nie wieder atmen.

      Nein, ich atme diesen Körper nicht.

      Nullphase: Erwachen ohne Erinnerung

      Ich atme diesen Körper nicht.

      Nein, ich atme diesen Körper nicht.

      Ich atme diesen Körper nicht,

      diesen Körper atm' ich nicht ...

      Später höre ich Bachkiesel.

      Ich spüre eine milde Brise. Ich liege auf einer Waldlichtung. Ich habe die Augen geschlossen.

      Ich atme diesen Körper nicht ...

      Harmlose Insekten, Bienen, Hummeln, Schmetterlinge; und Vögel, und die frischen Gerüche aus Baumharzen und Blüten.

      ... diesen Körper atm' ich nicht ...

      Ich weiß sofort, dass ich nicht weiß, wer ich bin. Ich öffne meine Augen nicht. Ich frage mich, ob ich träume, finde es aber interessant, dass ich darüber nachdenke. Ist das Nachdenken ein Indiz, wach zu sein? Oder zu träumen? Träume ich? Ich bin mir der Gegenwart sehr gewahr. Trotz geschlossener Augen. Was bedeutet, ich könnte schwören, dass ich wach bin. Aber könnte ich das nicht auch im Traum? Mein Körper (ich habe einen Körper!) liegt zudem auf etwas, das sich seltsam anfühlt, das vielleicht gar kein Moosbett ist. Ob ich träume oder wache, bleibt ununterscheidbar. Und wer ich bin, unbeantwortbar. Ist nicht zu wissen, wer man ist, ein starkes Traumindiz? Und wieso stimmt es mich bloß auf eine sanft melancholische Art traurig, mich nicht erinnern zu können? Wieso ängstigt mich das nicht?

      Ich atme diesen Körper nicht,

      diesen Körper atm' ich nicht ...

      Nein, diesen Körper atm' ich nicht!

      Nein, es macht mir keine Angst. Und auch diese Erkenntnis erstaunt mich nur, dabei sollte mich allein die Erkenntnis, keine Angst zu haben, an sich schon beunruhigen! Aber da ist nur eine beinahe schöne Elegie in mir, wie ein stimmloses Lied von in sich ruhender Traurigkeit. Ich ruhe in mir. Ich bin auf eine traurige Art glücklich. Weniger wegen des damit verbundenen und empfundenen sozusagenen Neuanfangs, ich genieße vielmehr das Verlöschen einer Schwere, die mich (offenbar) belastet hat. Haben könnte. Ich weiß nichts (mehr) von einer vergangenen Schwere, aber - auch das ist interessant - ich ziehe die Möglichkeit ihres Gewesenseins in Betracht. Ziehe ich.