H. DERHANK

Der Zwilling


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Wie eine Leinwand, von der imaginären Seite hereingezogen mit mir vorgestellten eigenen Händen, aber es ist eine unerinnerte Schwere, was ist das? Was ist Schwere anderes als ein Wort? Ein diffuser dunkler Fleck auf weißem Grund. Konturlos, die Leinwand fast ganz ausfüllend, wie ausgegossen, davor geschüttet, oder mit einem großen, breiten Pinsel dick aufgetragen, erdrückend dick, die Farbe schwarz, anthrazit, ein Stich dunkelblau, aber nur ein Fleck, keinerlei konkrete Erinnerung, ich müsste meine Fantasie bemühen, mir eine auszumalen. Also male ich, sprichwörtlich mit erdachten Pinseln und Farbe, weiß aber, dass ich nur male - und nicht erinnere.

      Ich atme diesen Körper nicht,

      diesen Körper atm' ich nicht!

      Ich male, ein Mann zu sein, kein Zweifel, aber schon beim Bestimmen meines Alters muss ich passen. Erwachsen bin ich, aber ob 20 oder 50 oder noch älter? Vielleicht nicht gerade 20, diese Zahl erscheint mir doch zu jung. Immerhin. Ich male mich mir also älter aus, doch im Übrigen verbinde ich nichts mit mir. Ich weiß nicht, ob ich laut oder still bin, konfrontativ oder ausweichend, mutig oder feige, offen oder verschlossen, klar oder umschreibend, fordernd oder devot, authentisch oder ehrlich ... authentisch oder ehrlich? Master or Slave, bin ich denn wahrhaftig? Wie bin ich? Das Gemalte ist eine Fratze, nicht ich?

      Ich atme diesen Körper nicht,

      diesen Körper atm' ich nicht!

      Ich atme diesen Körper nicht,

      diesen Körper atm' ich nicht!

      Hatte ich eine Frau? Hatte ich Kinder? Und habe ich sie verloren? Es nicht geschafft, sie wahlweise zu ernähren oder zu lieben? War sie krank? Die Frau? Waren sie, die Kinder krank, oder eines? Oder war ich selbst krank? Schwer krank? Oder unglücklich? Unglücklich verliebt? Hatte ich vielleicht Feinde, die mir zugesetzt haben? Lebe oder lebte ich in einem politischen System der Repression? Eingeschlossen in einem Bürgerkrieg? War ich darin gefangen? Im Krieg? Ein Folteropfer? War ich Zeuge oder Opfer von Gewalt? Oder war ich Täter? Habe ich nicht vor vielen, vielen Jahren einem anderen, zum Beispiel einem Jungen in meinem Alter mit schmutzigen, strähnigen Haaren, einem Jungen in einem billigen, dunkelblauen, osteuropäischen Trainingsanzug mit hellen Seitenstreifen und schlecht funktionierenden Reißverschlüssen, habe ich nicht so einem Jungen, während er von meinen (sehr kräftigen) Komplizen festgehalten wurde ... bin ich nicht von so einem Jungen, während seine (sehr kräftigen) Komplizen mich festgehalten haben ... und sie mich ... haben sie mich ...?

      Ich atme diesen Körper nicht,

      diesen Körper atm' ich nicht!

      Ich atme diesen Körper nicht,

      Das plötzlich eruptierende Gefühl von Enge, Fesseln, Opfer sein, und Wut, gefesselte Wut, fürchterliche Wut mit platzenden Äderchen, Zittern und sprühendem Speichel, immer wütender wütender wütender werden, die Fesseln zersprengen und sich rächen. Endlich.

      Diesen Körper atm' ich nicht!

      Ich atme diesen Körper nicht,

      diesen Körper atm' ich nicht!

      Ich höre noch immer die Bachkiesel und das Wasser miteinander spielen. Und der Wind ist noch immer mild und freundlich zu meiner Haut. Ich fühle Gesicht, Arme, Bauch, Beine. Als hätte ich nie geatmet, strömt die milde Luft wie von selbst in meinen Körper. Noch immer liege ich auf einer Waldlichtung und höre mit geschlossenen Augen die Insekten; und die Vögel; und ich rieche Baumharze und anderen Feld-Wald-Wiesen-Düfte. Und ich weiß noch immer nicht, wer ich bin. Ich lasse die Augen geschlossen.

      Ich atme diesen Körper nicht.

      Seelenscan

      Ich atme diesen Körper nicht,

      diesen Körper atm' ich nicht!

      Raus und nochmals von vorne.

      Neustart.

      Während ich an einem sonnigen Januartag ins Bergische Land fahre, gehen mir Bilder einer wüsten Krankenhausschlägerei durch den Kopf, die ich nicht zuordnen kann. Ich kann mich nicht erinnern, je in einem Krankenhaus gelegen zu haben. Wahrscheinlich habe ich nur geträumt, denke ich, und finde, dass nicht ich, sondern dieses Land krank ist.

      Dieses Bergische unterhalb von Köln-Leverkusen. Ich fahre die Autobahn A3 Richtung Süden, Südosten, irgendwo das Siebengebirge und Erinnerungen an Rübezahl und Kinder, die auf Felsen klettern, doch hier, wo ich fahre, ist kein Gebirge, nur flächendeckend Lärmschutzwände aus Beton und gesichertes Gestein, mit Drahtgittern bespannt, die Landschaft ist brutal aufgeräumte Natur, und auf der Gegenfahrbahn braut sich ein Stau zusammen, der einen ängstigen könnte. Lass dir Zeit, sage ich mir, es ist nicht mal zwei, bin viel zu früh. Heute Abend wird er sich wieder aufgelöst haben. Schlimmer noch als die Betonwände oder der Stau sind die wind- und formlosen Wolken, ist dieses endlos Diesige, in das ich hineinfahre und das das Blau des Himmels klammheimlich in ein helles Grau verwandelt. Obwohl der Tag sonnig angekündigt, komme ich in einen Hochnebel. Ein Nebel an so einem Tag, ein Nebel, der den Anschein erweckt, er wäre immer schon da gewesen. Ein Nebel, der nicht aus Wasserdampf besteht, sondern aus etwas anderem, in Köpfen Entstandenem. Nach einer Weile frage ich mich, wo diese Landschaft ihr Licht hernimmt.

      Ich taste nach meinem Nacken, berühre die junge Narbe. Eine winzige Kruste aus einem geronnenen Tropfen Blut. Mehr brauchte es nicht. Das darunter kann ich nicht fühlen, aber es ist da. Ich bin verbunden.

      Ich atme diesen Körper nicht ...

      Die Implantation des Live-Senders ist ein harmloser Eingriff. Man sitzt auf einem Stuhl, ich sitze auf einem Stuhl, nein, ich sitze gar nicht, ich liege auf dem Bauch, ich schaue in ein Frotteehandtuch und lasse mir im Liegen den Nacken massieren, das ist die Arzthelferin. Und dann ein Stich, ein Spray, und mein Nacken löst sich in Nichts auf, während ich auf dem ergonomisch ausgeformten Polster ins Weiße schaue.

      Ich habe mich überreden lassen, habe mich selbst überredet. Jetzt, wo Franka weg ist, gibt es niemanden mehr, der mir das Unsterblichsein ausreden könnte (aber ehrlich gesagt auch keinen echten Grund mehr, unsterblich zu sein). Ich liege auf Schaumstoff und spüre und sehe nichts und lasse mir den Chip einpflanzen, den ich nie haben wollte.

      Diesen Körper atm' ich nicht!

      Der Arzt ist mein Hausarzt, der öffnet eine kleine Pappschachtel im Design einer Medikamentenverpackung, holt ein durchsichtiges Plastikdöschen heraus und zeigt mir darin den Sender, einen winzigen, kaum fingernagelgroßen RFID-Chip, der auf dem Boden des Döschens fixiert ist; ebenfalls darin fixiert eine sterile Pinzette, mit der muss man den Chip abknipsen und in den Patienten einsetzen. Und von außen auf der Dose aufgeprägt ein soundsovielstelliger Code. Mein Arzt hat eine ganze Schublade voller Chippackungen. Das seien Pfennigartikel, sagt er.

      An seinem kleinen Tischcomputer ist ein Scanner angebracht, gegen den hält er das Döschen und der Code meines Chips wird eingelesen. Eine Maske mit Eingabefeldern öffnet sich für Name, Geburtstag etc., er stellt das Döschen auf eine kleine Wärmeplatte, die versorge den Chip mit Energie, sagt er und wartet ein paar Sekunden. Und dann: »Verbunden!«

      Er gibt meine Daten ein.

      Ich bin Thomas Vanderra, 53 Jahre alt, Architekt, angestellt und ledig. Geburtstag und -ort, und die Vertragsnummer der Gesellschaft. Gesellschaft mit hochgestelltem 'R': Gesellschaft ®. Und ledig immer noch oder für immer.

      Er zeigt mir an einem Kunststoff-Wirbelsäulen-Modell, wo der Chip hingepflanzt wird: mitten ins Genick; passgenau in die kleine Senke auf dem Dorn des zweiten Halswirbels, die wie dafür gemacht ist. Ein RFID-Chip ist ein kleiner Sender, erklärt er, der ohne Batterie auskomme, die Körperwärme reiche aus, um ihn in Betrieb zu halten. Ich bräuchte nur den Oberkörper freimachen und mich dort hinzulegen, der Eingriff dauere nur ein paar Minuten. Minimal-invasiv.

      Ich atme diesen Körper nicht ...

      Ich weiß das alles. Ich lese regelmäßig Artikel über die Reinkarnation. Menschheitstraum wahrgeworden, schreit es einem von animierten Werbescreens,