H. DERHANK

Der Zwilling


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Wie tausend Mückenstiche, die sich in einer Art Flächenbrand verlieren, nein, kein Brand, nur ein Brennen, und dank der juckreizhemmenden Salbe, die einem das Haar verklebt, ist das Brennen eine fast angenehme Wärme, angenehm, wenn man warmen Kopf mag. Und dieser Helm ist über ein langes, an deiner Schulter fixiertes Datenkabel mit dem Ballon verbunden, dessen Leuchten - aber das kann man sich auch einbilden - pulsiert. Mir wird plötzlich bewusst, dass das tatsächlich nicht real ist, nicht physisch real, sondern nur in meinem Kopf stattfindet. Ich träume, einen Wachtraum zu haben, ich bin vielleicht auch wach und erinnere mich an mein Backup, doch die Erinnerung ist so unglaublich klar, dass man in sie hineinfallen kann, dass man vergessen kann, dass dies hier längst geschehen ist.

      In Wahrheit habe ich den Tod schon hinter mir, in Wahrheit liege ich in einem Krankenhaus, in Wahrheit bemüht man sich längst um meine Reinkarnation. Bei der etwas schiefgelaufen ist, ich erinnere mich, ich war nicht mehr ich, oder träume ich auch das?

      Alles Schein, denkt Thomas, sogar das Reale ist nur Erscheinung der Welt in dir, und mit diesem Gedanken löst sich das Gefühl, auf der Intensivstation zu liegen und zu träumen oder sich zu erinnern, wieder auf, und du unterwirfst dich wieder voll und ganz der scheinbar aktualen Gegenwärtigkeit des Momentes deines ersten Backups. Helm und Film.

      Vielleicht ist das Pulsieren des Helms auch überflüssig, denkst du, diese ganze futuristische Aufmachung, angefangen in der großen Empfangshalle, die sphärische Musik in den Gängen und Aufzügen, dem Innendesign cineastischer Raumschiffe nachempfunden, alles wirkt wie ein inszenierter Blick in die Zukunft. Die Gesellschaft ist eine private Gesellschaft, die - von staatlichen Fördergeldern abgesehen (und die sind, wie man hört, gigantisch) - Umsatz machen muss. Mit Theater, Schein und einem pulsierenden Ballon. Und anschließender Tiefenhypnose. Dass die Essenz unserer Gehirne anschließend in abbruchreifen Ziegelhallen des vorvorherigen Jahrhunderts gelagert wird, das braucht niemand zu wissen.

      Aber das Pulsieren dient auch der Sichtbarmachung des eigenen Thomas'schen Hirnrhythmus'. Meiner Aura. Franka hat das Wort gern benutzt. Aura. Franka mit ihrem Hang zum Esoterischen. Und dass die Seele etwas Originäres, Unitäres sei, eine nicht verhandelbare kleinste Einheit. Und dass man ein Individuum (eben seine Seele) nicht duplizieren kann. Oder scannen. Dass da etwas ist, etwas Göttliches, und jedes Menschen Seele ein Atom Gottes. Nicht des Kirchengottes, Franka hat nicht 'Gott' gesagt, aber etwas in der Art gemeint, jede Seele ein Atom eines esoterisch pantheistischen Bewusstseins. Weswegen sie das jedenfalls niemals machen werde, was ich hier mache, und was ein Streitthema war. Hat sie mich deswegen verlassen? Weil ich nicht an die Seele glaube? Hält sie mich für einen Menschen ohne Seele? Nichts Seelenhaftes in dir, findet sie, nichts Seelenhaftes, das je aus dir herausfand. Du, Thomas, bist ein Seelenloser, hat sie gesagt, ja, Franka, bin ich, bin einer, dem es nichts ausmacht, diesen Seelenersatz, der 'Hirnstrom' heißt, in einem Computer abbilden zu lassen. Aber ich sollte und wollte doch gar nicht an Franka denken, und ich habe das längst überstanden, und eigentlich gibt es da nichts zu überstehen, die Sache ist vorbei, sie hat einen anderen, na und? Sid.

      Auf dem Bildschirm holt soeben Adam, der schon mit Hanna angebändelt hat, ihrem Freund Simon einen runter. Im Schwimmbad. Würde ich mir von Sid einen runterholen lassen? Heimlich? Ohne, dass Franka ...? Oder in ihrem Beisein? Vor ihren Augen? Nein, weder noch, darüber muss Thomas fast lachen, nein, das geht nicht. Ich kann nicht mit Männern. Jedenfalls nicht so. Wie, so? Wie sonst? Und warum denke ich, während die Gesellschaft meine Gedanken liest, an Sid? Der sie mir weggenommen hat. Was nicht stimmt. Warum denke ich an Franka? An diese Scheiße, die längst vorbei ist?! Thomas, denkt Thomas, Thomas, denk an was anderes, etwas Positives, du willst doch nach deinem Tod nicht mit Franka im Kopf erwachen?

      Und denkst an diese Situation, als die beiden dir im 'Sissikingkong' über den Weg gelaufen sind? Neben dem Klo fast aneinander gerempelt und sich erschrocken und betont freundlich geben und sich in Wahrheit ankotzen wollen. Sid hatte dich ankotzen wollen. Oder du ihn. Aber aufgeklärte Menschen tun das nicht. Sie reden. Franka, wie es meiner Mutter gehe, und ich, wie ihrer Tochter (für die nun Sid den Vater spielen darf, aber das zu denken, ist hässlich - ihm gegenüber oder dir selbst). Und Sid uns beide mit den Augen eines Habichts abtastend ... an so was zu denken, wenn man mich wiederbelebt?

      Ich habe nicht vor, zu sterben. (...). Ich brauche den Scan nicht. Ich werde noch viele Backups machen, und mit jedem neuen Backup werden meine Erinnerungen an Franka weniger werden, die Wahrscheinlichkeit, nach meinem Tod mit solchen Gedanken wiederzuerwachen, geringer. Oder soll ich mir vor Liebeskummer etwas antun, nur um anschließend wiedererweckt zu werden? Mit diesem Gedanken, der da heißt Franka?

      Wie lange dauert das hier noch? Und: alle vier Wochen? Mindestens, sagen sie, besser alle zwei, oder wer es sich leisten kann, jede. Im ungünstigsten Fall stirbt man kurz vor dem nächsten Scan, und dann müssen sie oder muss man vier Wochen fehlende Erinnerung aufholen, ich aber werde mir die vier Wochen kaum leisten können, Unsterblichkeit macht arm. Was ist, wenn ich vor Armut verhungern muss? Was aber nicht ginge, da ich auch bei Hungertod wiedererweckt würde? Eine

      Millionen tun es inzwischen, in diesem Land leben mittlerweile eine Millionen Unsterbliche, so unsterblich, wie ich unsterblich in Franka verliebt war, verliebt, verliebt, was ist das eigentlich, wer ist Franka, und wer, vor allem, bin ich? Es heißt, man soll sich sein Leben, den Alltag und alles, was gerade wirklich wichtig ist, während des Scans vergegenwärtigen. Man soll es sich aufrufen, vor die innere Leinwand, und ob denn ein Film dann nicht störe, frage ich, aber das wäre nicht so, man würde beim Filmeschauen träumen. Träumen?, ja, Tagträumen natürlich, möglichst waches Tagträumen.

      Im Abspann bleibt der Anblick der schwangeren Hanna in meinem Kopf kleben, nackt zwischen zwei sie liebenden nackten Männern. Das Bild brennt sich fest in mich und meinen Backup ein und bedeutet Teilen oder neues Leben oder eben: Wiedergeburt.

      Doch dann stockt der Film. Der Film und / oder mein eigener. Als gäbe es nichts danach. Statt weiterzuleben, weiter zu erleben, erinnere ich mich bloß. Alles Wahrnehmen hat plötzlich eine andere gegenwartslose Qualität, das Gefühl von Hier und Jetzt ist verschwunden, und meine ganze Aufmerksamkeit gilt dem Fischen in Gespeichertem, ich weiß nicht einmal mit Gewissheit, ob ich den Scann gerade eben erst erlebt habe, oder vor langer Zeit. Ob die Bilder des Abspanns, die ich mir so wortwörtlich hautnah erlebend gerade noch vergegenwärtigt habe, tatsächlich gegenwärtig gewesen sind.

      Ich erinnere mich. Jetzt, im Moment. Nur Erinnern, kein Erleben. Bzw.: Erleben von Erinnerung.

      Ich erinnere mich an das Vorher, den Tag, das Mittagessen, bevor ich losgefahren bin, die vegetarische Pizza bei dem stets schlecht gelaunten Italiener (du magst ihn trotzdem), ich erinnere mich an eine Grundhaltung guter Dinge an diesem Tag, an eine neugierige Beschwingtheit, sogar während des eher unangenehmen Termins am Vormittag, da war was mit einem Bauherrn, der unser Honorar nicht zahlen wollte, und statt Chef sollte Thomas das klären, weil Chef solchen Gesprächen aus dem Weg geht, weil er feige ist oder auch: ihm egal. Erinnerung an den Kaffee bei diesem Bauherrn, der bitter schmeckte, aber auch, dass es frische Milch dazu gab, nicht diese Kaffeesahneportionsdöschen, was ungewöhnlich ist, und die nette Sekretärin, die dir sogar die Hand geschüttelt hat, ihre Hand war warm gewesen, das war dir aufgefallen, du hättest sie gerne eine Sekunde länger festgehalten, aber, na ja, du weißt schon; und auch weiter zurück ist alles präsent, das zweite Frühstück im Büro, das aus einem belegten Brötchen (Tofu) vor dem Computer bestand, und davor bist du mit dem Auto zur Arbeit gekommen, ausnahmsweise nicht mit dem Bus, weil du doch anschließend ins Bergische musstest, und du erinnerst dich eine Art Unruhe oder Vorfreude auf diesen Tag, schon beim Aufwachen, Vorfreude auf diesen Moment, wo ein Computer mein Bewusstsein duplizieren soll (ja, ich habe mich wirklich auf meinen ersten Scan gefreut!), und du erinnerst dich an die Nacht davor (meine letzte Nacht Zuhause?), sogar, dass ich was geträumt habe, weiß ich noch, nur nicht mehr was, aber dass es intensiv gewesen war, auf irgendeine melancholisch schöne Art schwer.

      (Meine allerletzte Nacht Zuhause?)

      Und wieder erscheinen mir die Bilder von der Fahrt nach Neustadt, Neustadt im Bergischen, diese diesige, der Zeit entrückte Januarlandschaft, die Frau auf dem Parkplatz, die mich an Sylvie erinnert hat, und mir beim besten Willen keine Sylvie einfällt, die ich kennen könnte, und diese junge Frau, als ich mich in die Verwaltung