H. DERHANK

Der Zwilling


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ihn, bis du er bist.

      Ich verstehe nicht warum, aber die Vorstellung, ebenso wie Leon gestorben zu sein, hat etwas Beruhigendes. Gibt mir ein Gefühl von Kontinuität, wo die Alternative, dass der originale Thomas noch lebt, mich zur Hälfte einer buchstäblich gespaltenen Persönlichkeit macht. Auch wenn es keinen wirklichen Grund gibt, daran zu glauben, rein reinkarnationstechnisch ist es vollkommen irrelevant ob, auch wenn mir mein Verstand zuflüstern möchte, 'Thomas lebt ... Thomas lebt ...', glaube ich irgendwann fest daran, nur einer zu sein. Ich flüchte mich in diesen Glauben wider besseren Wissens und doch so voll und ganz, dass ich über Thomas und das, was zeitgleich Thomas sein könnte, nicht mehr nachdenke.

      Skepsis

      Ich spiele also Leon, aber meine Ärztin bleibt skeptisch. Solange ich noch in der Unfallklinik bin, kommt sie täglich zu mir, stellt Fragen und verordnet mir binnen zwei Wochen zwei Computertomografien. Es ist, als sammle Frau Doktor Mausgesicht (die Dr. Marzahn heißt, aber für dich weiterhin 'Mausgesicht') Beweise; und eines Tages kommt es in ihrem Sprechzimmer zu einem ausführlichen und unheilvollen Gespräch, bei dem sie dir erklärt, dass dein Gehirn zu klein ist.

      Mausgesicht hält dir eine etwa DIN-A4 große und zwei Millimeter dicke Folie aus Kunststoff hin, ein mittels 3-D-Drucker visualisierter vertikaler Schnitt durch meinen Kopf, eine Scheibe von meinem aktuellen Gehirn, ein tausendrotädriger grauweißer Blumenkohl in einer knöchernen Kürbisschale, ein Hirn wie eine Landkarte, verwunschenes Land mit einer Küste wie Norwegen, voller Fjorde und milchig-durchsichtiger Binnenseen, die Mausgesicht »Liquor cerebrospinalis« nennt. Und die Ufer sind besiedelt vom »Cortex cerebri«, d.s. die kleinen grauen Zellen, die gute alte Hirnrinde, und dazwischen befindet sich das weite Land (der tiefe Raum). Darin ist es weiß, hier verlaufen die Straßen oder vielmehr Kabel und Leitungen, die die Bewohner der Küsten tausendmillionenmilliardenfach miteinander verbinden, die sie miteinander telefonieren lassen, jeden mit jedem, im Takt, nicht chaotisch, sondern strukturiert, sodass Muster entstehen, magnetisch, elektronisch oder auch nur virtuell, so empfangen und senden sie tausendmillionenmilliarden Signale; zeitgleich, rhythmisch, damit auf feinstofflichster Ebene des menschlichen Daseins die konkreten Dinge entstehen können, die man mit Wahrnehmen und Fühlen und Denken umschreibt und die man ICH nennt.

      Ich aber weiß und sehe etwas ganz anderes: Diese Linie, diese graue Küstenlinie, kaum zwei Millimeter dick, die ist NICHT Leon.

      Und Mausgesicht sieht das genauso: Sie findet mein Gehirn zu klein. Es läge wohl nicht so kongruent in der Schale (Schädel), wie es sein sollte und wie es wohl auch vor dem Unfall drin gelegen oder geschwommen oder was auch immer haben muss. Dabei habe man es doch (dieses tote Gehirn) nach dem Unfall mit meiner (meiner? Leons?) neuronalen DNA geimpft und restrukturiert nach alten Bauplänen usw. usf. - und niemand anders weiß, dass du Rumpelstilzchen heißt.

      Sie nimmt eine zweite, ältere Folie aus ihrer Akte und legt sie neben die erste. Leon. Leon der Echte. Zuerst erkennst du keinen Unterschied, aber als sie die Folien übereinanderlegt, auf einem Leuchttisch, der nur zu diesem Zweck da steht, da erkennst auch du, dass Leon der Schlauere von euch beiden war. Der mit mehr Hirnmasse. Während die Schädelform eins zu eins übereinander passt, ist das Heutegehirn etwas kleiner, etwas anders, winzige Unterschiede bei Größe und Ausdehnung der Lappungen und Furchen, winzig, aber unverkennbar, das ist nicht (nicht ganz) das alte Gehirn von Leon Petrović. Das vom 25. Januar um 14:28:10 Uhr. Die heutige Hirnrinde, deine, die hat zu viel Luft. Und dieser Unterschied würde das Gehirn stoßanfälliger machen, sagt sie, oder vielmehr: schleuderanfälliger. Und das könnte - könnte! - in einem Zusammenhang mit meinen schlechten Gedächtnisleistungen stehen. Ungewöhnlich schlechten Gedächtnisleistungen.

      »Grenzwertig ...«, sagt sie. Man sei beunruhigt.

      ICH bin beunruhigt. Noch mehr, als sie mir mithilfe einer Standlupe zeigt, wie wenig sich die Sekundär- und Tertiärfurchungen der Hirnlappen decken. Und dass diese aber so etwas wie ein individueller Fingerabdruck wären, und ergo ich offenbar nicht mehr denselben Fingerabdruck hätte. Und ob ich mich wirklich erinnere ...

      Infrage stellen, ob Kopf und Körper untrennbar miteinander verbunden sind. Erst recht, aber das darf sie nie erfahren, wenn dieser Kopf und dieser Körper dir nie zuvor gehört haben und ergo die Form dieses neuen Gehirns nichts anderes ist als das Zeugnis einer heimlichen Inbesitznahme eines unbekannten Landes durch einen unheimlichen Fremden. Du bist der Vasall, den das Volk verjagen will, obendrein vom Ausland geschasst. Wohin also mit dir? Was geschieht mit einem Diktator irgendwann? Du weißt nicht, wie du aus diesem Land wieder unbeschadet herauskommen sollst. DAS ist das Entsetzliche!

      Später sitzt du in deinem Krankenzimmer vor dem Laptop. Soll ich zu mir zurückkehren? Als virtueller Geist? Leon aufgeben und sich ins Internet verkriechen ...

      Nein, ich spiele Leon und Sylvie spielt mit. Sie hält zu mir, so seltsam ich auch geworden bin. Sylvie. Es würde immer besser werden, mit mir, mit meinen Erinnerungen, seit ein paar Wochen mache mein Gedächtnis erkennbare Fortschritte, und sie würde mich langsam wiedererkennen. Sagt sie, als wolle sie mich, die Ärzte oder sich selbst beruhigen. Dasselbe sagt auch Karina, aber vielleicht muss sie das auch, Karina arbeitet für die Gesellschaft, und die will Erfolge.

      Allein Frau Dr. Mausgesicht bleibt skeptisch. Doch immerhin hattest du keine emotionalen Zusammenbrüche mehr. Und der sonstige Genesungsprozess geht weiter, er muss weitergehen, die Wiedereingliederung wartet schon. Ein Krankentransport soll dich in die Rehaklinik bringen, und als du – aus versicherungstechnischen Gründen in einem Rollstuhl - durch die Pforte geschoben wirst, sieht Mausgesicht dir unbefriedigt nach. Mit einem detektivischen Misstrauen im Gesicht, als wäre der Fall für sie noch lange nicht abgeschlossen.

      Gänse im Park

      Man fährt Leon, mich, zu den im Nirwana des östlichen Sauerlandes gelegenen Westfälischen Heilanstalten für traumatische Reinkarnationsmedizin, kurz WestHeil, die bundesweit größte Rehaklinik für all jene, die den eigenen Tod überstanden haben.

      Die Anstalten sind quasi alleiniger Arbeitgeber des 5000-Seelennestes Ambach a.d. Schwalle (ein Nebenfluss der Diemel) und wurden in den 1850ern als Irrenhaus zur Ver- oder vielmehr Entsorgung von durchgedrehten, heimatlosen männlichen Umhertreibern gegründet, die in der Gründerzeit des sich rasant industrialisierenden Ruhrgebiets anders nicht mehr zu kontrollieren waren. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde hier das erste Mal modernisiert und ein Wegsperrturm für besonders harte Fälle aufgestellt, um an den weniger harten gewisse Freiheiten ausprobieren zu können. Im Ersten Weltkrieg war die Anstalt dann psychiatrische Durchlaufstation für traumatisierte Soldaten, die man hier mithilfe von Elektroschocktherapien und Eiswasserbädern wieder fronttauglich machte, und in den 1933ern erhielt der Komplex ein Unterzentrum für neurologische Spezialfälle und wurde mit einer ganzen Batterie von an Grausamkeit nicht mehr steigerungsfähigen Versuchslaboren nebst angeschlossenen Einrichtungen des staatlichen Euthanasie-Programms ausgestattet. Noch in den 1970ern um eine Spezialklinik für Schizophrenie und anverwandte neurologisch-psychiatrische Krankheitsbilder auf über 30 Hektar erweitert, standen die Anstalten nach dem großen Kliniksterben der 80er und 90er Jahre vor der Schließung und waren daher für die Gesellschaft ein gefundenes Fressen, das sie sich, unterstützt von staatlichen Finanzspritzen und günstigen Investorenkrediten, mit Mann und Maus einverleibt hat. Dabei war ein Hauptgrund, sich für diesen Standort zu entscheiden, neben dem brachliegenden therapeutischen Know-how ein forschungs- wie auch vermarktungstechnisch hochinteressantes, seit anderthalb Jahrhunderten stetig gewachsenes Archiv zahlloser, gut dokumentierter Fallstudien zur abgründigen Grenzwelt zwischen Körper und Geist, die sich auch in Zeiten der Reinkarnationsmedizin dem wissenschaftlichen Blick aufs Uneinsichtigste verweigert.

      Angesichts der steigenden Zahl unsterblichkeitswilliger Kundschaft ist die Professionalisierung des Reinkarnationswesens längst überfällig. Noch sind wir eine kleine elitäre Minderheit, noch verhindern die hohen dauerhaften Kosten, aber auch weitverbreitete persönliche Vorbehalte und die schlichtweg allzu begrenzten Kapazitäten, dass derzeit kaum anderthalb Prozent der Bevölkerung die Dienste der Gesellschaft in Anspruch nehmen. Aber auch