H. DERHANK

Der Zwilling


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Mittel täglich 50 bis 60 ums Leben - bzw. eben nicht ums Leben, sondern müssen reinkarniert werden; Tendenz steigend. Inzwischen sind viele Kliniken mit den entsprechenden intensivmedizinischen Techniken ausgestattet, um die eigentliche Reinkarnation vor Ort durchzuführen - seit Neustem können die Backups von der Landes-Scan-Zentrale im bergischen Neustadt sogar online in die jeweiligen Fachkliniken übertragen werden -, aber fast jeder bei der Gesellschaft versicherte Todesfall landet nach Wiedereinspielung und Rekonstruktion des Gehirns, nach Beendigung der Akutphase und Stabilisierung der Körperfunktionen irgendwann in einer der mittlerweile 12 Rehakliniken (europaweit sollen es über 30 sein und weltweit ist die Zahl dreistellig). Allein die WestHeil nehmen täglich 10 bis 12 Fälle auf. Bei einer mittleren Verweildauer von ein bis zwei Monaten kann man sich daher vorstellen, dass die derzeit 400 zur Verfügung stehenden Betten förmlich aus den Nähten platzen. Die Bautätigkeiten auf dem Gelände sind allgegenwärtig, 600 Betten sind das nächste Etappenziel, und parallel wird in Xanthen ein weiteres Gelände allein für die Region Niederrhein erschlossen.

      Am Empfang in einem nach Lack und Zementstaub riechenden, erst kürzlich fertiggestellten Neubautrakt wirst du gleich bei der Ankunft für diverse Therapien angemeldet. Deinen Rollstuhl haben die Fahrer wieder mitgenommen und so stehst du aufrecht, aber verloren am Tresen. Sylvie kümmert sich, Sylvie, die nach dir losgefahren, aber vor dir hier eingetroffen ist, Sylvie hat das alles irgendwie gemanagt und du musst nur noch Papiere unterschreiben, was allein schon ein Akt der Unmöglichkeit ist. Siedend heiß geht dir durch Mark und Bein, dass du deine Unterschrift gar nicht kennst. Du beugst dich mit einem orangefarbenen Kugelschreiber, auf dem das Sonnensymbol der Gesellschaft aufgedruckt ist, über die Ausdrucke, deren Inhalte du nicht kennst und die dich auch nicht interessieren - du willst nur eines wissen: Wie um Himmels willen unterschreibt ein Leon Petrović?

      Alltägliche Situationen sind die gefährlichsten. Lerne den Alltag, sagst du dir immer, lerne ER zu sein, aber jetzt ist es zu spät, und nur weil du meinst, irgendwo in den Unterlagen der Kognitionstherapeutin SEINE Unterschrift gesehen zu haben, und dir dazu ein irgendwie schneller, waagerechter, fast linearer Strich durch den Kopf geistert, aus dem das 'Petrović' praktisch nicht abzulesen ist, oder du dich gar nicht erinnerst, den je gesehen zu haben, sondern dieser Strich in deinem Kopf eine Restinformation des alten Besitzers dieses Körpers sein könnte, theoretisch, nur deswegen krakelst du mit einem Gefühl von Ohnmächtigwerden etwas auf das Papier, von dem du schon auf halber Strecke feststellst, dass es niemals so schwungvoll, wie dir die Erinnerung vorgegaukelt hat, von diesen immer noch wie geschwollen erscheinenden Monsterhänden gezeichnet werden kann.

      Sylvie sagt nichts. Du wiederholst das Gekrakel auf dem nächsten Blatt, die Mitarbeiterin am Empfang scheint einiges gewöhnt zu sein und wirkt kein bisschen irritiert, noch ein Blatt und noch eins, und erst, als ihr die Pforte verlassen habt und auf dem Weg zum Zimmer seid, fragt Sylvie:

      »Was ist mit deiner Unterschrift?«

      Du zuckst mit den Schultern, siehst weg, in offene Türen, hinter denen Betten gemacht werden. Ihr geht den Gang hinunter und fahrt im Aufzug hinauf, was sollst du auch sagen?

      Was soll ich auch sagen? Ich habe meine Unterschrift vergessen, warum nicht? Warum nicht auch das?

      Du bekommst ein Einzelzimmer mit Bett, Tisch, Stuhl, Schrank und Nasszelle. Sylvie stellt den Rollkoffer (den sie geschoben hat, sie, du weißt nicht einmal, was darin ist) in die Ecke, alles ist beige und naturfarben und aus Holz oder so, sie packt dich und dreht dich zu sich, als wärst du eine Puppe, und als ihr euch gegenübersteht, siehst du ein Monster im Wandspiegel hinter ihr und sie sieht einen, von dem etwas in ihr ahnt, dass du der nicht bist.

      »Leon ...«, sagt sie, es klingt wie ein Seufzer, wie eine erzwungene Entspannung, gelöst, aber nicht wirklich, sie legt dir ihre Arme um den Hals, sieht dir - sie ist kleiner - von unten herauf in die Augen, dir schwindelt, deine Brille oder vielmehr dein Augenlicht ist diese Nähe nicht gewohnt, trotzdem setzt du ein tapferes Lächeln auf, was dir sogar zu gelingen scheint, denn sie wiederholt dieses »Leon ...« auf eine dich ängstigende, vertraut wirkende Art, lieber Gott, mach, dass diese Fremde nichts bemerkt, denkst du, und dass das, wenn man nicht an einen Gott glaubt, ein ziemlich sinnentleerter Hilferuf ist. Sie sieht dich an, dringt dir ins Hirn, natürlich nicht, aber sie sieht dich an als ob. Du versteifst, du spürst förmlich, wie du zu einem Stein wirst, und du kannst nichts dagegen tun, aber sie merkt es auch, bremst sich mitten in der Bewegung, die ein Kuss oder so etwas hätte werden sollen, aus, stattdessen krallt sie ihre Finger in deine Schultern, als wolle sie das Harte zerquetschen.

      Sie gibt nicht auf. Gibt DICH nicht auf.

      »Lass uns etwas hinausgehen«, sagt sie, »auspacken kann ich später noch ...«

      Ich? Wieso du?

      Das Wetter ist frühsommerlich, und also geht ihr, als wäre nichts geschehen oder das hier die normalste Sache der Welt, im Park der Rehaklinik spazieren. Sonnig, warm, grün usw., und Sylvie redet, und du gewöhnst dich an ihre Stimme täglich mehr, das gläserne Klirren der ersten Worte ist einem hellen, fast mädchenhaften Klang gewichen, der sich mit der Milde des Klinikparks zu einer wohltuenden Einheit verbindet. Auch eine Leistung des Gehirns, denkst du, wunderbare Anpassungsfähigkeit, egal, ob nun deine oder Leons.

      Wäre nur nicht dieser Schwindel: Das Gefühl, im falschen Körper zu sein, äußert sich immer wieder in Schwindelattacken, insbesondere beim Gehen. Die Augen, die fast 20 Zentimeter höher liegen als 53 Jahre lang im Thomas-Kopf geeicht, die lassen jeden Schritt ins Leere treten. Hinzu kommt die falsche Sehschwäche, statt weit- bin ich nun kurzsichtig, mein Hirn kann oder will sich daran nicht gewöhnen. Und diese Brille zerstört jedes Gefühl für den Raum. Auf den Fluren der Station schaffe ich so leidlich gute Bewegungen von A nach B, aber bei einem plötzlichen Helligkeitswechsel oder auch nur einer Veränderung der Raumtiefe, da spielen die Gleichgewichtsorgane verrückt. Die Welt dreht sich, und ich habe das Gefühl, zu fallen, nach vorne oder in alles vor meinem Gesichtsfeld. Das ist wie ein regelrechter Sog, ein fast aktives Bedürfnis, sich ins Vor-mir hineinzustürzen, das einhergeht mit Übelkeit und einem dumpfen Pfeifen im Ohr. Ein Gefühl, das ich nur von Kirmesgeräten oder als Seekrankheit kenne, beides vermeidbar, aber das hier, jetzt, leider nicht. Immer wieder nehme ich die Brille ab, genieße die Unschärfe und versuche, mich nicht zu konzentrieren, mich auf nichts zu konzentrieren, oder aber im Gegenteil einen Punkt im Raum zu fixieren.

      Sylvie, die das schon kennt, hält dich, stützt dich alten Greis, der du geworden bist, Sylvie, deine theoretische Ehefrau, ist wie eine der vielen Krankenschwestern, die an dir Dienst am Menschen tun. Du lässt sie gewähren an diesem kräftigen, doch nun hilfsbedürftigen, führerlosen Körper, du lässt sie dir unter die Arme greifen, bis die nächste Schwindelattacke vorbei ist. Bis die Fallsucht einem halbwegs kontrollierbaren Augenzittern gewichen ist, dessen fehlerhafte Mitteilungen an das Gehirn von diesem ausgeglichen werden können, wie bei einer modernen Digitalkamera.

      Ihr bleibt verbunden. Sie hakt sich bei dir ein, vermeidet es aber, dich an der Hand zu halten. Du vergegenwärtigst dir zum wiederholten Male, dass du Sylvie noch immer nicht geküsst hast. Nicht einmal geküsst. Nicht einmal geküsst. Die ganze Welt wartet auf diesen Kuss, gerade eben, das wäre die Gelegenheit gewesen, der erste Kuss ist wie eine

      Initiation. Kuss und gut.

      Aber: Auch die Art, wie du küsst, könnte dich verraten, oder?

      Du denkst: Sylvie ist nicht mein Typ. Nicht wie Franka (oh Mann, immer Franka, Franka, Franka), Sylvie ist das Vollweib, gegen das Franka fast androgyn war. Franka war blass, wohingegen Sylvies Haut nach den ersten Sonnenstrahlen dieses Frühlings bereits eine kupferfarbene Patina angesetzt hat. Du bist zu Sylvie gekommen wie die Jungfrau zum Kinde, du hast plötzlich eine Beziehung mit einer Frau, ohne sie jemals auf die natürliche oder normale Art kennengelernt zu haben. Du betrügst und weißt nicht wen. Leon? Den echten Leon, den es nicht mehr gibt? Nein, ich betrüge sie, ich vergehe mich an ihr. Solange ich in der Rehastation bin, nur theoretisch, aber ich kann dieses Spiel anschließend weitertreiben, wenn ich entlassen werde, ich kann ihr den Leon machen, vielleicht. Denn Sylvie wird täglich mehr für dich (allein es fehlt der Kuss).

      »Wovor hast du eigentlich Angst?«, fragt Sylvie. (Sie meint nicht den Kuss.) (Meint sie nicht? Vielleicht