H. DERHANK

Der Zwilling


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durch Repliken ersetzt worden, allesamt Zuchtprodukte aus seinen eigenen Stammzellen, und alle diese neuen Organe sind inzwischen ebenfalls voller bösartiger Tumore. Man sagt, die meisten Mitglieder seiner Familie, Eltern, Großeltern etc. sind an Krebs gestorben, es scheint, dass der Krebs sich schon vor Generationen bis in die tiefsten Muster seines genetischen Codes hineingefressen hat. Und seit einigen Monaten bläht sich mitten in seinem Kopf ein aggressives Geschwulst auf und droht, sein Gehirn zu vernichten, sein Gehirn, das bereits dreimal den Hirntod erlitten hat und ergo bereits dreimal wiederhergestellt worden ist. Was kann man da noch tun? Es gäbe da wohl die »andere Möglichkeit«, darüber wurde auf dem Flur geredet, aber dafür reiche Mannis Vermögen wohl nicht. Deshalb will man an ihm nur ein paar Experimente machen, bis hin zur Herstellung eines komplett technischen Körpers; so etwas wie 'Legis' Bein fürs Ganze.

      Du fragst dich, was sie mit 'andere Möglichkeit' meinen, behältst die Frage aber für dich, weil dir zuallererst du selbst einfällst, und du dir also etwas Illegales, ein Kapitalverbrechen darunter vorstellst. Dass man einen anderen Menschen dazu missbraucht, um in dessen Kopf wiedergeboren zu werden. Wie du in Leon.

      Der Psychologe, der fünf Minuten zu spät kommt, ist ein Belgier mit dem Namen Jan (auch er hat einen Namens-Streifen auf dem weißen T-Shirt), ein ergrauter, langhaariger Ex- oder immer noch Hippie mit flusigem Pferdeschwanz und Nickelbrille, einer, der sich als »alter Knochen seines Fachs« vorstellt. Sein »Job« sei die gruppendynamische Verarbeitung unseres gemeinsamen Traumas: unser gemeinsames Wissen, gestorben zu sein - und sich nicht daran zu erinnern. Die fehlende Todeserfahrung mache es nicht leichter, das haben wir alle festgestellt, nicht nur Thomas in Leon, jeder aus der Gruppe ist erwacht mit dem Gefühl, nur kurz eingenickt zu sein, noch immer im Institut, im Schlaflabor, die Stimme des Hypnotiseurs noch im Ohr, und dann DAS: die Schlafkontrollgeräte plötzlich ersetzt durch Lebensrettungsmedizin, der Körper voller Schmerzen, gar Lähmungen, und noch bevor man aufgeklärt wird, zu ahnen: Ich bin tot!

      Gewesen.

      Was jeden von uns traumatisiert habe (wieso sagt Jan »uns«?), selbst die, die das nicht zum ersten Mal »machen«. (Machen?)

      »Schön, dass Sie da seid!«, sagt Jan zur Begrüßung, und es klingt wie 'Schön, dass Ihr IMMER NOCH da seid!', oder auch 'Schön, dass Ihr WIEDER da seid!'

      Jan macht das zweimal pro Woche, die meisten von uns sind etliche Wochen hier, er braucht also ein Programm, kann nicht jede Stunde dasselbe machen, zugleich muss so ein Programm wie eine Endlosschleife funktionieren, denn wann wer das erste oder letzte Mal dabei ist, ist reiner Zufall, insofern muss also jede Stunde für sich funktionieren, immer etwas Besonderes sein und zugleich so tun, als würde sie an die letzte Stunde anknüpfen.

      »Wir hatten letzten Mal die Freude angeschaut«, fährt er fort, »Freude, zu leben, diesen Gefühl von 'Hurra, ich lebe noch!' oder 'Hurra, ich habe überlebt!', und mit diese Worten möchte ich unsere neue Mitglied begrüßen ...«, Jan schaut dich an, auch das noch, »das ist Lu... Leon, hallo Leon ...«, er nennt mich nicht 'Lunge', er nicht.

      Du hebst die Hand, aber nur halb hoch, nickst, sagst nichts.

      »Leon, schön, dass du da bist, wir freuen, dass du lebst!«, sagt Jan, »und wenn du uns dein Geschichte erzählen willst, dann gib uns ein Zeichen, wir hören gerne zu, und wenn du nicht möchtest, ist genauso gut, du musst nichts sagen, einfach dabei sein, zuhören, erleben, was die Gruppe erlebt, ganz wie du möchtest ...«

      Du nickst noch einmal und bringst keinen Ton raus und denkst, so schüchtern bin ich nicht einmal als Thomas gewesen, was ist nur mit mir? Wie ein verstockter Pubertierender verhalte ich mich und weiß nicht wieso?

      Jans Augen verlassen dich und er erzählt mit flämischem Akzent vom Universum, von Verbindung, vom Atmen. Und dass die Wiedergeburt ein Geschenk sei usw., Franka hätte das gefallen. Dann möchte er zum heutigen Thema kommen, unterbricht sich selbst, schaut sich um, als hätte er einen Teil seiner therapeutischen Choreografie vergessen, lächelt, »anyone else, bevor es losgeht? Jemand, der etwas erzählen möchte

      von sich?«

      Gruppentypisches Gruppenschweigen. Nur eine kurz- und dunkelhaarige, blasse, etwas pausbäckige, kleine Frau, ungefähr dir gegenüber, die wackelt auf ihren Pobackenjeans, schiebt schließlich ihre Hände darunter, ihr Gesicht macht Anstalten, als wolle es sprechen, sie öffnet sogar den Mund, dir fallen ihre Augen auf, die dunkel und feucht sind, aber auf eine Art feucht, als wären sie das immer, wie ein überaktiver Tränendrüsenaktivismus, das macht sie zwangsläufig zu einer emotionalen, entweder leidenden oder aber mitleidenden Person. Unterstützt wird das von ihren Augenbrauen, die eher zwei Punkte sind als zwei Striche, und die sie auf eine fast hündische Art zur Stirnmitte hin hochziehen kann. Als sie hörbar Luft holt und wahrscheinlich wirklich etwas sagen möchte, hat sich Jan wieder dir zugewandt: »Und Leon, möchtest du von dir erzählen? Etwas von dir, muss nichts mit dein Unfall zu tun haben, etwas Persönliches, von dir, was du uns mitteilen magst?«

      Die Frau gegenüber schließt ihren Mund wieder. Unterstützt wird ihr expressives Leiden durch ihren Namen: Auf dem Kleber über ihrer Brust (dunkelblauer Kapuzenpulli, Vliesstoff) steht: 'Pille'. Was immer damit gemeint sein mag?

      Ohne nachzudenken (und ohne den Blick von Pille zu lassen, die dich ansieht), stotterst du unwillkürlich los: »Mir ... mein ... nein ... ich habe mich vergessen ...«, und beschließt sofort, den Mund zu halten.

      »Vergessen? Ja, das geht viele von uns so, von euch ... der Tod ist ein Einschnitt in euer Leben gewesen, ein tiefer Einschnitt«, und dann kommt er ohne Umschweife zu einer Art Trauerarbeit und versucht uns beizubringen, unseren Tod zu beweinen.

      »Unsere neue Körper ist eine zweite Chance«, sagt er, als wäre er selbst schon einmal gestorben (was er vielleicht auch ist), »wir müssen lernen, den Tod von die ersten Körper als Teil von unsere neuen Leben anzunehmen. Ich bin sozusagen der verlängerte Arm von eure Kognitionstherapeutin. Bei ihr lernst du das verlorene Stückchen Leben wiederzufinden - und bei mir das Ende - oder auch: Anfang - von dieses Stückchen. Denn erst, wenn wir den Tod von diese Körper angenommen haben, können wir ihn als was Neues, als unsere Wiedergeburt, als uns selbst annehmen.«

      Er steht auf, geht in die Mitte, sein Blick kreist von Patient zu Patient: »Einige von Euch haben sich vielleicht selbst gesehen? Vor dem Wiedereintritt? Ihr habt euch gesehen, wie ihr mich jetzt hier seht. Als Astralleib, Ihr wart euer Astralleib gewesen, über eure Körper, wart ihr schwebend oder danebenstehend, habt ihr zugesehen, wie ihr im Krankenzimmer liegt, auf dem Intensivstation, mit Beatmungsmaschine und Helm, und ihr habt euch gefragt: Was ist mir geschehen?«

      Kunstpause, irgendwem tief in die Augen schauen, dann, in die Runde: »Diese Erfahrung nennt man OBE, das ist vom Englisch und heißt

      out-of-body-experience oder in Deutsch: Außerkörperliche Erfahrung. Statistisch gesehen hat jede Fünfte von euch das erlebt, das sind zwei oder drei aus diese Gruppe, und ungefähr zwei oder drei Prozent von alle Reinkarnierten sehen was ganz Besonderes: Die sehen nicht nur sich selbst neben seinen Körper, die sehen auch einen anderen Astralleib aus dem Körper austreten, der sieht aus wie ein Kind, oder wie du ausgesehen hast, als du ein Kind warst, andere sagen, wie ein Engel. Wie ein Engel, der man selbst einmal sein wird, man sieht sich selbst richtig doppelt, und der andere ist auch ein Astralleib! Dieses Kind oder Engel sieht einen dabei an und lächelt und sagt so etwas wie: 'ich mache den Raum frei für dich!' oder so, ich gebe dich eine zweite Chance', und wenn man ganz genau hinschaut, sieht man, dass der Engel Schmerzen hat. Und vielleicht sogar Angst. Die er mitnimmt, mit denen er aufsteigt und verschwindet.«

      Jan dreht sich langsam um sich selbst, wir sind 13 Männer und Frauen in Jogginghosen und Pantoffeln, sitzen auf Holzstühlen und sehen ihn an. Für die Gesellschaft mit ihrer wissenschaftlich-rationalen Botschaft ist Jan ein sehr spiritueller Therapeut, geradezu esoterisch, entweder wissen seine Arbeitgeber nicht, wie Jan tickt, oder aber, und das ist wahrscheinlicher, er ist eigens dazu da, jene Kunden einzufangen, die auf das Metaphysische des Sterbens nicht verzichten wollen.

      »Die ganze Schmerzen, Angst, Panik, die fürchtbare Hilflosigkeit im Moment des Todes, die ganze Todeserfahrung nimmt diese Engel mit sich. Nimmt das weg von euch. Es ist weggenommen!«

      Das