H. DERHANK

Der Zwilling


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möchte, dass ihr nun in ein kleines Ruderboot besteigt, so eine wippende, schwankende Nussschale, in die Nähe von die Boje, ganz klein, und ihr den großen Overview verlasst und euch in dieses wackelige Boot setzt, und dass ihr an diese Boje heranpaddelt. Ein bisschen Zeit lassen, nicht zu schnell, es kostet Kraft, die Wellen zu überwinden. Ihr müsst euch anstrengen.

      ...

      Auf der Boje sitzt vielleicht ein Möwe, oben auf dem Fähnchen, wie so ein Wächter über die Trauer, und dann haltet ihr an die Boje an und ...«

      Du blinzelst wieder nach unten. Auf das Bein von Legi. Denkt sie an den Verlust ihres Beins? Aber ihr sollt nicht an den Unfall denken, sondern an ein anderes trauriges Ereignis davor.

      »Wie groß ist die Boje? Größer als ihr? Oder ganz klein, dass man sie mit der Hand auffischen kann, und ins Boot heben?«

      Franka, denkst du. Muss das sein? Franka steht mir bis hier! Wenn ich über einen Verlust nicht nachdenken will, dann Franka. Das ist lächerlich, das ist auch nicht mehr traurig, das ist es überhaupt nicht. Du trotzt dem, und öffnest wieder die Augen. Grau, der Mann hat einen grauen Anzug, Freud in Grau, und er hat seine Augen nun doch geschlossen, aha, aber man kann nicht erkennen, ob es hinter seinem Gesicht arbeitet. In seinem Gesicht arbeitet nichts. Du wendest den Kopf, siehst nach hinten in den Raum hinein, hinter den Vorhang, der nicht ganz zugezogen worden ist, genau in der Sichtachse deines Blicks siehst du einen der Gehirnschnitte hinter Glas, Originale angeblich, die genauso aussehen wie die aus dem 3-D-Drucker von Dr. Mausgesicht, wie die Abbilder deines eigenen Gehirns - soll ich zwischen den Furchen und Windungen nach schwarzen Bojen suchen? Die künstlichen Drucke waren klarer, brillanter und plastischer gewesen als diese echten Schnitte, in denen beige, braun und grau ineinander verschwimmen. Sollen sie uns doch gleich komplett neu ausdrucken, das würde uns eine Menge ersparen und haltbarer wären wir auch! Unter dem Hirnbild, im Spalt zwischen den Vorhängen, siehst du einen Ausschnitt der Rumpfsegmente von Ganzkörperplastinaten. Die waren mit schwarzen Decken abgedeckt gewesen, aber das hat natürlich neugierig gemacht, weswegen einer von euch sie aufdeckte. Du rufst dir noch einmal das Bild dieser vier Körper vor Augen, die auf einem Pult gestapelt liegen, achtlos aufeinandergeschichtet, wobei einige der feineren Präparationen gebrochen sind. Drähte, Fäden und Nägel halten die Einzelteile beisammen. Lose baumelnde Finger, und das Blutadergeflecht hat, wenn man es eindrückte, geknistert wie trockenes Stroh. Du erinnerst dich an die an den Wänden hängenden Exponate, die Schnitte durch Todesursachen zeigten, will sagen: Krankheiten. Du denkst an einen Leberkrebs, bei dessen Anblick dir klar wurde, warum man Krebs nicht einfach wegoperieren kann: dass Krebs sich ganz und gar zu einem Teil des Körpers macht, so wie er ins Gesunde hineinwächst, als wäre er selbst gesund. Würde man Krebs entfernen, entstünden große Hohlräume ohne irgendwas.

      »Legt eure Hände auf die schwarze Boje!«, sagt Jan, »die flachen Handflächen, entweder, wenn ihr die Boje in euer Boot genommen habt, klemmt sie zwischen die Knie, oder sie ist so groß, dann fasst sie einfach an, einfach so, und versucht hineinzuschauen, denn die Boje ist aus schwarzem ... eh ... wie Glas. Da drinnen kannst du etwas erkennen, den Grund, warum die Boje schwarz ist, den Moment in euren Leben, den Verlust, die Trauer, seht genau hinein, aber ... ihr müsst nicht sagen, was ihr seht, ich möchte euch bitten, nicht darüber zu sprechen, sondern nur zu schauen, aber offen zu sein, offen zu schauen auf diesen Punkt in euer Leben, euren Körper nicht verschließen, sondern euren Köper diesen Moment zu schenken, ihr sollt diesen Moment aufnehmen, vergegenwärtigen, ich möchte, dass du ein Gefühl kriegst für diese Moment, nur das Gefühl ist wichtig, entspannt eure Gesichtsmuskeln, wenn ihr schaut, lasst den Unterkiefer ganz locker.

      ...

      Fühlt ihr die Wellen, in euch, in euer Kopf, hinter euer Gesicht, wie so kleine Stöße, ganz sanfte Stöße, von innen nach außen, fühlst du das?«

      Jan sieht dich an, nickt dir zu und bedeutet dir, die Augen zu schließen. Du gehorchst, schließt sie, öffnest sie nach ein paar Sekunden wieder. Jan hat seine geschlossen, aber mit hochgezogenen Augenbrauen, sodass er zwischen den Wimpern hindurchblinzeln kann. Du schaust nach unten. Und schließt deine Augen dann doch.

      Links von dem Gehirnschnitt hängen Rahmen aus Holz (oder war es rechts davon?), sie waren tiefer als die Bilderrahmen, hinter dem Glas befanden sich (befinden sich) ganze präparierte Organe, Vergleiche zwischen gesund und krank, besonders im Gedächtnis geblieben ist dir ein kompletter Verdauungsapparat, eine verwachsene Schlange, lose im Kreis gelegt, vom Rachen über die Speiseröhre bis zum Magen, und von da über Dünn-, Zwölffinger-, Blind- und Dickdarm bis zum Anus, fein säuberlich aus einem Toten herausgeholt und anschaulich gemacht. Diese Erinnerung löst plötzlichen Ekel in dir aus, selbst plastiniert ist alles schleimig und eklig gewesen, obwohl du weißt, dass diese Organe längst knochentrocken sind, machst du sie dir im Kopf zu nach Verwesung riechenden Schleimbeuteln, aus denen Blut und Eiter rinnt, sich unten in den Holzrahmen sammelt und von da abtropft. Und obwohl da nichts getropft hat, bildest du dir ein, dass du unter dem Rahmen eine Spur die Wand hinabrinnen gesehen hast, bräunlich, kotig, blutig, und unten auf dem Boden hast du eine halb getrocknete Pfütze gesehen, zum Teil in die Fußleiste eingezogen, und die falsche Erinnerung ist so stark, dass es dich plötzlich schüttelt, dass du unwillkürlich ein Geräusch machst, ein Ekel-»Brrr...!«, worauf du die Augen aufschlägst, vis-à-vis zu Jan, und der dich anlächelt. Folgsamer Schüler, denkt er jetzt, wenn der wüsste. Aber weil der Ekel dir in der Kehle hängt, schließt du die Augen wieder, schluckst, würgst das Gefühl irgendwie hinunter und fragst dich: Was soll ich an Franka denken, ich habe doch mich selbst verloren ...

      Wenig später macht jemand ein ähnliches Geräusch, es ist aber ein Wimmern, Nase hochziehen, Schniefen. Trauer, einer aus der Gruppe ist durch, sozusagen, ist drin, besser gesagt, hat sie gefunden, die Trauer im neuen alten Körper, und wir wissen nicht, was da so traurig macht, es ist ja bei jedem anders, aber nun, wo der Damm gebrochen ist, kommen von mehreren Stellen gleichzeitig Weingeräusche, die du nicht willst, du presst die Augen nun feste zu, willst am liebsten auch die Ohren zuhalten, aber das wäre nicht das Erwartete, du denkst nur, dass DEIN Trauerfall was anderes ist und nicht vergleichbar, dieser Gruppenkurs hat die Aufgabe, seinen zu Tode gekommenen Körper wieder lieben zu lernen, ach was, wieder unter Kontrolle zu bringen, emotionale Contenance, wie viele Stunden sind eigentlich dafür angesetzt, im Budget der Gesellschaft, ich aber muss was ganz anderes lernen.

      Und dann denkt Leon an Sylvie. Und dass sie darunter leidet, wie er sich verändert hat. Leon, der emotional Präsente, Leon, der mit nichts hinterm Berg hielt, auch: Leon, der Mutige, der Achterbahnfahrer, der Kletterer, Taucher, Skifahrer, Leon, der lachen wie weinen konnte, konnte er weinen? Am meisten wird Sylvie Leons Temperament vermissen, vielleicht war er aufbrausend, vielleicht jähzornig? Sylvie dürfte so einiges vermissen, aber sie ist gewiss auch froh, dass Leon kooperiert. Also: Kooperiere, fühle, zeige Gefühle, verbinde deine Gefühle mit diesem Körper!

      Plötzlich meinst du, Legi neben dir zu hören, unterdrückt kichernd, aber du kannst dich auch täuschen, kichert sie nicht schon eine ganze Weile? Du willst es gar nicht wissen. Lachen und Weinen sind fast dasselbe, du öffnest deine Augen nicht. Und der Mann, den du Freud getauft hast? Willst du auch nicht wissen, überhaupt nicht. Irgendwo, räumlich schräg links vor dir, hat eine andere schwarze Boje so hohe Wellen geschlagen, dass alle Dämme gebrochen sind, eine Frau heult auf wie ein Sturm in der Nacht, das ist 'Schlaggi', denkst du (du bist sicher, dass es Schlaggi ist, obwohl du die Augen zugepresst hältst und der Mensch im Weinen so fremd klingt). Das wiederum führt auch bei anderen zu größerer Hemmungslosigkeit, überall Schniefen und Wimmern, und dann hörst du leise Turnschuhschritte, von links nach schräg geradeaus links (erfreulich, dass Leon seine Raumwahrnehmung mit dir teilt, immerhin), das muss Jan sein, Jan, der nun zu Schlaggi geht, um sie festzuhalten, und der »das ist echt!« oder etwas Ähnliches sagt, was du idiotisch findest, wie du das hier überhaupt idiotisch findest, dieses programmierte Heultraining, und weil man sich denken kann, dass so ein restrukturiertes Gehirn Schwierigkeiten hat, wieder alle Verbindungsstellen zwischen Emotion und Ausdruck zu besetzen, deshalb sind diese Heulereien um dich herum auch so extrem, unangemessen extrem, findest du, und du wünschst Freud plötzlich viel Glück dabei, seine Maske aufrechtzuerhalten.

      Eine Weile geschieht außer kollektivem Heulen nichts. Kollektives Trauern