H. DERHANK

Der Zwilling


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aus weißer, glänzender Haut (glänzend, obwohl kein bisschen feist, eher hager ist des jungen Mannes Gesicht (der - von wegen jung - so alt sein dürfte, wie ich jetzt bin, Leon)). Und sein wortloses Nicken geschieht automatisch, nach jedem Löffel (er hat die Suppe) einmal, aufmerksam, aber mechanisch, während der neben dir ohne Punkt und Komma quasselt (wie er aussieht, kannst du nicht sehen, und du schaust ihn auch nicht an).

      »Selbstmörder müsste die Gesellschaft laut Vertrag eigentlich nicht

      erwecken«, sagt er, »sie werden aber in der Regel doch erweckt, weil alles so schnell gehen muss, nach dem Tod, wenn noch gar nicht feststeht, ob es wirklich Selbstmord war, und da sind auch die Angehörigen, die mit einstweiligen Verfügungen ihre suizidierten Verwandten wieder lebendig machen, es sei denn, es stehen Erbschaften an, dann geschieht auch schon mal das Gegenteil, dann klagen die Verwandten GEGEN die Reinkarnation. «

      Und was ist mit denen, die erst Tage später gefunden werden? Verwest? Verbrannt, verstümmelt? So mancher Tod ist noch immer nicht heilbar, so viel steht fest.

      Und dann berichtet er von einem, den er gekannt hatte, dann korrigiert er sich, weil 'haben' in diesem Zusammenhang nicht mehr im Prä­teritum benutzt werden darf (eine Begründung, die er wie einen Kalauer betont), es geht also um einen, den er KENNT, der sich umgebracht hat, und dem die Gesellschaft die Reinkarnation verweigern wollte, was aber die Kirche, zwei Sätze später sagt er: die Arbeiterwohlfahrt, und kurz drauf benennt er irgendeine humanistische Vereinigung, was aber also gewisse Kreise zu verhindern wussten, dieses Verweigern der Reinkarnation, und zwar weil so eine Weigerung, rein strafrechtlich gesehen, als unterlassene Hilfeleistung und ergo als fahrlässige Tötung zumindest gewertet werden KÖNNTE, weswegen man seinen Bekannten also ziemlich flott per einstweiliger Verfügung hat wiederbeleben müssen, mit dem absurden Nebeneffekt, dass der anschließend - zivilrechtlich - von der Gesellschaft auf eine horrende Schadensersatzforderung verklagt wurde.

      »Für einen Suizid, für den er aus seiner Sicht, nämlich aus der Sicht eines drei Wochen vor seinem Tod durchgeführten Backups, gar nicht verantwortlich war. Sein Motiv war ihm zu diesem Zeitpunkt nämlich noch nicht bekannt gewesen, der Grund sich umzubringen, eine ziemlich üble Diagnose ...«

      Kunstpause, nur um dann die Diagnose für uns mithörende Laien zu konkretisieren: »Bauchspeicheldrüsenkrebs«, Blick in die Tischrunde, jedem die Zeit lassen, sich etwas darunter vorzustellen, und für alle, bei denen der Groschen immer noch nicht gefallen ist; »mit 99%iger Garantie auf einen unglaublich qualvollen Tod! Und diese Diagnose hat er erst nach seinem letzten Backup erfahren und wurde ihm diesmal - also nach seiner Reinkarnation - seitens seines Arztes - auf Druck der Gesellschaft - verschwiegen.«

      Und dann? Fragezeichen in unseren Augen.

      »Er«, fährt er zufrieden fort, »wusste also nach der Reinkarnation nicht mehr, dass er Krebs hat, und es war ihm völlig unerklärlich, warum er Selbstmord begangen haben könnte, und das Einzige, was ihn an seinen - für ihn ja mental sozusagen noch in der Zukunft liegenden - Freitod erinnerte, waren seine nach dem reinkarnativen Erwachen ziemlich ruinierten Bronchien gewesen, aufgrund der Abgase, die er sich in sein von innen verriegeltes Auto gepumpt hatte, und die ihm für den kläglichen, wenn auch endlosen Rest seines unwissenden Lebens eine prämortale chronische Heiserkeit aufzwangen.«

      Er imitiert Heiserkeit.

      »Und sein Arzt hatte ... nein, 'Haben' muss es heißen«, wiederholt er seinen Tempuswitz, »hat; es ist ein Patient, den der Arzt immer noch 'hat', weil der natürlich noch immer nicht an seinem Krebs gestorben ist! Und auch nie daran sterben wird. Bzw. nach jedem Sterben zurückkehrt ...«

      Gemeinsames wohliges Gruseln. Und das heimliche Vergnügen, jede Menge Mithörer daran teilhaben zu lassen.

      Dann sagt Verdun 1918 auch mal etwas: »Die können Tote jederzeit wiederbeleben, aber nicht von Krebs heilen?« Kopfschütteln.

      Eine schweigsame Minute, in der wir unseren Gedanken nachgehen, die Frau gegenüber hört genauso interessiert zu wie du, und du hast das Gefühl, als wären ringsum einige Gespräche verstummt. Woher kennt dein Tischnachbar alle Details dieser Geschichte seines Bekannten, wenn sein Bekannter sie selbst nicht kennt? Du fragst ihn nicht, es ist ja auch egal. Er hat noch immer nicht angefangen zu essen, er weiß, er hat sein Publikum, und nach drei, vier Löffeln Verdun-Suppe geht es weiter:

      »Die Krebstherapien hecheln der rasanten Entwicklung der Reinkarna­tionsmedizin hoffnungslos hinterher«, fährt er fort, »und Hecheln ist übrigens genau das, was mein Bekannter an Artikulation überhaupt nur noch zustande bringt, weil er mit Morphium vollgepumpt ist und kaum eines einzigen halbwegs klaren Gedankens fähig ist und noch immer nicht den Grund seiner Hinfälligkeit kennt, also sein Pankreasproblem. Und jetzt muss er darauf warten, dass die Gerichte eine Grundsatzentscheidung zu der Frage fällen, wie, also in welchem Zustand ein bei der Gesellschaft Versicherter auf einen Durchbruch bei der medizinischen Forschung warten muss oder darf: Tot und konserviert und ein letztes Mal gescannt, wobei man berücksichtigen muss, dass so ein eventueller Durchbruch in der Krebstherapie noch lange keinen Durchbruch in der Wiederbelebungsmedizin in Formaldehyd eingelegter menschlicher Körper nach sich zieht und er also trotz eines in Aussicht gestellten Therapieerfolges nicht mehr wiederbelebt werden kann, weil er schon zu lange eingelegt ist.«

      Und weil wir ihm nicht alle folgen können, erläutert er allen, die mittlerweile zuhören: »Wobei tote menschliche Körper natürlich nicht in Formaldehyd liegen, sondern vollgepumpt mit einem das Blut ersetzenden Frostschutzmittel bei minus 198 Grad ihrer Erweckung harren, ohne natürlich tatsächlich zu harren, har har har ...«

      Verdun lacht mit, wenn auch etwas gequält.

      »... oder aber ein Krebspatient wird zukünftig mit aller Gewalt am Leben erhalten, was man ja mittlerweile endlos, wahrlich endlos hinauszögern kann ...«, er betont und wiederholt das 'wahrlich' wie die Erzählstimme in einem Horrorfilm, »... wahrlich, ... das Leben, will sagen, den Tod, will aber doch eigentlich 'das Leben' sagen, endlos heißt in diesem Fall eine endlose, halbkomatöse und halb übermäßig bewusste Quälerei, und wer auf diesem Gebiet begrifflich auch nur ein bisschen bewandert ist, der versteht auf einmal, wieso ein Wort wie 'Qualia', das doch eigentlich eher harmlos und sachlich den subjektiven Erlebnisgehalt eines mentalen Zustandes bezeichnet, schon so deprimierend KLINGT, als wäre es mit der Bezeichnung für Schmerz, für unerträglichen Schmerz, für nicht enden wollenden, stumpf und spitz durch alle Körperregionen rauf- und runterrasenden PERMANENTSCHMERZ etymologisch eng verwandt. Was nicht der Fall ist.«

      Man erwartet so etwas wie eine Verbeugung, gar einen Tusch, doch unser Applaus bleibt aus. Nur sein hautkranker Gegenüber nickt, nickt im selben Rhythmus weiter, auch als dein Nachbar endlich schweigt und - wie man an Messer-und-Gabel-Aktivitäten auf seinem Teller beobachten kann - endlich angefangen hat zu essen. Verdun 1918 hat seine Suppe längst ausgelöffelt und nickt und nickt wie diese Hundefiguren, die man sich in den 70er Jahren ins Auto gestellt hat.

      Orgasmus technicus

      Es wird nicht gerne gesehen, wenn man die Abende alleine in seinem Zimmer verbringt, deshalb gibt es auf jeder zweiten Etage - eine Station umfasst immer zwei Etagen - eine Gemeinschaftsküche mit passabler Ausstattung und großem Esstisch. Die wird allerdings wegen der Möglichkeit, im zentralen Speisesaal auf Gesellschaftskosten zu essen, kaum genutzt. Dafür gibt es in der jeweils anderen Etage ein Wohnzimmer mit einem großen Fernseher, was das urmenschliche Bedürfnis nach familiärer Gemeinschaft nicht nur befriedigt, ersatzbefriedigt, sondern - als Teil eines übergeordneten Social-Engineering-Programms - regelrecht eingefordert. Was sich zum Beispiel darin äußert, dass man sich einigen muss, was gesehen wird. Zum Beispiel eine Casting-Show auf einem Privatsender oder - mein Favorit - die TV-Premiere von 'Transcendence' mit Johnny Depp. Andere Wünsche geraten alsbald ins Hintertreffen, am Ende zwei Fraktionen und dann das Unmögliche:

      Du weißt plötzlich gar nicht mehr, was du wirklich sehen willst: die cineastische Übertreibung deiner eigenen Geschichte? Eurer aller Geschichte? Aber deiner ganz besonders? Die Bewusstseinsübertragung ins Externe, sprich in ein eigens dafür entwickeltes Computersystem? Ein Science-­Fiction-Motiv, das von der Wirklichkeit