H. DERHANK

Der Zwilling


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beschäftigt zu sein und du weißt nicht einmal, ob man die Augen wieder öffnen darf oder soll.

      Schlaggi hat angeblich vor Gericht erstritten, dass man sie einschläfert, gewissermaßen, sie spricht da nicht offen drüber, es gibt nur Hörensagen und dies und das, und du hattest darüber mal einen Online-Artikel gelesen (als Thomas, nicht als Leon): die Geschichte einer Topmanagerin bei einer Bank, die nach einem schweren Schlaganfall halbseitig gelähmt bleibt, an den Rollstuhl gefesselt und seitdem zu epileptischen Anfällen neigend. 'Aus dem Leben gerissen'. Versuche, in diesem Zustand ihre Karriere wieder aufzunehmen, sollen vor allem daran gescheitert sein, dass sie äußerlich nicht mehr die attraktive, zielstrebig auftretende Businessfrau war, von der sich die Herren der Geschäftswelt auch mal was hatten sagen lassen (es gibt da so eine Art Domina-Effekt, du kennst das aus dem Bauwesen). Stattdessen sitzt plötzlich ein verhärmtes Häufchen Elend mit asymmetrischem Augapfel und sabberndem Mundwinkel am Konferenztisch, ihr Kostümchen, das mal sexy gewesen war, und das sie sich weigert, gegen etwas 'Angemesseneres' zu tauschen, ist eigenartig schief verrutscht, und auch eine eigens für sie engagierte Visagistin hat nicht viel retten können. Der Artikel hat Details ausgeschmückt, von denen du dich gewundert hast, dass sie das freigegeben hat. Man kann sich vorstellen, wie ihre gesunde linke Hand bei Meetings die tote rechte auf dem Tisch festhält und permanent massiert, was wie ein Tick ausgesehen haben dürfte, und wenn sie etwas sagt (wenn sie sich überhaupt mal überwindet, etwas zu sagen), dann verstehen die anderen kein Wort, und wenn man sie doch versteht, dann nur, dass sie offenbar selbst nichts verstanden hat, dass sie nicht folgen kann und nur noch wie ein verordneter oder quotierter Inklusionsfall dabei sein darf. Statt Frauenquote Behindertenquote und nur noch aus gewissen Imagegründen geduldet. Neben ihrem äußerlichen Niedergang ist es vor allem ihre neue Langsamkeit gewesen, auch im Denken und Verstehen, weswegen man sich ihrer schließlich entledigt hat. Kündigung und Vorruhestand und nicht mal eine Familie, geschweige einen Partner. Aber weil sie nicht tot war, hat sich die Gesellschaft geweigert, sie zu reinkarnieren. Ihr Fall ist schließlich bekannt geworden, deshalb der Artikel, ihr Fall und die Konterkarierung der uralten Frage, ab wann man einem Menschen Sterbehilfe leisten darf? Darf man, wenn man ihn dadurch anschließend wiederbeleben - oder eben reinkarnieren kann? Darf man aktiv den Geist vom Körper trennen, um letzteren sozusagen generalzuüberholen und anschließend durch den Geist wieder in Betrieb zu nehmen? Schlaggi ist damals vor Gericht gezogen, aber den Ausgang des Prozesses hatte Thomas nicht mehr mitbekommen. Erst jetzt, weil er zufällig mit ihr dieselbe Rehabilitation durchläuft, hat er erfahren, dass sie gewonnen hat, dass man sie also tatsächlich hat runderneuern müssen. Worüber sie nicht spricht. Aber man sagt, sie wurde mit ihrem letzten Backup vor dem Schlaganfall reinkarniert, was bedeutet, sie muss fast zwei Jahre ihres Lebens als Gelähmte aufarbeiten - die sie nicht mehr ist, da alle schlaganfallbedingten Hirnschäden beseitigt wurden und man mit viel Physiotherapie ihre Lähmungen hat rückgängig machen können. Interessanterweise hatte die Gesellschaft, der es darum gegangen war, die Kosten im Griff zu behalten, ethisch gegen sie argumentiert und sich dabei ziemlich aus dem Fenster gelehnt. Die Vertreter der Gesellschaft hatten damals angezweifelt, dass es tatsächlich der 'Geist' sei, den man beim Backup vom Körper trenne, und man daher keinen 'Geist' in ein restrukturiertes Gehirn einspiele, sondern lediglich mithilfe eines Abbilds des Gehirns dieses nach seinem Tod - Tod, wohlgemerkt - wieder in Form brächte und sie insofern gemäß den Buchstaben des Gesellschaftsvertrags keinen Anspruch auf Reinkarnation habe, solange sie noch lebe. Und das, wo alle Anzeigen und Spots genau damit für den Beitritt zur Gesellschaft werben: dass man sich selbst, sein Selbst, sein Innerstes den schützenden Händen einer wohlwollenden Institution überantworte, die sich um etwas kümmere, das bildgewaltig und emotional als Seele dargestellt wird.

      Nun also hat Schlaggi ihre Seele wieder, oder Schlaggis Seele einen neuen Körper, nein, ihren alten Köper zurück, alte Seele in altem Körper, tot ist lediglich die Frau, die sie zwei Jahre lang gewesen war. Aber tot ist auch die Frau, die gelernt hat, für ihre existenziellen Rechte zu kämpfen, was ein anderer Kampf ist als das Spiel um Bilanzen und Dividenden. Tot ist die Frau, die in den letzten zwei Jahren innerlich gewachsen und gereift ist, die sich das Leben auf eine gänzlich neue Art erschlossen hat. Vielleicht ist die Erkenntnis, dass sie, deren ganzes Selbstbild immer eine starke Frau gewesen ist, sich an diese wirklich starke Frau niemals wird erinnern können, dass sie sie niemals kennenlernen wird, vielleicht ist das der Auslöser für ihren heftigen Weinkrampf. Vielleicht hat sie ja angefangen, die zu lieben, die sie gehasst hat, als sie sie noch gewesen ist. Die Erkenntnis des Fehlens eines traumatischen Erlebnisses ist selbst eines. Ist das nicht Jans Kernthese? Wir haben nichts vergessen, wir leiden nicht unter Amnesie, sondern unter dem physischen Verlust eines existenziellen Teils unseres Lebens.

      Heulende Wölfe in der Nacht, »Ihr könnt die Augen wieder öffnen!«, sagt Jan, und als du das tust, merkst du, dass du den Kopf gesenkt hältst, dass du auf deine Oberschenkel schaust, auf eine beigefarbene Jogginghose, die dir Sylvie mitgebracht hat. Warum tragen Architekten schwarz, denkst du, und: Ich bin kein Architekt. Mehr. Und dann schielst du hinüber zu dem künstlichen Bein von Legi.

      Sind wir fertig?

      Nein.

      »Was ist mit der Angst?«, fragt Freud, der nicht heult.

      Angst vor dem Ereignis, das man schon hinter sich hat?

      Ein ewiger Krebspatient

      Die Tage und Wochen in der Reha sind redundante Kopien ihrer eigenen Selbstreferenz. Sie hängen wie nebeneinander an einer Wäscheleine, haben weder eine Reihenfolge noch lassen sie sonst ein Gefühl von Zeit zu. Und in den Nächten ist da ein Mann, der mit einer augenlöchrigen Papiermaske über die Station wankt, die Arme ausgestreckt, und der immerzu mit tiefer, kehliger Stimme ruft: »Gib mir deine Seele! Gib mir deine Seele!« Das kann nicht echt sein. Denkst du.

      Aus der Therapiegruppe nimmst du ungewollt mit: Tränen, die nicht deine sind. Die Klinik hat einen zentralen Speisesaal in einer umgebauten Turnhalle aus der Kaiserzeit, hier verlieren sich die losen sozialen Bindungen wieder, entweder hat man trotzdem jemanden, oder man stellt sich allein in die Schlange an der Kasse, nachdem man sich im Essensausgabebereich, der den Charme einer Autobahnraststätte hat, seine Mahlzeit zusammengeklaubt hat. Die Halle ist zu klein, um 400 Menschen gleichzeitig aufzunehmen, darum steht auf jedem Essensgutschein (der die ökotrophologische Grundversorgung abdeckt, Extras kosten extra) eine um jeweils zwanzig Minuten versetzte Uhrzeit, sodass man entweder um 18:00 Uhr, 18:20 Uhr oder um 18:40 Uhr seine Mahlzeit bekommt, und die Kantine ab 19:00 Uhr geschlossen werden kann. Gegessen wird an langen Tischreihen, funktionales Design aus verchromtem Stahlrohr und MDF, man sitzt auf ergonomischen Integralschaum-Sitzschalen aus Polyurethan, Polstereffekt, Edelstahlrohrrahmen und auch die Farben sprechen 90% der Durchschnittsbevölkerung positiv an. Mich nicht. (Aber das auch nur, weil du bockig bist.) (Und du dich - wie dir unterstellt wird - dem Leben verweigerst.) (Wenn die wüssten ...)

      Trotz der ameisenhaften Betriebsamkeit, die jedes Individuum atomisiert, bilden sich beim Abendessen kleine Grüppchen, und du erkennst Pille, die mit Schlaggi und - wer hätte das gedacht - Freud zusammensitzt, angeregte Unterhaltung. An ganz anderer Stelle tauschen Manni und Bauchschuss Metastasendetails aus (aber das glaubt nur mein eigener Defätismus, vielleicht spricht man auch über dies und das oder das Wetter). Du hast keine Lust auf Gespräch, setzt dich irgendwo anders hin und ignorierst deine Mitesser so gut es geht.

      Dir gegenüber eine ältere Frau, die dich ein paar Mal ansieht und Ansätze einer Gesprächseröffnung macht, von da an konsequentes Auf-den-Teller-schauen und den Käse von den Nudeln porkeln, ich will vegan, denkst du, und dass das auch bockig ist, immerhin haben sie vegetarisch, und eigentlich macht dich der überbackene Käseplacken ungebührlich an, dabei hast du Käse nie gemocht, aber jetzt erfordert die Thomas'sche Kosttrennung die ganze Leon'sche Konzentration.

      Neben dir und schräg gegenüber sitzen zwei, die sich über einen unappetitlichen Fall unterhalten, d.h. reden tut nur der neben dir Sitzende, er textet seinen Gegenüber förmlich zu. An dem Schweigenden fällt dir neben seiner extrem große Brille seine gezeichnete Gesichtshaut auf: eine vernarbte, mehrschichtige Überlagerung aus vielen längst vergangenen Schüben einer schweren Hautkrankheit, die Geschichte eines langen Krieges gegen eine übermächtige Invasion,