H. DERHANK

Der Zwilling


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lassen (ich hätte ohnehin nicht die Möglichkeit, die Welt zu vernichten, schade eigentlich)? Und obwohl du dir sicher bist, dass du den Thriller sehen willst, ich, Thomas, hasse Castingshows, obwohl also in deinem Kopf alles klar ist und du genau weißt, wofür du stimmen wirst, willst oder sollst, geschieht etwas Bizarres, beinahe Dämonisches: Im Moment der Abstimmung für die Castingshow erhebt sich plötzlich deine Hand in die Höhe. Nicht direkt gegen deinen Willen, du könntest nicht sagen, dass da eine Kraft gegen deine anwirkt, dass überhaupt ein Kräftemessen stattfindet, du beobachtest vielmehr passiv, aber schlichtweg entsetzt, wie sich plötzlich der rechte Arm hebt, im wahrsten Sinne des Wortes wie von Geisterhand bewegt, es geschieht, aber was? WAS geschieht? Leon? Bist du's? Willst du diesen Mist sehen?

      Ob am Ende ausschlaggebend oder nicht, nun schaust du eine Castingshow, aus Verdrossenheit schaust du mit, auch, weil du Thomas endlich über Bord werfen solltest, du schaust also zusammen mit den anderen diesen Mist, der einen BERÜHREN soll, ein werbefinanziertes Kindercasting, Kinder, die Popsongs nachsingen und Herzen bewegen; was für eine Scheiße, denkst du (denkt Thomas), mit der man da an die Glotze gezwungen wird, von wegen Scheiße, diese Herrschaften verstehen ihr Handwerk, sie spielen die Klaviatur menschlicher Gefühlsreflexe beängstigend perfekt, sie bedienen sich deiner Gefühle mit geradezu verbrecherischer Kaltblütigkeit, dass es an Gewalt grenzt, an psychische, wenn nicht physische Gewalt, der sprichwörtliche Druck auf die Tränendrüse, der geschieht hier nicht zufällig, sondern wird systematisch aufgebaut, erhöht, perfektioniert, eine Gewalt, der man sich nicht entziehen kann, nicht mal abwenden kann man sich, will man sich, nein, man starrt gebannt auf diese süßen Wesen, die so echt sind, so authentisch, wie sie die bekannten Lieder interpretieren, wie sie die Herzen der Jury bewegen, auch die Jury ist ganz und gar authentisch, und erst die Backstage wartende Familie (Familie! Familie!), alle, alle sind sie hingerissen von ihren kleinen Engeln, die so unverdorben singen und sind. Im Zuschauersaal Standing Ovations, und jeder kleine Star »einzigartig«, wie er »uns verzaubert«, und so schwer die Entscheidungen, wo doch alle, alle wie sie da ihre Leben in die Waagschale der Musik werfen, es verdient hätten, es verdient hätten, es verdient hätten. Das pausbäckige achtjährige Mädchen, das es auch wirklich drauf hat, der babyspeckige Puerto Ricaner, der mit einer sprachlichen Eloquenz Kurzanalysen über die emotionale Welt der Jurymitglieder verfasst, dass es auch den zugeknöpftesten Intellektuellen schmelzen lässt, und die frühpubertäre Wiedergeburt eines amerikanischen Blumenkindermädchens, das die Welt »wonderful« macht, nur Thomas hätte sich dem widersetzen können, nur Thomas.

      Aber du bist nicht mehr nur Thomas, man hat dich hingerissen und plötzlich fließen dir Tränen hinunter, die von einer deinen Brustkorb umklammernden Berührtheit herkommen, welche so peinlich wie echt ist und zugleich manipuliert bis in die Haarspitzen, und obwohl du es weißt und du immer immer immer ein rationaler Beobachter gewesen bist, oder gerade deswegen schockiert dich dieser Leon mit seinen Tränen. Du weinst, weil der inszenierte Kitsch aus medialer Massenmusik, falschen Authentizitäten und - zwar eiskalt portionierten, jedoch brühwarm ausgegossenen - billigen Emotionen deine Nerven überfällt wie ein schutzloses Dorf. Sitzt da und es fließt aus deinen Augen wie Nasenbluten; unvermittelt, plötzlich und so ununterdrückbar, dass du dich dahin retten must, bei einem mittelmäßigen Witz der Moderatorin lauthals zu lachen, damit das Nasse in deinem Gesicht notfalls als Lachtränen durchgeht. Dabei ist dir angesichts dieser ungeheuren Unkontrollierbarkeit dessen, was da als Gefühlsausbruch daherkommt, gar nicht nach Humor, du fühlst dich tausendmal schlimmer als bei Psycho-Jan, als wäre dieses abendliche Gemeinschaftsfernsehen der lang ersehnte wie befürchtete Lebenswirklichkeitsernstfall nach den enervierenden Stuhlkreismanövern in deiner Therapiegruppe. Nur vage nimmst du hinter dem Tränenschleier wahr, dass dein Lachen auch für die anderen vollkommen deplatziert ist, verschwommen bemerkst du um dich herum eine gewisse Versteinerung, man beobachtet dich, entweder, oder man bemüht sich, dich zu ignorieren, schaut stur in die Mattscheibe, und allen gemeinsam ist ihr Fremdschämen. Versinke, Leon, versinke doch!

      Aber Leon kann nicht versinken, er ist wie ein Stück aufgescheuchtes Freiwild, in seinem Kopf trete und schlage ich um mich, als fiele ein Schwarm hässlicher Insekten über mich her, als wäre ich mit ihm, Leon, in ein Ameisennest getreten, und die geflügelten fliegen auf und attackieren mein Gesicht, während die anderen von unten an mir hochkrabbeln und sich in meinem Unterkörper festsaugen, sie dringen in alle Ritzen des Gesteins, das ich bin, und brechen die Quellen auf, Insekten, die mich zucken und heulen machen, Gottlob hast du oben ein Einzelzimmer, in das du mehr flüchtest als dich verabschiedest, erst beim Aufstehen bemerkst du überhaupt, dass du schon wieder neben Legi gesessen hast, und dein letzter Blick fällt (schon wieder) auf ihr immer noch nacktes, rosig-weiches Kunstbein unter dem kurzen Rock. Aber du haust kopflos ab, und ob sie dir nachsieht, weißt du nicht.

      Du läufst, aus Angst, im Aufzug jemandem zu begegnen, die Treppen hinauf, heulst Rotz und Wasser und schämst dich vor - dir selber? Weine nicht, du Ernst der Seele - muss es nicht Angst der Seele heißen? Wer hat das gesungen, gedichtet, 80er Jahre, zu früh für Leon, der war da noch ein Kind, aber du kommst auch nicht mehr drauf. Die Zimmertür wirfst du zu und dich mit dem Rücken von innen dagegen, als müsstest du einen Verfolger aussperren, als wäre dir der Insektenschwarm noch auf den Fersen, aber das Einzige, was dich verfolgt, steckt tief, tief in dir.

      Trotzdem beruhigst du dich, fast schlagartig, fast so, als hättest du tatsächlich die künstliche Aufgewühltheit auf dem Flur gelassen, und hier drin, in deinem Zimmer, bist du wieder du selbst.

      Was macht dieser Kerl mit mir? Als wolle da wer dir diesen Körper wieder wegnehmen. Das vermeintlich unbewohnte Haus war nicht unbewohnt gewesen, die Bude war bereits voll, als du darin Asyl bezogen hast. Immer öfter denkst du das, oder hast du deinen eigenen dir fremden Clan mitgebracht?

      Hier leben noch andere, die sich versteckt haben, im Untergrund des Bewusstseins, jenseits des Bewusstseins, denn wenn Thomas seine eigenen Persönlichkeiten zählt, tauchen manchmal welche auf, die er nicht zuordnen kann. Die die meiste Zeit unsichtbar bleiben, jenseits dessen, was du für Thomas - will sagen: für dich - oder für authentisch hältst, aber nichtsdestotrotz ist der Fremde in dir immer da. Er oder mehrere seiner Sorte. Wie viele Persönlichkeiten besaß Leon? Wie viele haben seinen Hirntod überlebt?

      Das Zimmer ist mehr Hotel als Klinik, das Bett so, dass man sich ohne baumelnde Beine draufsetzen kann, ich setze mich also, stütze die Ellenbogen auf die Knie und das Gesicht in meine Hände, ich rieche mich, ich spüre mich, ich werde mit mir warm, so langsam und allmählich - und jetzt das! Ich atme mir in die Hand, spüre meinen Atem, beruhige mich darüber, meinen Atem immer wieder einzusaugen, und die Tränen trocknen und hinterlassen einen Salzfilm auf der Haut. Auch das Herz entspannt sich, und vor meinem inneren Auge sehe ich das aufreizend künstliche Bein neben mir. Was mich grinsen lässt, ich muss darüber lachen, halblaut, aber wenigstens nicht gespielt. Ich lache über mich, über das Absurde dieses Lebens, auch über meine Einzigartigkeit, die es eigentlich nicht geben dürfte, gegen die es sicher tausendfache Absicherungen gibt, aber nun ist es eben doch geschehen. Oder ... wer weiß denn schon, ob die Foren, die du im Internet besucht hast, nicht manipuliert sind, ob die Wahrheit nicht sogar von gewissen Mächten unterdrückt wird, wer weiß wirklich, wie oft so ein Fehler schon passiert ist? Wie viele der vielen Reinkarnierten sind bereits in fremden Körpern erwacht? Wie viele haben sich damit bereits abfinden müssen? Isoliert voneinander, und wie viele hat man dann doch oder noch rechtzeitig entdeckt und ... und was eigentlich? Dein Magen macht eine Eigenbewegung, die dich würgen lässt. Was und wie oft ist das schon passiert? Und was ist dann passiert?! Vergiss es.

      Vergiss es, Thomas.

      Leon!

      Ich werde Leon sein, auch wenn ich diesen Planeten sturmreif schießen muss!

      Mit diesem Gedanken ziehe ich ihn aus. Entkleide Leon wie einen anderen, was widerstreitende zugleich homophobe wie homophile Gefühle auslöst, ein süßer Ekel vor mir selbst.

      »Fick dich!«, sage ich laut zu dem Mann im Spiegel, ich betrachte seinen hässlichen Pimmel und ziehe ihn lang. »Fick dich! Fick dich, fick dich, fick dich!«

      Zum Schlafen liege ich auf dem Rücken. Obwohl ich nie auf dem Rücken geschlafen habe. Vielleicht aber nun, weil die lange Zeit der körperlichen Genesung an Schläuchen, Kabeln und Luftröhrenkathedern