H. DERHANK

Der Zwilling


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und niemand hebt die Hand, als Jan fragt, wer denn diese doppelte OBE gehabt hätte. Niemand, der einen persönlichen Hang zum Übersinnlichen zugeben mag, oder hier sitzen nur die sogenannten Normalen, die meisten einfach froh, den Vertrag mit der Gesellschaft geschlossen zu haben, und kaum bereit, sich mit Seelenspaltung zu beschäftigen.

      »Eine solche Erfahrung hat jeder von euch gemacht«, behauptet Jan trotzdem, »so oder so ähnlich, aber die meisten werden sich nicht daran erinnern, an den Wiedereintritt in eure neue Körper.«

      Reparierte Körper, denkst du, niemand hat einen neuen Körper, am ehesten noch ich selbst, und auch Leon war nicht neu, als du ihn bezogen hast.

      »... so wie ihr euch an die letzten Tage oder Wochen nicht mehr erinnert«, hörst du Jan reden, »weil der Engel diese Erinnerungen mitgenommen hat. Ihr hattet vielleicht was Schönes erlebt, oder was Schlimmes, ihr habt vielleicht eine Reise gemacht, mit viele Eindrücke, oder ihr habt Freunde getroffen, und euch in dieser kurzen Zeit vor dem plötzlichen Tod so intensiv ausgetauscht wie lange nicht mehr. Ausgerechnet in diese Zeitspanne! Oder ihr hattet endlich mal wieder richtig guten Sex!«

      Verhaltenes Lachen in der Runde.

      »Oder ihr habt gerade etwas Schlimmes erlebt ...«

      Alle sehen ihn an. Erst ihn, dann untereinander, wer denn?

      »Vielleicht eine Kündigung vom Arbeitsplatz, oder eine Trennung, oder jemand, den ihr kennt, hatte ein schlechte Diagnose, oder jemand ist gestorben, in der Verwandtschaft, jemand, der nicht bei der Geseelschaft ist. Auch solche Erinnerungen sind verloren. Auch diese Erfahrungen musst du noch mal machen, weswegen man auch den Verlust von diese Erinnerungen betrauern muss. Es bleibt einem nicht erspart, das noch mal zu erleben.«

      Jan steht auf einmal vor dir, sieht dir tief in die Augen, dir fällt auf, dass seine grau sind, hellgrau, und die Pupillen hinter den Nickelbrillengläsern winzig, wodurch sie wie Schießscharten wirken, hinter denen er zwar dich, du aber nicht ihn sehen kannst, was du kaum aushältst, so ungeschützt, es ist, als würde er in dir erkennen, WAS du alles verloren hast.

      »Und euren Tod nicht erlebt haben, ist ein großer Verlust ...«, sagt er.

      »Na ja«, unterbricht ihn einer, einer, der das hier nur mitmacht, weil man muss.

      Jan beachtet ihn erst nicht, schaut immer noch dich an: »Diese neue, alte Körper, der hat ein Geheimnis von euch! Der ist von euch verschlossen. Der verweigert sich euch, oder?«

      Ja denkst du, ja ... JA!

      Dann wendet er sich dem Mann zu, der 'na ja' gesagt hat, einer mit einem gepflegten schwarzen Bart, gepflegt und gefärbt, kein einziges graues Haar, auch nicht auf dem Kopf, und er ist der Einzige, der einen richtigen Anzug trägt; und der - neben Manni - keinen Juxnamen hat, den man auch sonst nie sieht, der gar nicht dazugehört (wenn man überhaupt von Zugehörigkeit sprechen kann) und der nur widerwillig zugestimmt hat, dass man sich hier duzt. Er sieht ein bisschen aus wie Sigmund Freud. Oder wie ein Roboter. Sein Gesicht ist eine Maske. Ein Foto von Freud ohne Mimik, ohne irgendeinen Ausdruck. Nein, nicht mal wirklich wie Freud, sondern wie dieser berühmte falsche Rohrschachtest von Freuds Profil, das sich je nach Betrachtungsart abwechselnd als Gesicht oder als nackte Frau ansehen lässt.

      Jan scheint sich einen Moment unschlüssig zu sein, dann provoziert er ihn: »Hast du nicht getrauert über den Verlust?«

      Der Mann (du kannst sein Namensschild nicht lesen, er sitzt in einem schrägen Winkel zu dir und der Kreppstreifen wird zudem vom Kragen seines Anzugjacketts halb verdeckt) sieht weg, kurz in die Runde, zu uns, aber da findet er nichts und will auch nichts finden, er sieht zum Fenster und dann doch wieder zu Jan. Ein Anflug von Zorn, immerhin.

      »Ich sehe das nicht ein, dass ich mich hier ausziehe!«, sagt er.

      »Musst du nicht! Niemand muss etwas hier. Das ist nur ein Hilfe, eine Chance, wieder reinzukommen, in seine Körper.«

      Der Mann nickt. Eisern.

      »Weil wir den eigene Tod zwar kennen«, sagt Jan in die Runde, »aus dem Unfallbericht, oder Arztbrief, also von andere beschrieben bekommen, aber nicht erlebt haben, müssen wir uns über ein Ersatz annähern.«

      Er dreht sich dabei mit wenigen Schritten noch einmal im Kreis. Dann setzt er sich wieder auf seinen Stuhl: »Ich möchte, dass wir jetzt ganz still sind, am besten die Augen schließen und an unser Leben denken, an das, woran wir uns erinnern. Versucht bitte, ganz in euch zu sein, in eure Erinnerungen, und geht dabei zurück, rückwärts durch euer Leben. Stellt euch den Tag von eure letzte Backup vor, und von da immer weiter rückwärts ...«

      Stille.

      »Stellt euch die wichtigsten Ereignisse in die letzten Tagen vor dem Backup vor, aber nicht zu lange, versucht, diese Erinnerungen nur zu streifen, stellt euch vor, ihr seid so ein Astralleib und fliegt mit einer timemachine rückwärts durch euer Leben und jetzt ...«

      Er macht eine lange Pause. Man hört uns atmen. Meine Augen sind zu, obwohl ich sie gar nicht bewusst geschlossen habe. Und jetzt?

      »Stellt ihr euch ein Meer vor, ein Ozean, euer Leben als ein Ozean, mit viele gleichförmige Wellen, aber an bestimmte Stellen sind da Bojen, mit Fähnchen, die markieren besondere Punkte in euer Leben. Bunte, rote, gelbe, grüne Bojen, besondere Ereignisse, Abitur oder Führerschein bestanden, erste Liebeserklärung, erste Beziehung, erstes Mal alleine im Ausland, im Urlaub, am Meer oder erste Mal betrunken, erste Mal gekifft.

      ...

      Seht ihr die Bojen? Ihr braucht nicht weiter gegen die Zeitachse gehen, ihr habt jetzt euer ganzes Leben vor euch. Der Ozean ist euer ganzes Leben.

      ...

      Und ihr sucht jetzt ... nach die schwarzen Bojen.

      ...

      Wisst ihr, was die schwarzen Bojen sind?

      ...

      Schwarzen Bojen, das sind die Momente von Trauer, von Verlust, von Unumkehrbarkeit und so weiter, stellt euch das Meer vor ...«

      ...

      Wieder eine lange Pause. Atmen, irgendjemand atmet nun schneller, ein anderer hustet (das könnte Metastase sein), und dann blinzelst du mit einem halb offenen Auge zu dem Mann, der wie Freud aussieht, und siehst, dass er die Augen nicht geschlossen hat, dass er das hier für Unsinn hält, aber was geht dich das an?

      »Seht ihr die schwarze Bojen?«

      Wenn der das hier für überflüssig hält, kann er auch gehen, denkst du, niemand wird dazu gezwungen, aber warum bin eigentlich ich hier? Wenn du ehrlich bist, nur um nicht aufzufallen. Weil du alles mitmachst, was man so mitmacht.

      »Sucht euch ein schwarze Boje ...!«

      Wieder blinzelst du, aber weil du den Kopf nun gesenkt hast, siehst du auf das Bein von Legi, und auf ihre Hände, die je einen Oberschenkel umfassen, die rechte den echten, die linke den künstlichen, feste, so feste, dass rechts weiße Flecken in der Haut entstehen, links nicht. Und Freud? Du schielst hin, und der starrt steif wie eine Puppe geradeaus zum Fenster.

      Du schließt die Augen wieder.

      »Seht euch diese schwarze Boje genauer an!«

      War da was gewesen in seinem Blick? Vielleicht kann er sich ja doch nicht ganz verweigern. Wer weiß, wogegen der ankämpft? Ist sein Anzug eigentlich schwarz oder grau? Vorhin war er noch grau, aber jetzt, wie du noch einmal hinübergeschielt hast, war er schwarz gewesen. Oder soll ich noch mal schauen?

      »Jeder von euch hat schon mal in seine Leben ein besonders traurigen Moment erlebt. Ein Verlust, ein Tod eines geliebten Menschen, oder eine Trennung, vielleicht als Kind die Scheidung von die Eltern, oder den Tod von ein Geschwister, der Tod von ein Freund, oder ihr seid in ein andere Stadt gezogen, ganz allein, zum Studieren, und habt fürchterliches Heimweh bekommen, auch das ... Solche intensive Momente prägen sich ein in euer Gehirn, das sind wie Anker in euer Leben, auch die traurigen Momente sind wichtige Anker, und ich möchte euch jetzt bitten, euch ein Anker herauszusuchen, ein ganz besonders tief im Meeresboden eingegrabenen