H. DERHANK

Der Zwilling


Скачать книгу

befestigt, und ringsherum locker verteilt stehen alte, hohe Bäume, die jenseits des gegenüberliegenden Ufers nur paar Meter bis zu einem Bauzaun reichen, hinter dem ein vielstöckiger Rohbau hochgezogen wird. Baukräne, Baufahrzeuge, schwebende Lasten, Stahlmatten und der allgegenwärtige Geruch frischen Betons; überall Arbeiter in den Gerüsten und du denkst: Das war mal mein Job gewesen. Der Bauzaun ist mit Folien verhangen, auf denen für die Unsterblichkeit geworben wird, aber es gibt genug Lücken, um hindurchzusehen, sogar dass eine uralte Eiche innerhalb des Baufeldes nicht gefällt worden ist, sondern mit einer Bretterummantelung geschützt wird. Ein bisschen alter Baumbestand macht was her, denkst du, wenn mit so einem architektonischen Trümmer der halbe Park geschliffen wird, und dass es für Bäume wohl noch keine Reinkarnation gibt.

      In dem seiner einstigen Weitläufigkeit beraubten Parkrest drängen sich die Patienten, Fremde wie du, die du in den nächsten Wochen genauso kennenlernen wirst, wie dich selbst. Und bei ihnen andere Leute, Besucher, Familie. Wie bei dir.

      Die letzten zehn, zwanzig Meter Gehen habe ich alleine geschafft, frei, zittrig, schlurfend, staksend, ich komme mir vor wie ein Alkoholiker, aber sowohl die langen Beine als auch die Augen (oder Brille) haben mitgespielt. Trotzdem bin ich froh, mich kurz an dem Holzgeländer festzuhalten, das den Weg von dem Teich trennt. Was sagte sie? Worüber hat sie gesprochen? Ich sollte auch mal reden, denkst du, schaust Sylvie aber nur an, fragst dich, wie Leon jetzt reagieren würde, du hast längst herausgefunden, dass Leon nie lange geschwiegen hat. Du schon.

      »Nur für ein paar Stunden«, sagt Sylvie, als du nichts sagst. »Das sagt die Therapeutin doch auch. Am Anfang ein kurzer Besuch, ... sich das eigene Leben wieder erschnüffeln ...« Ihre Hoffnung, dass zu Hause auch deine Erinnerung wieder kommt, oder durch die körperliche Nähe. Sie schmiegt sich wieder an dich, doch diesmal nicht, um dich zu stützen, sondern als deine Frau. Obwohl sie groß ist, bist du noch größer, immer noch ungewohnt, dass du einer großen Frau den rechten Arm um die Schulter legen kannst; sie greift mit ihrer linken Hand nach deiner rechten und zieht sie unter ihrer rechten Schulter hindurch, sodass du ihren Busen fühlst, erst ihre rechte Brust, dann, noch weiter gezogen, ihre linke. Sie presst deine Hand auf das Weiche, so fest, dass du ihr Herz klopfen spürst. Zugleich legt sie ihren Kopf gegen deine Wange, dreht sich ein wenig in dich hinein, überlässt deine Hand ihrem Busen und schiebt ihren Arm nun um deine Taille.

      »Nur ein Schnupperkurs, hm ...?«, und sie schnuppert an dir und du kannst dich selbst nicht riechen.

      »Wie war ich ... früher?«, fragst du.

      »Ach Leon, das fragst du ständig!«

      »Ich will nur versuchen ...«

      »Versuchen! Komm und dann siehst du's, dann wirst du dich auch

      ... erinnern ... mein Gott Leon, du erinnerst dich doch an ... zu Hause ... uns!?«

      Ihre Überzeugtheit, die sie eben noch besaß, ist dahin. (Oder war eh nur gespielt) (?)

      Du: »Jaaa ...!“

      Sie sieht zu dir hoch. Eine der Gänse ist die grasbewachsene Uferböschung hochgewatschelt und steht auf der anderen Seite des Geländers. Den Kopf provozierend vorgestreckt. Sylvie schaut abwechselnd zu dir und zur Gans, will dir irgendwas sagen, du müsstest etwas wissen: »Erinnerst du dich wirklich?«

      »Ja doch ...!«

      Die Gans macht »Kchchch...!«, streckt ihren Hals, reißt den Schnabel auf und zischt und faucht.

      »Hm ...?!«

      »Was ...?«

      »Leon, die Gans ... du ... sagt dir das nichts? Du hast immer ...«

      »Ja doch!«

      »Du erinnerst dich?«

      »Ja ...«

      »Wirklich?!«

      Sich jetzt fallen lassen. Sich ihr anvertrauen. Sich überhaupt irgendjemandem anvertrauen. Nicht mehr können. Es nicht mehr mit sich selber ausmachen müssen. Reden. Zugeben, nicht ihr Mann zu sein.

      Du sagst nichts, kannst ihr nicht in die Augen schauen, du löst dich von ihr, beugst dich unter Zwang über das Geländer zu dem Vogel, der halb aus deiner Hand fressen und halb mit dir kämpfen will. Du stützt dich in Erwartung einer neuen Schwindelattacke, die aber ausbleibt, auf das graue, angewitterte Holz. Der Teich ist flach, mehr eine große Pfütze als ein Teich, und trotzdem haben sie unterhalb des Holzbalkens einen Maschendraht angebracht, sodass niemand einfach durchschlüpfen und sich ertränken kann, oder einfach hineinfällt und mangels empfundener Gegenwärtigkeit (die man auch 'ich' nennt) mit dem Gesicht nach unten in der Pfütze liegen bleibt (solche Leute haben sie hier).

      Du spürst, wie Sylvie dich genau beobachtet. Es wird da ein Erlebnis gegeben haben, oder ein sich wiederholendes Ereignis, ein Spiel, mit Sylvie am Wasser, Gänse, und Leon hat irgendetwas gemacht, hat mit den Gänsen ... ja was verdammt noch mal?!, was macht man mit solchen Scheißviechern? Der Gänserich schimpft mit dir, du Tor, mach!, ruft er, zischt er, nun mach schon! Aber was? Ein Spiel, du ahnst ein Spiel, nicht nur etwas Einmaliges, es gibt vielleicht irgendwo bei Leon, bei DIR zu Hause einen ähnlichen Teich, mit Gänsen, oder es ist ein Bauernhof, du weißt, dass ihr am Stadtrand wohnt, vielleicht zieht dort ein Landwirt Weihnachtsgänse auf, und ihr habt einen gemeinsamen Weg, den ihr regelmäßig geht, an dem Hof vorbei, oder - der Rhein ist dort in der Nähe, Rheinauenlandschaft, und ihr, Arm in Arm, vielleicht gibt es am Rhein irgendwo Gänse?

      Und wenn, hast du sie gejagt? Mit Gebrüll? Nein, das würde nicht passen, es ist etwas WAGEMUTIGERES, was Sylvie erwartet. Vorsichtig, in Zeitlupe, streckst du die Finger nach dem Tier aus, das sofort fauchend zuschnappt, aber noch schneller hast du deine Hand wieder bei dir. Du schüttelst sie, als ob du sagen wolltest, hoppla, das war knapp. Dabei schaust du dich um, und Sylvie sieht dich traurig an und sagt kein Wort, und du erahnst im selben Moment den gequälten Ausdruck deines eigenen uneigenen Gesichts. Sylvie hat ihre Hände an ihre Brust gedrückt, den Kopf gesenkt, sodass ihr Kinn die Finger berührt. So sieht sie dich wie von unten herauf an, zweifelnd, als würde sie sich fragen, ob du immer noch tot bist.

      Die Therapiegruppe

      Die Tage in der Rehaklinik sind gefüllt mit Programm. Die meisten Anwendungen rein körperlich (sozusagen), Gymnastik, Fango, Moor, Massage, außerdem Lungentraining mit Nebelbädern und einem Gerät, in das ich hineinblasen soll, aber auch eine Therapie, bei der ich mehrere Infusionen gleichzeitig bekomme, die das Nervenzellenwachstum anregen sollen. Außerdem hat man dir Einzelgespräche mit einem Psychologen verordnet, mit einem, der dich reden lässt, was heißt: schweigen. Nach zwei stillen Runden stellt er fest, dass du bei einem Kognitionstherapeuten besser aufgehoben wärst, und überstellt dich an einen, der mit dir das gleiche macht wie Karina in der Unfallklinik. Erinnerungen wälzen, Erinnerungen einstudieren, Jörg, so heißt er, ist da ganz pragmatisch. Man könne sich Erinnerungen auch antrainieren, ohnehin stimmten Erinnerungen nur sehr bedingt mit wahren Begebenheiten überein, es gäbe genug Untersuchungen, die belegen, dass der Mensch sich sein Gedächtnis schönrechnet. Wenn ich das erst mal akzeptiert hätte, dass ich mich sozusagen von außen nur neu programmieren müsse, dann käme die Verinnerlichung von ganz alleine.

      Und wenn ich ihm erzähle, dass ich Erinnerungen habe? Nur ganz andere als die, die Leon gehören?

      Franka mitteilen wollen, dass ich noch lebe. Eine Verwechslung, im falschen Körper, aber ich lebe noch!

      Und dann? Wird sie mir um den Hals fallen?

      Du stellst dir vor, wie sie um dich trauert. Jetzt, wo du tot bist, begreift sie, wen sie verloren hat. Und dann so ein Anruf: Ich lebe noch!

      (Thomas ist nicht tot! Du weißt das!)

      (DOCH!)

      (Und vielleicht gefalle ich ihr in meinem neuen Körper viel besser?)

      Vergiss Franka.

      Leons Erinnerungen suchen dich manchmal heim; noch bevor du zum ersten Mal heimfährst. Erinnerungen, die sich deine Eltern nennen, die manchmal auftauchen