H. DERHANK

Der Zwilling


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als Hauptperson, ich erinnere mich an erotische Fantasien, die ich eindeutig als Fantasien identifiziere, Erlebtes und Erdachtes ist sauber voneinander abgetrennt, überhaupt alles Erscheinen ist so klar und präsent, wie Erinnerungen klar und präsent sein können, auch wenn sie belanglos sind, belanglos gegen die eindringlich exotische Atmosphäre in dem Raum, der Helm, das Interview, meine Antworten zu meinen Vorstellungen von meiner Zukunft, so klare Erinnerungen an dieses Gefühl großer Wachheit und Gegenwärtigkeit. Und der Film, die drei sich Liebenden am Ende, die eigenen Empfindungen dabei, und dann? Zum Ende des Films kam die NTA und hat dich hinausbegleitet? Kam sie? Oder war es der Psychologe gewesen? Hat er dich zum Hypnotisieren geholt? Und du bist im Schlaflabor eingeschlafen und dann hat man dich gescannt? Das war dann der eigentliche Scan gewesen, von dem du nichts mitbekommen hast, so tief geschlafen in der Hypnose, und du hast anschließend weitergelebt, dein ganz normales langweiliges Leben etc.? Nein, es war nicht der Psychologe, es war die Assistentin, die dich aus dem Wachscan abgeholt hat, an den Hypnotiseur kannst du dich überhaupt nicht erinnern. Nein, auch nicht an sie, nicht einmal an sie wirklich, überhaupt nicht an wen auch immer, der dich nach dem Film geholt hat.

      Plötzlich taucht ein Bett auf deinem Wahrnehmungsschirm auf, und das Gefühl, darin zu liegen; aber wie bist du hineingekommen? In das Bett? Nimmst du ein Bett wahr, in dem du JETZT liegst? Die Stimme eines Mannes, die etwas in dir auslöst, ist das die Hypnose? Aber noch immer bist du hellwach, so wach, dass du glaubst, du ertappst dein Gehirn dabei, wie es versucht, dir eine falsche Ersatzerinnerung aufzuspielen. Die du anzweifelst, hast du die Worte wirklich gehört? Oder anders gefragt: Kannst du dich an die Worte des Hypnotiseurs vor dem Scannen erinnern? Oder ist das eine Erinnerung, von der du zugleich weißt, die ist nicht echt?

      Echt! Was ist echt? So sehr du dich auch bemühst, irgendetwas von den Momenten NACH dem Tom-Tykwer-Film abzurufen, das Schlaflabor, die Hypnose, und sei es nur eine einzige Sekunde, oder auch nur eine sich öffnende Tür, ein Schlussakkord in der Musik, ein letzter Schluck Kaffee, da ist nichts. Du warst so klar, und dann?

      Und: Wie lange ist das schon her?

      Steht dein Auto etwa immer noch dort?

      Was ist mittlerweile alles geschehen?

      Lieber Gott, was war nach dem Scan?

      Was war nach dem Scan?!

      WAS WAR NACH DEM SCAN???

      Wiedergeburt II

      Wie kommt es, dass die Erkenntnis, keine Seele zu haben, so viel Mitleid hervorruft? Ist Mitleid der unverhangenste Blick auf euch von der Seele Überzeugten? Der klarste, von keiner Philosophie getrübte Blick? Bedenkend, dass aller Blick nur Innenblick ist, erwachst du zum wiederholten Male in demselben Krankenzimmer und weißt sogleich, dass du es den vielen neuen Blicken schwer gemacht hast mit deinem mangelnden Mitleid.

      Ich habe mich nicht umgebracht, nicht aus Liebeskummer. Ich hatte einen Unfall oder was auch immer, und dass ich mich nun verändert habe, so sehr verändert, dass man mich nun Leon nennt, das ist eine genauso hinzunehmende unmögliche Tatsache wie das ganze verpfuschte Leben des Thomas Vanderra zuvor. Chance Leon.

      Als ich mich - erneut - frage, wo eigentlich Thomas ist, wird mir wieder schlecht. Als löse allein das Stellen dieser Frage Übelkeit aus. Wo ist mein ... Körper? Die Frage nach mir selbst sitzt wie physisch lokalisierbar in meinem neuen Kopf. Und sobald ich mich ihr nähere, entflammt eine heiße Übelkeit meinen Bauch, und sobald ich mich wieder entferne, löst sich auch die Übelkeit auf - zugunsten eines wohligen Dämmerzustands. Denk nicht dran, und alles wird gut.

      Wer weiß, welche dich (oder vielmehr mein Gehirn) besänftigenden Mittelchen man Leon gegeben hat, welche Substanzen dort in der Flasche sind, die ihm Tropfen für Tropfen ins Blut gehen? Welche Schmerzstiller? Insbesondere sein Kopf ist mit Absicht betäubt, man kann mit so einem dornigen Helm, den er noch immer trägt, gar nicht normal liegen. Sein Schädel ist gelagert auf einem bezogenen Schaumstoffkeil, der seinen Hals stützt und den Hinterkopf freilässt, und deswegen diese ständigen diffusen Nackenschmerzen (oder kommen die von meinem Live-Watch-Sender?).

      Ich atme diesen Körper nicht, diesen Körper atme ich nicht ...

      Ksss, macht der Kopf. Die Sinne versagen immer wieder, und selbst die Kontrolle über grundlegende Funktionen wie Atmung und Herzschlag scheint Leons Gehirn immer wieder zu entgleiten. Da ist so ein pulsierender Schmerz, nicht zu lokalisieren, ein plötzlicher Ganzkörperphantomschmerz, der genauso schnell wieder abreißt, wie er kommt, oder diese traumartigen Schwebezustandsempfindungen, bei gleichzeitiger Wachheit, das sind allergische Reaktionen des Körpers auf einen selbst, auf das Backup, oder reagiert das Backup allergisch auf den Körper? Symptome der Empfindungsabwehr, die Wissenschaft weiß nicht, wer auf wen allergisch reagiert, die Wissenschaft weiß nicht einmal, dass es solche Fragestellungen überhaupt gibt.

      Unterstützt von den Psychopharmaka nimmst du dir vor, dich nun zu benehmen. Nimmst dir vor, das Herz zu schlagen und die Lunge zu atmen und das Unmögliche zu akzeptieren. Zwar erinnerst du dich noch immer an nichts, was zu Leon gehört, und nur an alles Thomas'sche, an den Chip im Nacken wie die Frau auf dem Parkplatz und das Fräulein, du erinnerst dich an die Röhre, die keine war, sondern ein Raum mit Bildschirm und leuchtendem Ballon, du erinnerst dich an Sid, der Simon einen runterholt, und jetzt lachst du laut, weil es natürlich nicht Sid war, in dem Film, sondern ein gewisser Adam, zwar erinnerst du dich also nach wie vor nur an das offensichtlich Falsche, zwar fühlen sich auch Stimme und Mund und Gesicht noch immer fremd an, aber du nimmst sie doch jetzt wenigstens als Stimme und Mund und Gesicht wahr; du hörst Töne und siehst Gesichter, und Fühlen ist immerhin Fühlen; und so anders ich jetzt auch bin, Herr Leon Unbekannt, dennoch habe ich gerade ein bisschen deinen Frieden mit meinem neuen Mir geschlossen. Mit den neuen Teilen deines Körpers, korrigiere, mit deinem neuen Körper.

      Ich erfahre, dass man mich nach meinem Anfall vor dem Spiegel fast eine ganze Woche erneut ins künstliche Koma versetzt hat, dass also eine weitere Woche vergangen ist, eine Woche, in der ich diesmal geträumt habe, und anders als beim ersten Erwachen gibt es diesmal so etwas wie Kontinuität dessen, was ich bin. Über die Träume verbinde ich mich nicht nur mit Vergangenheiten, meinen oder Leons, sondern auch mit mir selbst. Ich verstehe immer noch nicht, wie es passieren konnte, dass ich als Leon reinkarniert wurde. An welchem Punkt unserer beiden Leben haben wir uns vermixt? Wo ist denn der echte Leon, wenn ich seinen Körper okkupiert habe? Hatten wir beide einen Unfall? Denselben? Stammen wir aus zwei Paralleluniversen, die bei diesem Unfall verschmolzen sind? In dem einen hat es nur mich gegeben, ich meinte, nur Thomas, und in dem anderen nur Leon?

      Leon, erfährst du, ist schon länger bei der Gesellschaft, auch er hat im Vierwochenrhythmus sein Bewusstsein scannen lassen, insofern hast du großes Glück gehabt, als dass man deinen Erstscan sogleich brauchte, um dich zu reinkarnieren. Hättest du dich später dazu entschlossen, der Gesellschaft beizutreten, du wärst jetzt tot. Für immer.

      Nein, du korrigierst dich. Wenn Thomas noch da ist, irgendwo er, du, dann wärst du immer noch er.

      Nein, wieder musst du dich korrigieren, ich wäre doch tot - bzw. nie existent geworden. Ich bin nicht Thomas. Ich bin nur einer, der denkt, Thomas gewesen zu sein. Mir wird schlecht, kotzübel, ich lasse das, ja, lieber Gott, ich verspreche, nicht mehr darüber nachzudenken ...

      Man teilt dir mit, dass du noch etwa vier Wochen bleiben musst, und anschließend kämst du für eine Weile in die Gesellschaftseigene Reha­klinik. Weil dein Lungenriss komplikationsfrei verheilt und dein Gehirn im EEG zumindest keine Aussetzer mehr anzeigt, entlässt man dich von der Intensivstation und du kommst vorübergehend auf die Psychia­trische, ausgerechnet! Ausgerechnet? Eins ist doch klar: Du bist ein Kopfpatient. Du bekommst ein Einzelzimmer, Frau Dr. Mausgesicht, die sich dir nie vorstellt, besucht dich mehrmals täglich und beruhigt diese deine neue Frau Sylvie damit, dass es normal sei, wenn Komapatienten und Menschen, die hirntot gewesen waren, unter Amnesie leiden. Das

      Sich-an-sich-selbst-Erinnern sei ein langwieriger Prozess, aber dank des Scans würde man schon bald oder irgendwann zumindest in dir den alten Leon wiederfinden. Was mich nicht beruhigt. Der, den ich für sie finden muss, ist ein Fremder und wird ein Fremder