H. DERHANK

Der Zwilling


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um den drohenden Tod hinauszuzögern, doch während bislang Rettungsfahrzeuge ausschließlich für die Rettung der noch Lebenden ausgestattet waren, sehen sich Ärzte und Sanitäter zunehmend damit konfrontiert, Leichen zu transportieren. Oder gar zwischen der Versorgung Toter und Schwerverletzter abzuwägen. Besonders bei größeren Unfällen mit mehreren Opfern - abzuwägen, wer Vorrang hat: die Verletzten oder die Toten? Sollen sie einen Schwerverletzten versorgen, der kaum eine Überlebenschance hat, oder den toten Kunden der Gesellschaft, dessen Körper schnellstmöglich vor der Zersetzung bewahrt werden muss? Was ist, wenn der Schwerverletzte kein Kunde ist, und keine zweite Chance hätte? Und was ist, wenn sie auswählen müssen zwischen Toten und Toten, die aussortieren, die in das Reinkarnationssystem der Gesellschaft eingebunden sind und die, die ins Grab gehören. Niemals, denke ich.

      Oder ...?

      Ich atme diesen Körper nicht!

      Ich fahre weiter. Immer tiefer dringe ich in diese Landschaft des Todes ein und weiß, ich muss ans Ende der Welt, um meinen Kopf abzugeben. Wieder taste ich nach der Blutkruste auf dem Nackenknochen. Ich pule daran herum, ich kratze, bis die Kruste ab ist. Ich fühle es feucht werden, es brennt ein bisschen und ich mache das schon seit Tagen. Ich könnte meinen Chip wieder herauskratzen. Könnte ich? Wohl kaum, zu tief sitzt das Ding in der Halswirbelsäule, womöglich mache ich mich querschnittsgelähmt. Ich habe nie einen haben wollen, und jetzt habe ich doch und fühle mich beobachtet, als hinge der Geist von 'Mutter' hinter den Wolkenschleiern und verfolge meinen Weg zum Institut.

      Am Zielort kein Geschäft, kein Café, nicht mal Menschen, die sich hinter Scheiben verstecken. Trotz Kirche und einer Art Mitte. Nur dieser Hochnebel, der sich nicht verziehen will, der auf der kleinen Stadt sitzt wie ein Sargdeckel. Die ist steril und ohne irgendwas, kein Bäcker, kein Café, nur ein verriegeltes Restaurant und die Schaufenster einer seit 40 Jahren nicht mehr umdekorierten Boutique.

      Am Institut erst vorbeigefahren, Moment mal, zurück, wieso ist der Ort, wo die Menschheit sich scannen lässt, so schlecht, ja gar nicht ausgeschildert? Und beim Empfang niemand. Nur ein gedrungenes Foyer, Ausstellungsstücke, ein Foto, eine Klingel. Und hinter einer Scheibe, wie Panzerglas, ein Raum; Bürodamen, vertieft. Nicht die ganze Menschheit trifft sich hier, aber dieser Ort soll überregionale Anlaufstelle für Millionen sein? Ich klingel, und mir erscheint so ein Fräulein, ein junges, eines, dem die Langeweile im Gesicht steht wie ein Sodbrennen, ein Fräulein, das mich mit einem müden Hunger freundlich bedient. Ich denke, dass auf dem Land das Sexuelle viel unmittelbarer unter der Oberfläche lauert als in der Stadt. Sie bittet mich, Platz zu nehmen, ich nehme aber nicht Platz, bleibe stehen, während sie sich mit meinem Anliegen auf die Suche begibt. Ich sehe mir in den Vitrinen Miniaturen an, Modelle kleiner Hirnscanner vielleicht, hübsch, vielleicht auch nicht, ein Mann kommt, »werden Sie schon bedient?« und »Nehmen Sie doch Platz!« und »weite Anreise? Stau? A3?« Er verschwindet.

      Das Fräulein kommt zurück, ob ich denn angemeldet wäre, normalerweise wüsste sie das, ich zeige ihr die Karte, die man mir zugeschickt hat, ja die wäre von der Kollegin wohl, die wäre aber nicht da, oder nicht mehr da, es wäre ja gleich vier.

      Wir gehen eine enge Treppe hinauf, ich und das Fräulein hintereinander, freundlich ist sie ja, doch ohne echte Hoffnung auf gewisse Dinge, die wir unbemerkt in den schlecht beleuchteten engen Gängen zwischen den noch schlechter beleuchteten und noch engeren Büros tun könnten, hinter überladenen Schreibtischen, Kopierern oder Aktenschränken.

      Wir betreten ein Zimmer voller Zimmerdamen, von denen eine mich übernimmt, mich beim Namen nennt, meine Karte kopiert. Ich unterschreibe etwas, Stempel, dann Rückübergabe an mein Fräulein. Das telefoniert, es geht um mich, man begreift endlich, dass ich gänzlich falsch bin, ich müsse zum Institut, »ich dachte, das wäre hier ...«, sage ich, freundliches Lächeln, »ja schon, aber nicht dasselbe«, es komme selten vor, dass sich wer hierhin verirrt, der Publikumsverkehr, der wäre am anderen Ende vom Gelände, das Hirnbegleitschreiben bekäme ich dort ausgedruckt, erst mit dem könne ich zum Scannen.

      »Waren Sie denn noch nie dort?«

      Ich verneine, beim Institut?

      »Beim Institut«, sie erklärt, dass ich in der Materialverwaltung gelandet sei, wie ich das nur geschafft habe, nicht da, wo man normalerweise hinkäme, und sie schlägt mir eine Abkürzung vor, wie ich fahren soll, durchs alte Werksgelände, über die Brücke, gegen die Einbahnstraße, niemanden umfahren, sie lacht, vor den Gleisen rechts, da wäre es, ich könne auch zurückkommen, nochmals fragen ...

      Ihre unverklärten Augen, auf meine Hand, dann auf meinen Mund gerichtet, auf mein Innerstes, auf etwas von mir, das schon ausreichen täte, sie oder etwas von ihr zu befriedigen. Ihre Augen schließen sich wie für immer, als sie mich verabschiedet.

      Ich fahre also gegen die Einbahnstraße durch ein mächtiges, kameraüberwachtes, aber offen stehendes Rolltor ins Werksgelände, eine ehemalige Eisengießerei, deren Überreste die Gesellschaft aufgekauft hat. Überall Container unterschiedlichster Größe, alle voll klimatisiert, die meisten stehen gestapelt in offenen, verrußten, in die Jahre gekommenen Ziegelhallen, und ich ahne, dass das alles Datenspeicher sind. Dass in diesen Containern die Seelen der Unsterblichen lagern.

      Ich verfahre mich erneut. Ich bin das erste Mal hier, ich habe das alles noch vor mir, noch keiner der Container hier enthält ein Bewusstsein von Thomas Vanderra. Wie aber kann es sein, dass sich ein Wildfremder in einer so sensiblen Anlage frei bewegen darf? Wird das Fräulein Ärger bekommen. Oder träume ich?

      Verirre ich mich, weil das alles hier nicht real ist?

      Ich erinnere mich, einen Arbeiter entdeckt und ihn nach dem Weg gefragt zu haben. Daran erinnere ich mich.

      Ich fahre weiter, werde von einem Security-Mann aufgegriffen, der mich zur Ausfahrt schickt, zu irgendeiner Ausfahrt, die keine hundert Meter entfernt plötzlich auftaucht, und ein Pförtner, und noch einer, man ist unschlüssig, was will der (ich) hier?, man lässt mich raus, und schon bin ich wieder in der Normalrealität, Landstraße mit gelben Schildern.

      Ich gebe Gas, jetzt wird es aber Zeit, irgendwo muss doch mein Ziel sein!? Ich frage mich, wie es angehen kann, dass die Gesellschaft jederzeit weiß, wo ich bin, ich aber nicht, wo die Gesellschaft ist?

      Weil Reinkarnation nur in einer Welt funktioniert, in der der Tod nicht mehr unbemerkt geschehen kann, antworte ich mir. Und: Du hast es so gewollt!

      Schließlich finde ich tatsächlich Hinweisschilder, so überdimensioniert groß, dass ich nicht begreife, wieso ich die übersehen habe, und dann das Institut: eine mittlere architektonische Katastrophe aus Stahl und Glas am anderen Ende des namenlosen oder namenvergessenen Gewerbegebiets hinter der namenlosen Stadt, umgeben von Blechfassadenschachteln und winzigen Zierkoniferen, und, ach ja, da sind also die Parkplätze. Als ich die Autotür zuwerfe, sehe ich paar Straßen weiter, im Dunst fensterloser Hallen, den Erotik-Markt-Pylon. Ich bin im Kreis gefahren.

      Das futuristische Foyer des Instituts ist aus Glas und gefüllt mit Menschen, tropischen Gewächsen und einer subtilen, uns tragenden Musik. Wir könnten auch alle nackt herumlaufen, so warm ist das mitten im Winter, und wir sind ganz schön viele, die wir heute gescannt werden, ich fühle mich wie zurückgekehrt und weiß aber nicht wohin. Der Garten der Unsterblichen, die ganz normale Wie-du-und-Ichs sind, sogar Familien mit Kindern, die sich hier zum Scannen treffen und in der Betriebsamkeit eines Flughafens darauf warten, aufgerufen zu werden. Es gibt mehrere Anmeldecounter, ich gebe an einem meine Karte ab, bekomme den Hirnbegleitschein ausgedruckt, denke an das Fräulein zurück und wieder assoziiere ich 'Sylvie', das Fräulein hatte ausgesehen wie sie, aha, denke ich, wer ist Sylvie?, frage ich mich, was gaukelt mir mein Kopf da vor, ich kenne keine Sylvie und vielleicht bin ich auch nie diesem Fräulein begegnet, es ist, als wäre das alles gar nicht passiert, die ganze Irrfahrt bis hierher, kann das sein?

      Ich schaue in die Höhe, weit oben eine gläserne Kuppel, und zwischen Palmwedeln und Schlingpflanzen hängen riesige Flachbildschirme, wie frei schwebend, die zeigen Kurzfilme und Werbung, und überall Holzbänke, Liegen und etwas zu trinken. Aber ich bin auf Termin hier, alle sind wir auf Termin hier, niemand muss wirklich lange warten, alles bestens organisiert, die Geschäfte mit dem Ego-Scan gehen gut, und