H. DERHANK

Der Zwilling


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Was nicht anderes ist, als die Auslöschung des Einzigen, was dich als dich ausmacht: die in dieses Gehirn hineinsimulierte Thomas-Vanderra-Erinnerung.

      Die nächste Frage der Ärztin bleibt wie alle anderen unbeantwortet. Dann verlässt sie dich.

      Du verlässt dich.

      Ich habe mich längst verlassen, Thomas habe ich verlassen und mich in Feindesland wiedergefunden, ich will fliehen, aber ich kann nicht fliehen, ich kann mich nur eingraben, immer tiefer und tiefer vergrabe ich mich in diesem Körper wie in einem Schützengraben, durch dessen heißen, dampfenden Hohlräume Erregungswellen beben, die ich als meine eigene Angst identifiziere, vermischt mit der Angst eines Umzingelten, die aus seinen ausgetrockneten Speicheldrüsen strömt. Wie schmeckt der trockene Mund eines Fremden? Gefallener Kamerad auf dem Schlachtfeld, in dem ich festklemme und langsam verzweifel. Nein, ich bin kein Kamerad, bin nur ein Virus, ein Parasit, der das weder wollte, noch etwas dafür kann, der jedoch einen genauso bedingungslosen Überlebenswillen hat, wie dieser Untote, ich muss muss muss mich damit abfinden, muss es akzeptieren, ertragen, es mittragen, ich habe keine andere Wahl, als Leon zu infizieren und ihn mir zu eigen zu machen!

      Ich spüre, wie sich seine Blase entleert.

      Wer auch immer Leon ist oder war, du musst zu ihm werden, er sein, als wärst du er schon immer gewesen. Und es scheint ja fast einfach! Weil du keine Idee von ihm hast, keine wirkliche Vorstellung, kein echtes Bild, und weil du ans Bett gefesselt bist und deine Sinneseindrücke sich auf ein enges Blickfeld und fremde Stimmen beschränken, gelingt es dir irgendwie sogar daran zu glauben. Als wäre das nur ein Spiel, bei dem du gar wieder gesund werden könntest. In der Stille des Krankenzimmers, in der Dämmerung des Tages, in diesem diffusen Zustand fehlender Wahrnehmungen besteht ja weiterhin noch die Möglichkeit, dies alles könne vorübergehen, eine Irritation aufgrund von Krankheit, Unfall oder sonst was. Solange Leon unbegreiflich bleibt, glaubst du fast, es wäre leicht, in diese Rolle zu schlüpfen, wie ein Geheimagent, oder ein Schauspieler, ein Spiegelbild fremder Erwartungen zu sein, welches du nur gut genug kontrollieren und steuern musst. Du spielst das Spiegelspiel Leon.

      Wo ist eigentlich Thomas? Der echte Thomas ... ('der echte ...', dieses Wort, mir wird schlecht darüber).

      Der Spiegel

      Ein Blick in einen echten Spiegel macht aus dem Spiel jedoch endgültig jenen befürchteten Albtraum, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.

      Bisher wusstest du nicht, wie er aussieht. Wie du aussiehst. Dein Bild von dir oder ihm ist ein Thomas mit Deformationen. Ein kranker Thomas, aber immer noch ein Thomas. Auch wenn alle Eigenwahrnehmungen anders sind als früher, so ist das Ganze doch immer noch dasselbe. Irgendwie. Denn bisher hat dir niemand einen Spiegel vorgehalten, oder auch nur ein Foto von dir gezeigt. Zu sehr war man mit der Routine des nackten Überlebens beschäftigt, zu sehr damit zufrieden, dass du überhaupt neurologisch korrekt reagierst, sogar sprichst und interagierst. Technik und Personal haben dem unfalltoten Leon Petrović mit Kabeln, Schläuchen und insbesondere dieser unheimlichen Apparatur am Kopf täglich mehr Leben eingetrieben, und niemand ist dabei auf die Idee gekommen, dass dieser Leon Petrović sich selbst noch nie im Leben gesehen hat.

      Am Nachmittag nehmen sie dir die Handfesseln und die feuchten Windeln ab, und du verlierst das Gefühl, in Leons Mund einen Platz zu haben. Als sie deinen tauben Unterleib auf eine Pfanne heben, flatterst du auf wie ein aufgescheuchter Vogel, verlässt die Mundhöhle wie einen aufgesprungenen Käfig, aber ihn, ihn verlässt du nicht. Und dann zwingen sie dich, vor ihren Augen mit diesem Körper Stuhlgang zu haben, dessen Reste sie mit Plastikhandschuhen aus dem Fremdarsch entfernen, du schreist und schimpfst wie ein wütender Spatz, ohne aber auch nur einen Laut von dir zu geben.

      Und anschließend stellt man dir deinen Sohn vor, den du von nun an hast, neben der Frau, die du von nun an hast und die du frech mit »Sylvie!« begrüßt und sie damit zum Weinen bringst. Sylvie, deine vor deinen Brillengläsern flackernde neue Frau. Und der schlaksige Junge, vielleicht 13 oder 14, an den erinnerst du dich, der war schon einmal hier, ein Jugendlicher, der nichts sagt, aber in dessen Gesicht du es arbeiten siehst.

      Und noch zwei: Ein Mann und eine Frau, von denen du sofort weißt, dass das Leons Eltern sind. Ein Blick genügt. Zwei im besten Alter, wie man sagt, eher in den Sechzigern als in den Siebzigern und doch auf diese bestimmte Art gealtert, wie manche Leute automatisch altern, wenn ihre Kinder aus dem Haus sind. Er groß, einst gewiss kräftig und jetzt einen Bauch angesetzt, aber letztlich ganz normal, mit seinem fast weißen Resthaar, mit seiner dank Mutters Küche rosigen Haut und dem tadellos sitzenden Anzug. Fast schon zu tadellos. 'Mutters Küche' ist genau das, was die Frau an seiner Seite ausstrahlt. Sie ist schmaler als er, aber nicht schmächtig, ihre Frisur wie aus der Werbung, doch ihr Gesicht weiß und von einem plötzlichen Altersschub zerfurcht. Ein Sorgengesicht, sie sieht dich an wie eine, die dich geboren und mit Inbrunst großgezogen hat. Und beinahe vergebens und dass das hier jetzt ein Wunder ist.

      Ihr schweigt. Dir scheint, man hat sie, deine Eltern, eindringlich davor gewarnt, dich zu überfallen. Ihr schweigt eine Weile, nur Sylvie hält deine Hand, bis sie zögerlich zu reden beginnt, wie einen Faden aufnimmt und wie für deine Eltern spricht, und dass die Firma laufe, es wäre alles gut und man müsse sich keine Sorgen machen und dann doch diese fremde Mutter, deine, die »mein Junge« sagt und zu dir kommt und auch ein Stück Hand abhaben möchte. Dann steht auch der Vater über dir, herrisch und unsicher zugleich, und stellt resolut und nichtssagend fest, dass »das ja noch mal gut gegangen« sei, und die »Investition sich gelohnt« habe. Sich gerade »auszahlt«. Nur am Rande bemerkst du, dass auch dein Sohn nun direkt am Bett steht. Dein Sohn. DEIN. Es ist zum Irrewerden.

      Dein Schweigen, deine Passivität, deine offensichtliche Teilnahmslosigkeit ist allen unheimlich und nur bedingt durch deinen Zustand zu erklären, sie scheinen zu ahnen, dass an dir mehr anders ist als das, was erwartet anders hätte sein müssen.

      Zwing dich, Thomas, Thomas in Leon, zwing dich, Leon zu sein!

      Du ziehst deine Hand aus dem Händewirrwarr zurück, hebst den Arm, soweit die Ellenbogenmullbinde das zulässt, streckst ihn mechanisch nach Sylvie aus, die einzige hier, die dir wenigstens ein winziges bisschen vertraut ist, du berührst eine Haarlocke, die sich aber deinen ungeschickten Fingern entwindet, worauf sie deine Hand erneut aufgreift, geradezu dankbar für deine Geste, und du ein Gesicht zu machen versuchst, ein freundliches, hoffendes, aufmunterndes, was bei ihr aber nur Stirnrunzeln auslöst. Wie mag Leons Blick gewesen sein, wenn er versucht hat, sie so anzuschauen? Wie hat das ausgesehen? Du weißt es nicht, natürlich nicht.

      Beim Abendessen - Eltern und Sohn sind gegangen - hilft sie dir. Graubrot, das sie mit Schmierkäse bestreicht und dessen Rand sie abschneidet, und Krankenhaustee aus einer Schnabeltasse. Häppchenweise, schluckweise. Obwohl du dich wieder in die Mundhöhle verkrochen hast, schmeckst du nichts. Gar nichts, die eingespeichelten Klumpen umspülen dich, selbst die Zunge hat kaum Kraft, sie in die Speiseröhre zu schieben, wo sie fast von alleine hinunterrutschen, du hörst Magengeräusche und bleibst ohne Kontakt zu deiner unteren Körperhälfte. Das Glucksen deiner Eingeweide ist euch eher peinlich, als dass es Heiterkeit auslöst.

      Du musst noch einmal auf die Toilette, ja, diesmal die Toilette, Windel und Pfanne willst du dir ersparen, und so bittest du Sylvie und die das Geschirr abräumende Krankenschwester, dir zu helfen.

      Ein Fortschritt sei das, so die Schwester, und je eher, desto besser. Sie löst die zahllosen Verbindungen zu den Geräten, nur der Helm bleibt, und dann hilft sie dir, dich aufzurichten. Sie wartet geduldig, bis der Schwindel vorübergeht, lange fremde nackte Beine baumeln von der Bettkante, Pantoffeln, die Sylvie über krallige Füße schieben will, aber du schüttelst sie ab, du willst den Boden unter dir spüren, und dann stehst du auf.

      Sylvie und die Schwester stützen dich von links und von rechts, führen dich mit schlurfenden, kaum fühlbaren Schritten zur Nasszelle, neben der sich an einem Schrankspind ein hoher Garderobenspiegel befindet und in den du nur zufällig schaust, und dann doch: ein Spiegel, in dem du das erblickst, was vor Millionen Jahren ein Affe auf einer stillen Wasserfläche erstmalig erblickt haben mag: einen ihn anschauenden unheimlichen Fremden, der selbst zu