H. DERHANK

Der Zwilling


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      Aber Thomas kann die unbekannte Hand auf seiner (meiner?) Hand nicht abschütteln, er versucht es nicht einmal, er hat Angst, diese Hand zu bewegen, er ist viel zu befangen, das erste Mal in seinem Leben diese, diese Hand zu bewegen, die Zehen sind kein Problem gewesen, aber die Hand, die Hand, die ist nicht nur zum Greifen da, die Hand macht viel mehr als funktionieren, sie macht etwas, was mit anderen Händen zu tun hat, aber was nur, was? Um Himmels willen, WAS???

      Viele Jahre später erwacht Thomas noch immer in einem Krankenzimmer. Mit offenen Augen, die im Dunkeln und aus diesem Liegendwinkel nur an den Sichtfeldrändern Dinge unscharf wahrnehmen, z.B. Geräte, die leise regelmäßige Töne von sich geben, und ein Fenster (Vorhänge?), ja, es ist dunkel, er ist nicht blind oder so etwas, es ist einfach nur tiefe Nacht. Es ist auch nicht viele Jahre später, das war nur ein Gefühl von unbeschreiblich großer Distanz gewesen, zeitlich, vielleicht auch räumlich, ich schaue in die unendliche oder auch ewige Nacht und versuche, nicht zu denken, oder die Gedanken nicht zu quälen, sie einfach vorüberziehen zu lassen, Gedanken von Arbeit, ich denke Arbeit, Entwürfe, ich denke Hausbauen, ich denke Büro und Landesbauordnung und Brüstungshöhen von Balkonen ...

      »Leon?« Als zerbräche Glas.

      Es ist wieder Tag. Fremden Speichel erzeugen und mit fremden Zähnen und einer falschen Zunge das Nasse in der unbekannten Mundhöhle zerkauen, schon wieder Ekel, wieder Würgen, ich muss mich zwingen, diesem Mund fernzubleiben, denk lieber an die Hand, oh, Hand auf Hand, wieder Hand auf Hand, da ist sie wieder, ich habe so schön geträumt, ein warmer satter Traum, der glücklich macht, aber schon ist er weg, nicht die kleinste Erinnerung, weggeschoben von diesem fremden Namen, dieser fordernden Stimme, ich erinnere mich an diese Stimme, diese fremde, nach Pfefferminze schmeckende Stimme, nein, das ist nicht Franka, nein, das ist sie nicht. Aber ich habe sie schon einmal gerochen, neulich erst, im Bus, wir haben im Bus nebeneinander gesessen, und die Stimme hat meine Hand gehalten, und ich hatte die Augen geschlossen, habe gelegen, aber wie? Im Bus gelegen? Erinnere ich mich an den Unfall? Plötzlich bist du dir sicher, dass es ein Unfall war, obwohl du weißt, dass das nicht möglich ist, sich daran zu erinnern, die letzte Erinnerung eines von den Toten Auferstandenen ist der Moment des Gehirnscans, mehr geht nicht. Das haben sie dir gesagt. Unmöglich. Und schlagartig hast du deine Augen offen!

      Und:

      Irgendetwas ist ERSCHRECKEND (nur was?)!

      Die fremde Frau, die deine Hand hält, Schwester?, Doktor?, sie trägt keinen Kittel, du siehst aus der Perspektive des Liegenden ein Frauengesicht hoch droben, unscharf, wegschwimmend, blinzel, Thomas, blinzel! Doch im Blinzeln fallen die Lider wieder in sich zusammen, mit jedem Lidschlag ändert sich die Farbe des Lichts ...

      [Klack]

      Grün ...

      [Klack]

      Rot ...

      [Klack]

      Blau ...

      [Klack]

      Die Augen implodieren, du implodierst, und dein Gesicht schrumpft wie ein zerstochener Ballon zusammen, du fällst aus dir selbst hinaus, raus aus dem Gesicht, raus, durch deine dir fremden Augen nach oben weg hinaus.

      Dann: Du atmest, doch es ist nicht dein Atem.

      »Leon, bitte schau mich an. Leon, du ... du hast es geschafft, du lebst, Leon ... Leon ...!« Es klirrt wie winterliches Eis in den oder deinen Ohren.

      Was für eine absurde Verwechslung? Für wen hält die Stimme mich? Also gut, denkst du, also gut, schaue ich dich an, fremde Stimme, du öffnest die Augen und stellst fest, dass etwas nicht funktioniert damit, deswegen das Blinzeln, dein Sehen bleibt unscharf, das Gesicht, das zu dir spricht - trotz Blinzeln bleibt die fremde Frau eine unscharfe Frau, so sehr du auch deine Pupillen bemühst.

      Doch eines ist sicher, das ist nicht Franka, das ist eine Fremde, die dich 'Leon' nennt, die deine (Leons?) Hand hält, die lange, dunkelbraune Haare hat, ein ovales Gesicht und vermutlich große Augen (man sieht nur ... du siehst nur die weich gezeichneten Flecken da, wo Augen sein sollten).

      Das spontane Geräusch aus deiner Kehle, der Kehle an oder in dir, das ist so entsetzlich anders als das, was du erwartet hättest, es klingt so schräg, dass du das Spontane, diesen Stimm- oder Sprechautomatismus, gleich wieder zum Verstummen bringst. Dich zwingst. Ich zwinge mich, zu schweigen. Allein sich zwingen zu können hat etwas Beruhigendes. Dieser geschundene Körper ist mir noch nicht ganz entglitten.

      Kontrolle.

      Die Frau macht ebenfalls ein von innen kommendes Geräusch (von ihrem Innen), das beruhigen soll, und streichelt deine Prankenhand, und du beschließt, ganz nüchtern, es damit nun zu versuchen, die Hand der Stimme vorzuziehen, die Zehen haben schließlich funktioniert, also wagen wir die Hand!

      Und es geht! Der Arm dreht sich, er gehört dir!, und die (deine!) Hand legt sich langsam, ganz, ganz langsam auf den Rücken, Finger, die sich einzeln und ebenso langsam, wie in Zeitlupe, unter Posaunen und Fanfaren öffnen wie auf einem michelangelischen Gemälde, und der Lärm, der dabei entsteht, entsteht nur in deinem Kopf. Denn taub ist das in Wahrheit, die Handfläche ist taub, die Finger, die zu bewegen sich beginnen, sind taub, man muss bei diesem Unfall deine Hände überfahren haben, ein Wunder, dass überhaupt was geht, und eine andere Hand, die noch fremder ist als diese (oder ist diese die fremdere?) legt sich in die deine hinein wie in eine Muschel, wie zum darin Schlafen, und diese deine Handmuschel schließt sich mit solch minutiöser Sorgfalt, dass für einige Sekunden das ganze Dasein sich auf das Zusammenkommen dieser ungleich fremden Hände beschränkt. Du schließt dafür sogar wieder die Augen, bist ganz im Fühlen der Hände, fühlst mit fremden Fingern die noch fremderen, bewegst heimlich auch die linke Hand, nur um sicher zu sein, dass auch hier alles funktioniert, ansonsten ist es einfach etwas Gutes, mit wem auch immer Menschlichem zu kommunizieren auf so innige Weise, bedenkend, dass du ganz offensichtlich dem Tod von der Schippe gesprungen sein musst. Und dann spürst du, wie die fremden Finger sich in deiner rechten Hand bewegen und an einem Ring drehen.

      Anschließend (habe ich zwischendurch geschlafen?) oder beim nächsten Mal (oder ich war mal wieder tot gewesen?) hast du eine Brille auf. Hat sie dir eine aufgesetzt, leider nicht deine, deine ist schwerer, diese ist leicht und randlos, aber dass etwas auf dem Gesicht liegt, erinnert dich daran, eines zu haben, ein Gesicht, das noch immer wie angeschwollen ist, oder geben sie mir Cortison?

      Die Brille löst einen weiteren Konflikt aus: Je mehr du versuchst, deine Augen scharf zu stellen, desto unschärfer wird das Bild, das sie dir projizieren, es ist eben die falsche Brille und stattdessen siehst du einen jungen Mann - einen Pfleger oder einen Fremden -, zu jung um Pfleger oder fremd zu sein, denn die sich immer auf ihn statt auf die Frau scharfstellenden Brillengläser - falsch: Augen -, die sehen mehr einen verwirrten Jungen als einen Mann, einen, der dich anstarrt, als wärst du eine bemitleidenswerte Kreatur, oder aber ein Monster, er starrt dich an und scheint nicht zu wissen, was er empfinden soll. Die Frau dagegen verschwimmt immerzu, so sehr du auch versuchst, sie ins Bild zu bekommen. Aber du sagst nichts, du erinnerst dich mit Erschrecken an diesen fürchterlichen Laut, der beim letzten Versuch zu sprechen deiner Kehle entsprungen ist (was oder wann war das?). Eher zufällig, du willst wegen der Augensache schon resignieren, bemerkst du, dass das, was du siehst, dann scharf wird, wenn deine Augen in einen graduell anderen Zustand fallen. Für einen Moment ein scharfes Mädchen, ein schönes und schon wieder vorbei. Sich bewusst um diese besondere Haltung der Augapfelmuskulatur zu bemühen bringt gar nichts, aber dann, als du erneut resignierst, ist sie wieder scharf.

      Sie lächelt.

      Was dich zwingt, ebenfalls zu lächeln, was sich anfühlt, als würden sich zwei aneinander gerostete Metallplatten gegenläufig verschieben, oder als würde verklebtes Plastik aufbrechen, dein Lächelversuch ist ein Reflex, der nicht funktioniert. Schau niemals in einen Spiegel, denkst du dir, aber es scheint weniger schlimm, als erwartet, denn sie lächelt noch immer, und mit flackernden Augen studierst du das Gesicht der Fremden, wie eine Kamera studierst du es, eine Kamera mit defektem Autofokus, es ist mehr ein Aufschnappen von Einzelbildern zwischen den Unschärfemomenten, aber es gelingt dir.

      Du versuchst, nicht zu sehr über das