H. DERHANK

Der Zwilling


Скачать книгу

man bedenkt, dass doch alles menschliche Denken und Handeln bislang den eigenen Tod impliziert hat, so wird sich diese Technologie, die noch ganz am Anfang ist, zur allergrößten Revolution des menschlichen Daseins überhaupt entwickeln. Wir bleiben! Zukünftig bleiben wir auf diesem Planeten, in diesem Universum, das Leben ist nicht länger nur ein Gastspiel, aufgetaucht aus und zurückgekehrt zu einem Jenseits, von dem niemand weiß, ob es sich dabei nicht bloß um den größten kollektiven Selbstbetrug handelt, dem die Menschheit über hunderttausend Jahre lang verfallen war. Gott ist tot, wir sind frei!

      Frei? Frei, wer es sich leisten kann. Und der ist mitnichten frei. Statt einem Gott vertrauen wir unsere Seele zukünftig einem multinationalen Konzern an, der so übermächtig ist, dass er keinen anderen Eigennamen mehr braucht, als Gesellschaft. Niemand weiß, was tatsächlich mit uns geschieht, wenn wir so alt geworden sind, dass auch die beste Medizin unsere Körper nicht mehr am Leben halten kann. Das sei erst der Anfang, sagen sie. Jetzt, wo wir den schwierigsten, komplexesten und allerwichtigsten Teil von uns, nämlich unser Gehirn, sichern können, wird der Rest fast von ganz alleine geschehen. Genetik, Medizintechnik und Prothetik arbeiten unter Hochdruck an unseren zukünftigen Körpern, alles nur noch eine Frage der Zeit, bis auch diese dem Prozess des Zerfalls zu hundert Prozent entzogen werden können. Schon bald, heißt es, werden die Menschen neue Menschen sein, für immer jung, schön, gesund - und wenn doch etwas passiert, dann haben wir unser Backup, sicher eingelagert bei der Gesellschaft, die uns vertraglich zusichert, dass wir nicht verloren gehen. Schöne neue Welt.

      Diesen Körper atm' ich nicht!

      Und welchen Preis zahlen wir? Nichts weniger als die totale Kontrolle durch die Gesellschaft, über jeden Schritt, den wir tun. Ist das ein Traum? Oder ein Albtraum? Ein teurer Albtraum, der so viele Fragen ungeklärt lässt, zum Beispiel wer teilhat und wer nicht, und was bedeutet zukünftig Eigentum, wenn Unsterbliche immer reicher und mächtiger werden, und dies nie ein Ende haben wird? Und was ist mit den Kindern? Werden wir noch Kinder haben, wenn wir ihnen nichts mehr weitergeben brauchen und alles selbst behalten? Ist der Traum nicht ein Albtraum, der uns an den Fliegenfänger von Mächten hängt, die unser Leben irgendwann bis in alle Poren durchdringen werden, schlimmer als jede Kirche und jede Diktatur? Allein schon dieser Chip im Körper, der einer beinahe unbemerkten Unterwerfung gleichkommt, nein, ich werde das nicht tun. Kein Chip in meinen Körper. Ich bin dagegen, dass ich überall geortet werde, dagegen, dass ein Computer jederzeit weiß, wo ich bin. Auf wenige Quadratmeter genau. Sylvie und ich haben uns entschieden, es nicht zu tun.

      Oder doch?

      Ich atme diesen Körper nicht ...

      Im Büro vor dem Rechner sitzen und statt zu arbeiten meine E-Mails lesen. Meine E-Mails sind Werbung und Mist, keine einzige von Franka und nur SPAM, ich soll mein Passwort ändern wegen der allgemeinen digitalen Bedrohung, NSA, Big Brother etc., und als wenn das was nützt angesichts der Gesellschaft, die noch viel mächtiger ist. Ich kann doch nicht alle Nase lang usw. usf. und beginne in einem anderen Fenster einen weiteren Artikel über die Unsterblichkeit zu lesen ... und stocke, zucke förmlich zusammen vor meinem Bildschirm - Sylvie?

      Ich schaue auf, aber mein Kollege hat nichts bemerkt. Wer ist Sylvie? Mein Kollege ist vertieft in eine Hausfassade, die er entwerfen soll. Live-Sender, steht auf meinem Bildschirm, Live-Sender senden im Sekundentakt Lebenszeichen an die Live-Watch-Zentrale der Gesellschaft. Körpertemperatur, Puls und Blutstrom und die wichtigsten enzephalografischen Eckdaten. Jede Sekunde ein digitales Päckchen Körperdaten, die ein solcher Chip misst und sendet. Aber nein, das meinte ich nicht. Ich habe 'Sylvie' gedacht. Ich habe Franka gemeint, aber 'Sylvie' gedacht. Dabei kenne ich gar keine Sylvie. Wer bitte ist Sylvie?! Ich habe nicht nur Namen verwechselt, Sylvie ist eine andere! Wie kommt es, dass ich an sie denke? Doch als mir das bewusst wird, ist da nichts. Kein Bild, keine Erinnerung.

      Der Online-Artikel beschreibt das System des Live-Watching sehr kritisch. Die Gesellschaft sei die Tochter eines internationalen Megakonzerns, einer Muttergesellschaft, was zwar offiziell abgestritten werde, aber jeder weiß es und es gäbe genügend Beweise für Verflechtungen etc. etc. Das 'Mutter' in 'Muttergesellschaft' hat einen unheimlichen, geradezu hörbaren Beiklang, wie Norman Bates Ruf nach seiner Mutter in 'Psycho' oder die Stimme von Big Brother in '1984'; und ich möchte denken: Verschwörungstheorie. Haltlose Angstmacherei, sie werde uns schon nicht ... Andererseits, anders als durch eine globale Verschwörung ist nicht zu erklären, wie man es geschafft haben soll, sämtliche weltweit existierenden elektronischen Datentransportsysteme zu verpflichten, die Lebenszeichen eines jeden Kunden jederzeit und überall durchzuleiten. Alle Mobilfunksysteme sind angeschlossen, alle privaten W-Lan-Netze sind zwangsverpflichtet, alle Satellitentelefonverbindungen und natürlich auch das gute alte Kupferkabel-Festnetz; sogar alle anderen kleinen, lokalen Funknetzsysteme wie Bluetooth etc. sind in das System eingebunden und müssen über einen speziellen Bypasscode sämtliche Live-Watch-Daten empfangen und weiterleiten. Zudem sind die kleinen Sender GPS-tauglich, sodass automatisch ein Notdienst alarmiert wird, der einen aufspürt, sollte die Verbindung abreißen.

      Das sei der Preis. Heißt es.

      Niemand wisse genau, wie es gelungen sei, ein derart weitreichendes juristisches Flechtwerk aus Rahmen-, Nutzungs- und Durchleitungsverträgen ohne größere Widerstände umzusetzen. Die weltweite Zwangsverpflichtung der Netze hat sich so selbstverständlich in den Lebensalltag eingeschlichen, dass sie mittlerweile von den meisten nationalen Verfassungsgerichten als von übergeordnetem gesamtgesellschaftlichen Interesse betrachtet wird. Klagen zwecklos. Niemand möchte es riskieren, im Falle eines plötzlichen Ablebens nicht rechtzeitig gefunden zu werden. Denn das ist der alleinige Sinn und Zweck der RFID-Chips in den Genicken der schönen neuen Welt: Jeden Toten binnen 30 Minuten aufzufinden und zu versorgen.

      Und mich? Nie!

      Oder doch?

      Diesen Körper atm' ich nicht!

      Endlich die Ausfahrt, irgendwo hinter Neustadt ... Neustadt, woher so ein Name in so einer Gegend? Zum Gruße ein riesiger Pylon: 'Erotik-Markt', und Neubauhallen, ein Einkaufszentrum, der Nebel ist hoch genug, dass er nicht die Sicht versperrt. Besser wär's, denke ich, man hätte sich was Schöneres wenigstens vorstellen können.

      Ich halte an, für einen Kaffee, den es nirgendwo gibt, so wenig, wie es auf dem leeren Parkplatz Menschen gibt, nur eine Frau, eine einzige, fast meine ich, Franka in ihr zu sehen. Sie geht irgendwo hinein, und ich denke, wieso Franka?, das ist doch Sylvie, dabei kenne ich überhaupt keine Sylvie, wer zum Teufel ist Sylvie? Ist mir das nicht schon einmal passiert? Diese Verwechslung? Neulich oder gerade erst? Also doch Franka! Diese Frau hat aber überhaupt keine Ähnlichkeit mit Franka gehabt. Ich will es wissen, was idiotisch ist, und gehe ihr nach, dahin, wo sie verschwunden ist. Doch als ich zwischen den Trapezblechhallen hindurchsehe, ist sie weg. Da ist nichts. Da ist nur die Kante, die, wenn man an sie herantritt, wenn man durchs ungemähte Gras zwischen Erotikmarkt und Supermarkt hindurchgeht, als würde man ausgerechnet hier diese Frau finden, die einen irgendwie angestochen hat, wenn man also durchs feuchte Gras bis zum Ende stapft, dann sieht man dahinter nichts mehr, gar nichts, da kommt dann nur noch Weltall. Ich schaue auf die Uhr, es ist jetzt drei, na prima denke ich, und pinkel in den bodenlosen schwarzen Abgrund und denke, fiele ich hinein und stürbe jetzt, wäre alles umsonst gewesen. Man würde mich zwar finden, hätte aber nichts, kein Backup, um mich wiederzubeleben. Ich habe heute mein erstes Mal. Erst heute Abend kann mir mein Tod egal sein.

      Ich atme diesen Körper nicht,

      Diesen Körper atm' ich nicht!

      Egal zu sterben? Egal ob hier oder sonst wo, so lese ich weiter, während der Kollege den Heißdrahtschneider aus dem Regal holt und anfängt, flache, schmale Scheiben aus einem Styrodurblock zu schneiden, die er in einer Art Tangram zu verschiedenen Fassadenvarianten legt. Wäre ich Kunde der Gesellschaft, wäre ich mit der Gesellschaft mit dem hochgestellten ® verbunden, dann würde man mich, stürbe ich, finden. Mittlerweile sind Rettungswagen und Hubschrauber standardmäßig mit einem Biostasesystem ausgestattet, das Tote kryokonserviert, so der Fachbegriff für den Austausch des Blutes gegen Frostschutzmittel, während der Körper auf dem Weg in die nächste Klinik langsam heruntergekühlt wird. Will ich das?

      Der Autor des Artikels schreibt, dass die